Aktenzeichen Au 6 K 19.1656
GG Art. 6 Abs. 1
EMRK Art. 8
StGB § 78, § 79
Leitsatz
Ein hinreichender Ausweisungsanlass liegt vor, wenn der Aufenthalt des Ausländers die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, indem der Ausländer vorsätzliche und nicht geringfügige Straftaten begangen hat und ein generalpräventives Interesse an der Ausweisung besteht. (Rn. 25 – 34) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die Klage, über welche wegen des Verzichts der Beteiligten nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist unbegründet, da der angefochtene Bescheid vom 5. September 2019 nicht rechtswidrig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
I.
Die Ausweisung des Klägers ist rechtmäßig. Es wird insoweit in vollem Umfang Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 117 Abs. 5 VwGO) und ergänzend ausgeführt:
Mangels erfolgreichen oder noch offenen Asylverfahrens findet der besondere Ausweisungsschutz nach § 53 Abs. 3a, Abs. 3b und Abs. 4 AufenthG keine Anwendung. Die Ausweisung des Klägers richtet sich vielmehr nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG.
Unter Anwendung dieses Maßstabes kann der Kläger nach § 53 Abs. 1 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet und die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Dabei sind nach § 53 Abs. 2 AufenthG bei der Abwägung nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Bei dieser Beurteilung müssen die Behörden sowohl den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wahren (EuGH, U.v. 22.12.2010 – Bozkurt, C-303/08 – juris Rn. 57 bis 60 m.w.N.; U.v. 8.12.2011 – Ziebell, C-371/08 – NVwZ 2012, 422 Rn. 82). Dabei sind auch nach der Ausweisungsverfügung eingetretene Tatsachen zu berücksichtigen, die den Wegfall oder eine nicht unerhebliche Verminderung der gegenwärtigen Gefährdung mit sich bringen können (EuGH, U.v. 11.11.2004 – Cetinkaya, C-467/02 – juris Rn. 47, U.v. 8.12.2011 – a.a.O. Rn. 84).
1. Hier liegt ein hinreichender Ausweisungsanlass nach § 53 Abs. 1 AufenthG in der Straffälligkeit des Klägers vor.
a) Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland, weil der Kläger vorsätzliche und nicht geringfügige Straftaten begangen hat und ein generalpräventives Interesse an der Ausweisung des Klägers besteht.
Der Kläger ist wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen sowie Sachbeschädigung zu einer Geldstrafe von 170 Tagessätzen zu 10,00 Euro verurteilt worden (AG, Strafbefehl v. 15.3.2019 – * – Behördenakte Bl. 319, 325 ff.). Er hatte ohne rechtfertigenden Grund aggressiv Streit mit den Sicherheitsbediensteten gesucht und im anschließenden Gerangel diese geschlagen bzw. zu schlagen versucht und gebissen. Darin liegt nach § 53 Abs. 1 AufenthG ein hinreichender Ausweisungsanlass.
b) Auch generalpräventive Gründe können ein Ausweisungsinteresse begründen. Dabei stützt der Beklagte seine Ausweisung auf nachvollziehbare generalpräventive Erwägungen, weil dieses Fehlverhalten des Klägers bei Folgenlosigkeit für andere, insbesondere in ANKER-Zentren lebende Ausländer eine negative Vorbildwirkung hätte.
Dass eine Ausweisung auch aus generalpräventiven Gründen möglich ist, ergibt sich schon aus dem Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG. Diese Norm des neuen Ausweisungsrechts verlangt nicht, dass von dem ordnungsrechtlich auffälligen Ausländer selbst eine Gefahr ausgehen muss. Vielmehr muss dessen weiterer „Aufenthalt“ eine Gefährdung bewirken. Vom Aufenthalt eines Ausländers, der Straftaten begangen hat, kann aber auch dann eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgehen, wenn von ihm selbst keine Wiederholungsgefahr mehr ausgeht, im Fall des Unterbleibens einer ausländerrechtlichen Reaktion auf sein Fehlverhalten andere Ausländer aber nicht wirksam davon abgehalten werden, vergleichbare Delikte zu begehen. Der Wortlaut des § 53 Abs. 1 AufenthG unterscheidet sich insoweit ausdrücklich von dem des § 53 Abs. 3 AufenthG, der für bestimmte ausländerrechtlich privilegierte Personengruppen verlangt, dass das „persönliche Verhalten des Betroffenen“ eine schwerwiegende Gefahr darstellt. Des Weiteren ergibt sich auch aus § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. a AufenthG, dass das Gesetz generalpräventive Ausweisungsinteressen berücksichtigt sehen will. Denn gerade das nach der Einstufung des Gesetzgebers schwerwiegende Ausweisungsinteresse wegen Falschangaben zur Verhinderung einer Abschiebung dient typischerweise generalpräventiven Interessen. Falschangaben bergen nach Entdeckung in aller Regel nicht mehr die Gefahr der Wiederholung durch den betreffenden Ausländer. Dessen Identität ist nach Aufdeckung der Täuschung in aller Regel geklärt. Dieses Ausweisungsinteresse dient daher nicht – jedenfalls nicht vorrangig – spezialpräventiven Zwecken, sondern zielt maßgeblich darauf ab, verhaltenslenkend auf andere Ausländer einzuwirken, indem ihnen aufenthaltsrechtliche Nachteile im Falle eines pflichtwidrigen Verhaltens aufgezeigt werden. Es entspricht ferner dem klaren gesetzgeberischen Willen, in den Fällen des § 53 Abs. 1 AufenthG – anders als in den Fällen des § 53 Abs. 3 AufenthG – generalpräventive Ausweisungen zu ermöglichen (BT-Drs. 18/4097 S. 49). Auch das neue Ausweisungsrecht lässt daher generalpräventive Ausweisungen zu (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 15 ff., 20 m.w.N.; so auch BayVGH, B.v. 20.8.2018 – 10 C 18.1361 – juris Rn. 13).
Die Ausweisung des Klägers ist auch konkret geeignet, andere Ausländer von der Begehung vergleichbarer Straftaten, namentlich von gewalttätigen Übergriffen auf andere Mitbewohner und Sicherheitsbedienstete in Anker-Zentren, abzuhalten:
Die Ausweisung führt zum Verlust etwaiger Aufenthaltstitel (§ 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG), hindert in der Regel die Erteilung eines Aufenthaltstitels insbesondere auch für abgelehnte Asylbewerber (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG), beendet oder verhindert damit einen erlaubten Aufenthalt in der Bundesrepublik und begründet demnach eine Ausreisepflicht des Ausländers. Des Weiteren wird bei einer fehlenden freiwilligen Ausreise besonders die Abschiebung von ausgewiesenen Straftätern forciert und eine bestandskräftige Ausweisung fällt bei etwaigen behördlichen Ermessensentscheidungen, beispielsweise bei der Prüfung einer Beschäftigungserlaubnis im Rahmen einer Duldung, regelmäßig als erheblicher, negativer Gesichtspunkt ins Gewicht. In Anbetracht dieser erheblichen Konsequenzen, die weit über eine strafrechtliche Verurteilung hinausgehen, erscheint eine drohende Ausweisung als geeignet, andere Ausländer von der Begehung von gleichartigen Delikten abzuhalten. Darüber hinaus entspricht die Ausweisung des Klägers der allgemeinen Verwaltungspraxis des Beklagten, wie dem Verwaltungsgericht aus weiteren Verfahren bekannt ist, in denen der Beklagte regelmäßig auch schon bei strafrechtlichen Verurteilungen zu Geldstrafen Ausländer aus generalpräventiven Gründen ausweist. Durch diese gleichförmige Verwaltungspraxis wird die Abschreckung anderer Ausländer in Anbetracht der Konsequenzen straffälligen Verhaltens verstärkt.
c) Das generalpräventive Ausweisungsinteresse ist noch aktuell.
Das generalpräventive Ausweisungsinteresse muss noch aktuell sein. Dabei ist zu berücksichtigten, dass jedes generalpräventive Ausweisungsinteresse mit zunehmendem Zeitabstand an Bedeutung verliert und ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr herangezogen werden kann. Das Aufenthaltsgesetz enthält allerdings keine feste Regeln, wie lange ein bestimmtes Ausweisungsinteresse, wie es etwa in den Tatbeständen des § 54 AufenthG normiert ist, verhaltenslenkende Wirkung entfaltet und einem Ausländer generalpräventiv entgegengehalten werden kann. Eine Heranziehung der in § 11 Abs. 3 AufenthG festgelegten Kriterien für die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots ist nicht möglich, da sie an die Ausreise des Ausländers anknüpfen. Für die zeitliche Begrenzung eines generalpräventiven Ausweisungsinteresses, das an strafrechtlich relevantes Handeln anknüpft, ist für die vorzunehmende gefahrenabwehrrechtliche Beurteilung allerdings eine Orientierung an den Fristen der §§ 78 ff. StGB zur Strafverfolgungsverjährung angezeigt. Diese verfolgen zwar einen anderen Zweck, geben dem mit zunehmendem Zeitabstand eintretenden Bedeutungsverlust staatlicher Reaktionen (die an Straftaten anknüpfen) aber einen zeitlichen Rahmen, der nicht nur bei repressiven Strafverfolgungsmaßnahmen, sondern auch bei der Bewertung des generalpräventiven Ausweisungsinteresses herangezogen werden kann. Dabei bildet die einfache Verjährungsfrist des § 78 Abs. 3 StGB, deren Dauer sich nach der verwirklichten Tat richtet und die mit Beendigung der Tat zu laufen beginnt, eine untere Grenze. Die obere Grenze orientiert sich hingegen regelmäßig an der absoluten Verjährungsfrist des § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB, die regelmäßig das Doppelte der einfachen Verjährungsfrist beträgt. Innerhalb dieses Zeitrahmens ist der Fortbestand des Ausweisungsinteresses anhand generalpräventiver Erwägungen zu ermitteln. Bei abgeurteilten Straftaten bilden die Tilgungsfristen des § 46 BZRG zudem eine absolute Obergrenze, weil nach deren Ablauf die Tat und die Verurteilung dem Betroffenen im Rechtsverkehr nach § 51 BZRG nicht mehr vorgehalten werden dürfen (BVerwG, U.v. 12.7.2018 – 1 C 16/17 – juris Rn. 22 ff. m.w.N.).
Vorsätzliche Körperverletzung wird nach § 223 Abs. 1 StGB mit Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren bestraft. Nach § 78 Abs. 3 Nr. 4, Abs. 4 StGB beträgt die Verjährungsfrist daher fünf Jahre, wobei die Verjährung nach § 78a Satz 1 StGB am Tag der Tatbeendigung beginnt, hier also am 16. Oktober 2018; sie endet am 15. Oktober 2023. Ob sich die Verjährung wegen etwaiger Unterbrechungen (vgl. § 78c Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 StGB) verlängert, kann mangels Entscheidungserheblichkeit offenbleiben. Zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt ist jedenfalls noch keine Verjährung eingetreten und damit noch nicht einmal die Untergrenze eines etwaigen Bedeutungsverlustes erreicht. Erst recht liegt die Obergrenze von zehn Jahren in weiter Ferne. Nach § 78c Abs. 3 Satz 2 StGB beträgt die absolute Verjährungsfrist zehn Jahre, hier (frühestens) der 15. Oktober 2028. Die Straftat des Klägers ist auch noch nicht aus dem Bundeszentralregister getilgt bzw. nach § 51 Abs. 1 BZRG zu tilgen. Die zehnjährige Tilgungsfrist nach § 46 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a BZRG ist offensichtlich noch nicht abgelaufen. Ein aktueller Ausweisungsanlass besteht daher noch.
2. Die Ausweisung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 AufenthG gerechtfertigt, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG das Bleibeinteresse des Klägers nach § 55 AufenthG überwiegt.
Der Grundtatbestand des § 53 Abs. 1 AufenthG wird durch die Vorschriften der § 54 und § 55 AufenthG konkretisiert. So wird einzelnen in die Abwägung einzustellenden Ausweisungs- und Bleibeinteressen durch den Gesetzgeber von vorne herein ein spezifisches, bei der Abwägung zu berücksichtigendes Gewicht beigemessen, jeweils qualifiziert als entweder „besonders schwerwiegend“ oder als „schwerwiegend“.
a) Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG schwer, weil der Kläger einen zwar vereinzelten, aber nicht nur geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat.
§ 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG ist so zu verstehen, dass ein Rechtsverstoß nur dann unbeachtlich ist, wenn er vereinzelt und geringfügig ist, er hingegen immer beachtlich ist, wenn er entweder vereinzelt, aber nicht geringfügig, oder geringfügig, aber nicht vereinzelt ist. Eine vorsätzlich begangene Straftat ist grundsätzlich kein geringfügiger Verstoß gegen eine Rechtsvorschrift.
Im vorliegenden Fall wurde der Kläger u.a. wegen vorsätzlicher Körperverletzung in zwei Fällen zu einer Geldstrafe von 170 Tagessätzen verurteilt. Diese Verurteilung ist schon von der Tatbegehung her deshalb nicht geringfügig, weil es sich um eine vorsätzlich begangene Tat handelte (vgl. NdsOVG, U.v. 14.11.2018 – 13 LB 160/17 – InfAuslR 2019, 56/57 unter Verweis auf BVerwG, U.v. 24.9.1996 – 1 C 9.94 – InfAuslR 1997, 63 ff.; BayVGH, B.v. 19.9.2017 – 10 C 17.1434 – juris Rn. 6), und vom verletzten Rechtsgut her, weil sich die Tat gegen die körperliche Unversehrtheit anderer Menschen und damit gegen höchstrangige Rechtsgüter richtete. Die Begehung von Körperverletzungen stellt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft am Schutz der körperlichen Integrität ihrer Mitglieder (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/282 Rn. 15) dar.
Von einer Ausweisung wurde auch nicht wegen Geringfügigkeit im Einzelfall abgesehen. Unter engen Voraussetzungen kann es auch bei vorsätzlich begangenen Straftaten Ausnahmefälle geben, in denen der Rechtsverstoß des Ausländers als geringfügig zu bewerten ist, was etwa dann in Betracht kommen kann, wenn ein strafrechtliches Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt worden ist (BVerwG, U.v. 24.9.1996 – 1 C 9/94 – juris Rn. 20 f. zu § 46 Nr. 2 AuslG 1990; BayVGH, B.v. 19.9.2017 – 10 C 17.1434 – juris Rn. 6). Zwar können die in § 54 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG typisierten Interessen im Einzelfall bei Vorliegen besonderer Umstände auch sonst weniger oder mehr Gewicht entfalten, doch liegen hierfür unter umfassender Würdigung des Einzelfalles keine Anhaltspunkte vor. Tat, Täter und Nachtatverhalten weichen von vergleichbaren Delikten nicht derart ab, dass hier die Annahme eines atypischen Falles in Betracht käme. Gegenteiliges wurde weder geltend gemacht noch ist dies ersichtlich.
Da die begangene Tat von der Tatbegehung ebenso wie vom verletzten Rechtsgut her ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, wiegt der begangene Rechtsverstoß schwer und ist es nicht entscheidungserheblich, ob von § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG erfasste Rechtsverstöße sonst ein § 54 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 AufenthG gleichkommendes Gewicht aufweisen müssten (vgl. BayVGH, B.v. 27.4.2020 – 10 C 20.51 – juris Rn. 8). Letztlich ist erst in der Gesamtabwägung zwischen Ausweisungs- und Bleibeinteresse unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls dem Ausweisungsinteresse des § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG das angemessene Gewicht zu verleihen (vgl. BayVGH, B.v. 27.4.2020 – 10 C 20.51 – juris Rn. 8 m.w.N.). So ist es auch hier.
b) Demgegenüber liegt kein besonders schweres oder schweres Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG vor.
Weder ist der volljährige Kläger im Besitz eines Aufenthaltstitels, noch verfügt er in der Bundesrepublik über familiäre Anknüpfungspunkte zu ihrerseits aufenthaltsberechtigten Personen. Weder sein Kind noch die Kindesmutter halten sich erlaubt im Bundesgebiet auf. Sonstige, ungeschriebene besonders schwere oder schwere Bleibeinteressen sind ebenfalls nicht ersichtlich, insbesondere ist der Kläger auch sonst nicht hier persönlich oder beruflich integriert. Wesentliche Bindungen des Klägers in der Bundesrepublik sind auch sonst nicht ersichtlich.
c) In der nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG gebotenen Gesamtabwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles wie insbesondere der Dauer des Aufenthalts, der persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat so-wie der Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner überwiegt vorliegend das öffentliche Ausweisungsinteresse das private Bleibeinteresse des Klägers deutlich.
Der Kläger verfügt in der Bundesrepublik über keine persönlichen, wirtschaftlichen oder sonstigen Bindungen von maßgeblichem Gewicht.
Insbesondere ist der Kläger ledig, da keinerlei Nachweis zu einer Verheiratung mit der Kindesmutter vorgelegt worden ist. Zwar besteht mit ihr und dem gemeinsamen Kind eine nach Art. 6 GG besonders geschützte familiäre Lebensgemeinschaft, doch fallen die Folgen seiner bedingten Ausweisung für die ebenfalls im Bundesgebiet nicht aufenthaltsberechtigten Familienangehörigen nicht erheblich ins Gewicht. Soweit auch ihre Asylanträge erfolglos bleiben sollten, wird der Kläger voraussichtlich mit ihnen gemeinsam nach § 43 Abs. 3 AsylG abgeschoben werden. Zudem ist der Kläger in der Bundesrepublik bisher auch nicht erwerbstätig gewesen. Sonstige Bindungen in der Bundesrepublik sind weder vorgetragen noch ersichtlich. Der Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik von – seine zweifelhaften Angaben zum zweijährigen Untertauchen in * hier als wahr unterstellt – nicht einmal dreieinhalb Jahren mit Unterbrechung durch einen mehrmonatigen Italien-Aufenthalt ist im Vergleich zum Alter des Klägers von dreißig Jahren nur von kurzer Dauer und konnte nicht zu einer Verwurzelung des Klägers in den hiesigen Lebensverhältnissen führen. Darüber hinaus hat sich der Kläger bisher nie erlaubt, sondern lediglich gestattet in der Bundesrepublik aufgehalten, so dass kein Vertrauen in den weiteren Verbleib hier in Deutschland entstehen konnte.
Demgegenüber hat der Kläger die längste Zeit seines Lebens in Nigeria gelebt, wo er geboren und aufgewachsen ist. In Nigeria lebt darüber hinaus nicht nur seine Tochter, sondern seine gesamte Familie. Damit verfügt er gleichwohl über einen oder mehrere familiäre Anknüpfungspunkte in Nigeria und kann im Falle einer Rückkehr wieder in Kontakt zu seinem bzw. seinen Angehörigen treten.
Unter Berücksichtigung des rechtsuntreuen und straffälligen Verhaltens des Klägers überwiegt in der gebotenen Gesamtabwägung daher das öffentliche Ausweisungsinteresse das private Bleibeinteresse des Klägers deutlich.
3. Die Ausweisung erweist sich im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK als verhältnismäßig.
Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet ergibt, dass die Ausweisung auch verhältnismäßig ist. Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, das Alter des Ausländers bei Begehung dieser Taten, die Dauer des Aufenthalts in dem Land, das der Ausländer verlassen soll, die seit Begehen der Straftaten vergangene Zeit und das seitdem gezeigte Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die familiäre Situation und gegebenenfalls die Dauer einer Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen, Kinder des Ausländers und deren Alter, das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere auch die Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggfs. abgeschoben werden soll, die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits als Kriterien heranzuziehen (EGMR, U.v. 25.3.2010 – Mutlag/Deutschland, Nr. 40601/05 – InfAuslR 2010, 325; U.v. 13.10.2011 – Trabelsi/ Deutschland, Nr. 41548/06 – juris Rn. 55).
Die deshalb vorzunehmende Abwägung aller Umstände des Einzelfalles führt hier zu dem Ergebnis, dass der Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens gerechtfertigt im Sinne des Art. 8 Abs. 2 EMRK und als verhältnismäßig anzusehen ist. Sie ist geeignet, die vom Kläger ausgehende gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu mindern, da sie den weiteren Aufenthalt des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland beendet und damit generalpräventiv andere Ausländer von der Begehung gleichartiger Taten abhält (vgl. oben). Sie ist erforderlich, da ausländerrechtlich nur durch eine Aufenthaltsbeendigung der genannten Gefahrenlage wirksam begegnet werden kann. Sie ist auch verhältnismäßig im engeren Sinn, denn dem Kläger ist unter Würdigung seiner Bindungen im Inland und im Herkunftsland letztlich eine Rückkehr nach Nigeria zumutbar, wo er – anders als in der Bundesrepublik – verwurzelt ist und wohin – im Fall der Erfolglosigkeit ihrer Asylverfahren – der Kläger, die Kindesmutter und das gemeinsame Kind hin auch ausreisen und künftig leben können. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die obige Abwägung verwiesen (vgl. oben).
II.
Das in Ziffer 2 des angefochtenen Bescheids befristet angeordnete Einreise- und Aufenthaltsverbot von zwei Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Ausreise, ist ebenfalls rechtmäßig.
Die Befristungsdauer steht nach § 11 Abs. 3 AufenthG n.F. (Art. 1 Nr. 4, Art. 8 Abs. 1 des Zweiten Gesetzes zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht vom 15.8.2019, BGBl. I S. 1294) im Ermessen der Ausländerbehörde (vgl. zur Vorgängerregelung BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 65 f.), so dass diese Ermessensentscheidung keiner uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegt, sondern – soweit wie hier keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt – eine zu lange Frist lediglich aufgehoben und die Ausländerbehörde zu einer neuen Ermessensentscheidung verpflichtet werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – Rn. 54 ff.).
Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 65 f.). Die Dauer der Frist darf nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG fünf Jahre nur in den Fällen des § 11 Abs. 5 bis Abs. 5b AufenthG überschreiten, insbesondere wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42). Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Überschreiten der zeitlichen Grenze von fünf Jahren gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorliegen, ist davon auszugehen, dass in der Regel ein Zeitraum von max. zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann, so dass sie nach § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG n.F. zehn Jahre nicht überschreiten soll. Da der Beklagte in seiner Befristung unterhalb der Grenze von fünf Jahren geblieben ist, liegen die genannten Ausnahmen hier nicht vor.
Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK messen lassen und ist daher ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/298 Rn. 42; U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – Rn. 66). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und dem Verwaltungsgericht ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
Nach diesen Maßstäben ist die mit dem angefochtenen Bescheid des Beklagten festgesetzte Frist nicht zu lang und daher rechtmäßig. Der Beklagte konnte seine Ermessensentscheidung aufrechterhalten; durchgreifende Ermessensfehler sind weder ersichtlich noch vom Kläger geltend gemacht.
Der Beklagte stützt die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG darauf, dass der Kläger über keine besonders schützenswerten familiären oder persönlichen Bindungen zu in der Bundesrepublik aufenthaltsberechtigten Personen verfüge und sich in seinem Herkunftsstaat auch wieder integrieren könnte, andererseits seine Verurteilung auch nicht von solcher Schwere sei, die eine Einreisesperre oberhalb eines mittleren Bereichs im Rahmen von null bis fünf Jahren rechtfertige. Hiergegen ist nichts zu erinnern.
III.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.