Patent- und Markenrecht

Markenbeschwerdeverfahren – “vita+lebenskraft (Wort-Bild-Marke)/VITA (Unionsmarke)” – Warenidentität und -ähnlichkeit – überdurchschnittliche Kennzeichnungskraft – keine unmittelbare Verwechslungsgefahr – Verwechslungsgefahr durch gedankliche Verbindung, und zwar unter dem Aspekt eines Serienzeichens

Aktenzeichen  25 W (pat) 11/18

Datum:
13.6.2019
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Gerichtsort:
München
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BPatG:2019:130619B25Wpat11.18.0
Normen:
§ 9 Abs 2 Nr 1 MarkenG
Spruchkörper:
25. Senat

Tenor

In der Beschwerdesache

betreffend die Marke 30 2015 228 111
hat der 25. Senat (Marken-Beschwerdesenat) des Bundespatentgerichts am 13. Juni 2019 unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters Knoll, der Richterin Kriener und des Richters Dr. Nielsen
beschlossen:
Auf die Beschwerde der Widersprechenden wird der Beschluss der Markenstelle für Klasse 5 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 20. Dezember 2017 in der Hauptsache aufgehoben. Wegen des Widerspruchs aus der Unionsmarke 008 199 523 VITA wird im Umfang des erhobenen Widerspruchs die teilweise Löschung der Marke 30 2015 228 111 angeordnet, nämlich in Bezug auf die Waren der Klasse 5 „Abdruckmassen aus Chromalginat für zahnärztliche Zwecke; Abdruckmassen für zahnärztliche Zwecke; Abdruckmassen für zahnärztliche Zwecke zur Herstellung von Zahnformen; Abdruckmaterial für zahnärztliche Zwecke; Amalgam für zahnärztliche Zwecke; Amalgame für zahnärztliche Zwecke; Antibiotika für zahnärztliche Zwecke; Antimikrobielle Mundwässer; Arzneimittel für zahnärztliche Zwecke; Beizmaterialien für zahnärztliche Zwecke; Dentalanästhetika; Dentalgips; Dentalharze; Dentalkeramik; Dentalmaterialien für Zahnfüllungen; Dentalmaterialien zum Füllen der Zähne; Dentalmaterialien zur Herstellung von Zahnmodellen; Dentalmaterialien zur Vervielfältigung von Zahnmodellen; Dentalsanierungsmassen, Dentalzement; Desinfektionsmittel für zahnärztliche Apparate und Instrumente; Dichtungsmasse für zahnärztliche Zwecke; Edelmetalllegierungen für zahnärztliche Zwecke; Einbettungsmaterial für zahnärztliche Zwecke; Farbreagenzien zum Erkennen von Zahnbelag“.

Gründe

I.
1
Die am 8. Dezember 2015 angemeldete Bezeichnung
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2
ist am 26. Januar 2016 unter der Nummer 30 2015 228 111 als Wort-/Bildmarke für zahlreiche Waren der Klassen 3, 5 und 25 und unter anderem für die nachfolgenden angegriffenen Waren in der Klasse 5
3
„Abdruckmassen aus Chromalginat für zahnärztliche Zwecke; Abdruckmassen für zahnärztliche Zwecke; Abdruckmassen für zahnärztliche Zwecke zur Herstellung von Zahnformen; Abdruckmaterial für zahnärztliche Zwecke; Amalgam für zahnärztliche Zwecke; Amalgame für zahnärztliche Zwecke; Antibiotika für zahnärztliche Zwecke; Antimikrobielle Mundwässer; Arzneimittel für zahnärztliche Zwecke; Beizmaterialien für zahnärztliche Zwecke; Dentalanästhetika; Dentalgips; Dentalharze; Dentalkeramik; Dentalmaterialien für Zahnfüllungen; Dentalmaterialien zum Füllen der Zähne; Dentalmaterialien zur Herstellung von Zahnmodellen; Dentalmaterialien zur Vervielfältigung von Zahnmodellen; Dentalsanierungsmassen, Dentalzement; Desinfektionsmittel für zahnärztliche Apparate und Instrumente; Dichtungsmasse für zahnärztliche Zwecke; Edelmetalllegierungen für zahnärztliche Zwecke; Einbettungsmaterial für zahnärztliche Zwecke; Farbreagenzien zum Erkennen von Zahnbelag“
4
in das beim Deutschen Patent- und Markenamt geführte Markenregister eingetragen worden.
5
Gegen die Eintragung der am 26. Februar 2016 veröffentlichten Marke hat die Inhaberin der seit dem 10. April 2012 unter der Registernummer 008 199 523 für mit der Dentalmedizin zusammenhängende Waren der Klassen 2, 3, 9, 10, 11, 16, 17, 20 und 21, und insbesondere für Waren der Klasse 5, nämlich
6
„Mit der Dentalmedizin zusammenhängende Waren, nämlich: Chemische Erzeugnisse für zahnärztliche Zwecke, chemische Erzeugnisse und Lotmittel für zahntechnische Zwecke, Dentalkeramik zur Herstellung von Zahnersatz, Glaspulver zur Herstellung von Zahnersatz, Desinfektionsmittel für zahnärztliche Zwecke und zur Reinigung von ärztlichen Instrumenten; Zahnfüllmittel, insbesondere keramische und metallische Zahnfüllmittel und Zahnfüllmittel aus Kunstharz sowie provisorische Zahnfüllungsmaterialien, Dentalzement, Abdruckmassen für zahnärztliche und zahntechnische Zwecke, insbesondere Abdruckgips, Abdruckwachs und Kunststoffabdruckmassen; Kunstharze für zahnärztliche und zahntechnische Zwecke, Firnisse und Lacke für zahnärztliche und zahntechnische Zwecke, insbesondere Zahnlacke; Wachs für zahnärztliche und zahntechnische Zwecke; Modelliermassen und Modellierwaren für zahntechnische Zwecke, Zement und Gips für zahnärztliche und zahntechnische Zwecke; zahnprothetische Materialien insbesondere Metallkeramik, Vollkeramik“
7
eingetragenen Unionsmarke
8
VITA
9
Widerspruch erhoben. Der Widerspruch richtet sich gezielt nur gegen die im Beschlusstenor wiedergegebenen Waren der Klasse 5 der angegriffenen Marke.
10
Die Markenstelle für Klasse 5 des Deutschen Patent- und Markenamts hat mit Beschluss einer Beamtin des höheren Dienstes vom 20. Dezember 2017 den Widerspruch aus der Unionsmarke 008 199 523 VITA zurückgewiesen. Aus Sicht der Markenstelle besteht trotz identischer bzw. hochgradig ähnlicher Waren mangels ausreichender Ähnlichkeit der Vergleichszeichen keine Gefahr von Verwechslungen, auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Sonderschutzes einer bekannten Marke nach § 9 Abs. 1 Nr. 3 MarkenG.
11
Mangels anderweitiger Anhaltspunkte sei von einer durchschnittlichen Kennzeichnungskraft der Widerspruchsmarke auszugehen. Aber auch bei Annahme der von Seiten der Widersprechenden geltend gemachten gesteigerten Kennzeichnungskraft sei eine Verwechslungsgefahr nicht gegeben. Zwischen den Vergleichswaren sei teilweise Identität bzw. eine hochgradige Ähnlichkeit anzunehmen. Die jeweiligen Produkte richteten sich an die Fachkreise aus dem zahnmedizinischen Bereich, wobei es sich um sehr spezielle Produkte handle, die mit einer gewissen Sorgfalt oder nach Beratung und eingehender Information und nicht spontan erworben werden würden. Ausgehend davon sei ein deutlicher Abstand der Vergleichszeichen zu fordern, der von der angegriffenen Marke aber noch eingehalten werde. Die angegriffene Marke würde mit ihren Wortbestandteilen als der einfachsten und kürzesten Bezeichnungsform wiedergegeben werden. Daher stünden sich die Bezeichnungen vita+lebenskraft und VITA gegenüber, die sich schon durch ihre Wortlänge und die sich daraus ergebende unterschiedliche Silbenzahl, die unterschiedliche Vokalfolge und daraus resultierendem anderen Sprech- und Betonungsrhythmus deutlich unterscheiden würden. Die angegriffene jüngere Bezeichnung vita+lebenskraft werde als ein zusammengehöriger Begriff aufgefasst, d.h. es sei nicht etwa einer der beiden Wortbestandteile der Bezeichnung für die Gesamtmarke prägend, nachdem die jeweiligen Wörter „vita“ und „lebenskraft“ gleichermaßen kennzeichnungsschwach seien. Auch eine schriftbildliche Verwechslungsgefahr sei angesichts der unterschiedlichen Wortlänge sowie der typischen Umrisscharakteristik des Bestandteils „+lebenskraft“ der angegriffenen Marke auszuschließen. Für andere Arten der Verwechslungsgefahr sei nichts ersichtlich. Die angegriffene Marke sei unter anderem bereits durch ihre grafische Gestaltung schon anders gebildet als die weiteren Vita-Marken der Widersprechenden, sodass die angesprochenen Verkehrskreise keinerlei Veranlassung hätten, die angegriffene Marke der Widersprechenden zuzuordnen. Zudem verwendeten auch zahlreiche andere Firmen den Markenbestandteil „Vita“. Es könne dahingestellt bleiben, ob der eher beschreibende Begriff „VITA“ (auch Zähne mit ihren Wurzeln und Nerven seien lebendig) überhaupt als Stammbestandteil geeignet sei. Von einer selbständig kennzeichnenden Stellung eines mit dem Widerspruchszeichen übereinstimmenden Bestandteils in einem mehrgliedrigen Zeichen sei ebenso wenig auszugehen, weil „VITA“ sich nicht als Unternehmensschlagwort bzw. Hinweis auf das Unternehmen eigne. Die beiden Wortbestandteile „vita“ und „lebenskraft“ seien miteinander zu einer gesamtbegrifflichen Aussage verbunden, was einer selbständig kennzeichnenden Stellung des Wortteils „VITA“ in der jüngeren Marke entgegenstehe.
12
Für den geltend gemachten Löschungsgrund des Sonderschutzes einer bekannten Marke seien keine Anhaltspunkte gegeben. Es sei weder eine Beeinträchtigung der Wertschätzung noch eine Verwässerung des älteren Zeichens VITA ersichtlich, nachdem die Bezeichnung „VITA“ nicht unverändert in das jüngere Zeichen übernommen worden sei und Wortzusammensetzungen mit „VITA“ nicht zwingend nur als Hinweis auf die Widersprechende anzusehen seien.
13
Hiergegen richtet sich die Beschwerde der Widersprechenden. Sie meint, dass eine Verwechslungsgefahr zwischen den sich gegenüberstehenden Marken zu bejahen sei. Die Markenstelle habe zum einem rechtsfehlerhaft die enorme Bekanntheit des Zeichens „VITA“ als Marke für Dentalprodukte und die entsprechend erhöhte Kennzeichnungskraft der Widerspruchsmarke nicht berücksichtigt. Dieser sei aufgrund einer jahrzehntelangen intensiven Benutzung im angesprochenen Verkehrskreis der Zahnärzte und Zahntechniker sowie der Handelsunternehmen für Dentalprodukte eine deutlich überdurchschnittliche Kennzeichnungskraft zuzubilligen. Auf der anderen Seite habe die Markenstelle ebenso fehlerhaft und widersprüchlich festgestellt, dass die Bestandteile „vita“ und „lebenskraft“ der angegriffenen jüngeren Marke eher kennzeichnungsschwach seien. Richtig sei vielmehr, dass die hohe Bekanntheit von „VITA“ als Marke für Dentalprodukte die Kennzeichnungskraft des entsprechenden Bestandteils der angegriffenen Marke erhöhe, wohingegen der weitere zweite Wortbestandteil der angegriffenen Marke „lebenskraft“ demgegenüber eher kennzeichnungsschwach bzw. ohne jede Kennzeichnungskraft sei. Die angegriffene Marke werde geprägt von dem durchschnittlich kennzeichnungskräftigen Markenbestandteil „vita“, so dass eine unmittelbare Verwechslungsgefahr der Vergleichszeichen bestehe. Auch sei eine Verwechslungsgefahr unter dem Gesichtspunkt einer selbständig kennzeichnenden Stellung gegeben. Denn das bekannte Firmenschlagwort und die Dach- und Serienmarke der Widersprechenden „VITA“ sei in die angegriffene Marke übernommen worden. Dem ganz überwiegenden Teil der angesprochenen Verkehrskreise sei „VITA“ in der Dentalbranche als Kennzeichen der Widersprechenden bekannt. Dies belegten insbesondere die Verkehrsbefragungen. Ferner sei den angesprochenen Fachkreisen auch der Einsatz von „VITA“ als Serienzeichen und damit auch die Verwendung in unterschiedlichen Variationen bekannt. Dazu hatte die Widersprechende mit der Widerspruchsbegründung vom 7. Juli 2017 zahlreiche weitere (eingetragene) Marken mit dem Bestandteil „Vita“ aufgelistet, die von ihr auch benutzt würden [Vitacoll (DE 950 906), Vitafol (DE 749 147), Vitapan (DE 844 201), Vitablocs (DE 1 127 447), VITAVM (DE 303 06 741), VITAPM (DE 304 28 841), VITASIL (DE 30 2010 020 062) sowie Vita Vacumat (DE 395 25 198), Vita Lumin (DE 513 945), Vita In-Ceram (DE 1 144 339), Vita Zeta (DE 2 061 132), Vita Akzent (DE 397 35 846), Vita Omega-Metallkeramik (DE 2 010 827), Vita YZ (DE 300 40 055; EM 015696248), Vita System 3D-Master (DE 301 64 913), Vita Easyshade (DE 303 15 965), Vita Zyrcomat (DE 303 05 379), Vita BLP (DE 305 36 618), VITA CAD-Temp (DE 306 46 744), VITA VITAL (DE 30 2008 005 387), VITA MFT (DE 30 2008 039 376), Vita Lingoform (DE 306 45 709), Vita Shade Assist (DE 30 2009 034 801), VITA ENAMIC (DE 30 2010 005, 552)], was aus den entsprechenden vorgelegten Produktkatalogen hervorgehe. Wenn ein Dentalprodukt dann unter der Bezeichnung „vita+lebenskraft“ vermarktet werde, bestünde zumindest die Gefahr, dass die angesprochenen Verkehrskreise das so gekennzeichnete Produkt der Widersprechenden zuordneten.
14
Die Widersprechende hatte im Widerspruchsverfahren vor dem Patentamt u.a. ein demoskopisches Gutachten über die „Bekanntheit und Kennzeichnungskraft der Bezeichnung VITA bei Fachkreisen in Deutschland“ vom Juni 2017 eingereicht, bei dem insgesamt 300 niedergelassene Zahnärzte, 200 Zahntechniker und 10 Händler für Dentalprodukte befragt worden sind und aus dem sich eine Bekanntheit der Widerspruchsbezeichnung in den Fachkreisen von 99,2 %, ein Kennzeichnungsgrad, also die Bekanntheit für nur ein Unternehmen, von 96,3 % (unter Berücksichtigung von Fehlzuordnungen) und ein Zuordnungsgrad von 93,7 % ergeben. Sie hatte zudem weitere Unterlagen, unter anderem Berichte zum deutschen und europäischen Dentalmarkt mit Angaben zum Marktvolumen, zahlreiche Werbe- und Informationsmaterialien (Werbeflyer, Produktbroschuren, Kataloge), eidesstattliche Versicherungen mit der Angabe von Umsatzzahlen im Zeitraum 2006 bis 2015 sowie Veröffentlichungen in Fachzeitschriften für die Dentalbranche vorgelegt. Die Widersprechende ist der Auffassung, daraus sei zu entnehmen, dass es sich bei der Widerspruchsmarke um eine sehr bekannte und auch als Serienmarke eingesetzte Marke für Dentalprodukte handelt.
15
Die Widersprechende beantragt sinngemäß,
16
den Beschluss der Markenstelle für Klasse 5 des Deutschen Patent- und Markenamts vom 20. Dezember 2017 aufzuheben und wegen des Widerspruchs aus der Unionsmarke 008 199 523 VITA die Löschung der angegriffenen Wort-/Bildmarke 30 2015 228 111 im Umfang des erhobenen Widerspruchs anzuordnen.
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Die Markeninhaberinnen haben sich im Beschwerdeverfahren, wie auch bereits zuvor im Widerspruchsverfahren vor dem Deutschen Patent- und Markenamt nicht geäußert und auch keine Anträge gestellt.
18
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den angefochtenen Beschluss der Markenstelle für Klasse 5 sowie auf die Schriftsätze der Widersprechenden und den weiteren Akteninhalt Bezug genommen.
II.
19
Die nach § 66 Abs. 1 Satz 1 MarkenG statthafte und im Übrigen zulässige Beschwerde der Widersprechenden hat auch in der Sache Erfolg. Auf den nach § 42 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 MarkenG in zulässiger Weise erhobenen, sich gezielt gegen die Waren aus dem Produktbereich der Dentalmedizin in der Klasse 5 gerichteten Widerspruch aus der Marke VITA war unter Aufhebung des diesen Widerspruch zurückweisenden Beschlusses der Markenstelle für Klasse 5 des Deutschen Patent- und Markenamts gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 MarkenG die Löschung der mit dem Widerspruch angegriffenen Wort-/Bildmarke
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im Umfang des erhobenen Wiederspruchs anzuordnen, weil zwischen den Kollisionsmarken insoweit Verwechslungsgefahr i. S. d. § 9 Abs. 1 Nr. 2, 2. Halbsatz MarkenG besteht.
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Das Vorliegen einer Verwechslungsgefahr für das Publikum ist nach ständiger Rechtsprechung sowohl des Europäischen Gerichtshofes als auch des Bundesgerichtshofes unter Berücksichtigung aller relevanten Umstände des Einzelfalls zu beurteilen (vgl. hierzu z. B. EuGH GRUR 2010, 933 Rn. 32 – BARBARA BECKER; GRUR 2010, 1098 Rn. 44 – Calvin Klein/HABM; BGH GRUR 2012, 64 Rn. 9 – Maalox/Melox-GRY; GRUR 2012, 1040 Rn. 25 – pjur/pure; GRUR 2013, 833 Rn. 30 – Culinaria/Villa Culinaria; GRUR 2016, 382 Rn. 19 – BioGourmet; GRUR 2018, 79 Rn. 9 – Oxford/Oxford Club). Von maßgeblicher Bedeutung sind insoweit insbesondere die Identität oder Ähnlichkeit der relevanten Vergleichsprodukte (Waren und/oder Dienstleistungen), die Identität oder Ähnlichkeit der Marken sowie die Kennzeichnungskraft und der daraus folgende Schutzumfang der Widerspruchsmarke. Diese einzelnen Faktoren sind zwar für sich gesehen voneinander unabhängig, bestimmen aber in ihrer Wechselwirkung den Rechtsbegriff der Verwechslungsgefahr (vgl. dazu EuGH GRUR 2008, 343 Rn. 48 – Il Ponte Finanziaria Spa/HABM; BGH GRUR 2012, 64 Rn. 9 – Maalox/Melox-GRY; GRUR 2012, 1040 Rn. 25 – pjur/pure; siehe auch Ströbele/Hacker/Thiering, Markengesetz, 12. Aufl., § 9 Rn. 41 ff. m. w. N.). Darüber hinaus können sich für die Beurteilung der Verwechslungsgefahr weitere Faktoren entscheidungserheblich auswirken, wie u. a. etwa die Art der Ware, die im Einzelfall angesprochenen Verkehrskreise und daraus folgend die zu erwartende Aufmerksamkeit und das zu erwartende Differenzierungsvermögen dieser Verkehrskreise bei der Wahrnehmung der Kennzeichen.
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Nach diesen Grundsätzen besteht zwischen der angegriffenen Wort-/Bildmarke
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und der älteren Widerspruchsmarke VITA eine Verwechslungsgefahr gemäß §§ 9 Abs. 1 Nr. 2, 2. Halbsatz, 42 Abs. 2 Nr. 1 MarkenG.
22
1. Die gezielt von der Widersprechenden angegriffenen Waren der Klasse 5 „Abdruckmassen aus Chromalginat für zahnärztliche Zwecke; Abdruckmassen für zahnärztliche Zwecke; Abdruckmassen für zahnärztliche Zwecke zur Herstellung von Zahnformen; Abdruckmaterial für zahnärztliche Zwecke; Amalgam für zahnärztliche Zwecke; Amalgame für zahnärztliche Zwecke; Antibiotika für zahnärztliche Zwecke; Antimikrobielle Mundwässer; Arzneimittel für zahnärztliche Zwecke; Beizmaterialien für zahnärztliche Zwecke; Dentalanästhetika; Dentalgips; Dentalharze; Dentalkeramik; Dentalmaterialien für Zahnfüllungen; Dentalmaterialien zum Füllen der Zähne; Dentalmaterialien zur Herstellung von Zahnmodellen; Dentalmaterialien zur Vervielfältigung von Zahnmodellen; Dentalsanierungsmassen, Dentalzement; Desinfektionsmittel für zahnärztliche Apparate und Instrumente; Dichtungsmasse für zahnärztliche Zwecke; Edelmetalllegierungen für zahnärztliche Zwecke; Einbettungsmaterial für zahnärztliche Zwecke; Farbreagenzien zum Erkennen von Zahnbelag“ der jüngeren Marke sind mit den Widerspruchswaren der Klasse 5 teilweise identisch und im Übrigen hochgradig ähnlich.
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2. Die Kennzeichnungskraft der Widerspruchsmarke ist von Haus aus als durchschnittlich anzusehen. Die originäre Kennzeichnungskraft wird durch die Eignung einer Marke bestimmt, sich unabhängig von der jeweiligen Benutzungslage als Unterscheidungsmittel für die Waren und Dienstleistungen eines Unternehmens bei den beteiligten Verkehrskreisen einzuprägen und die Waren und Dienstleistungen damit von denjenigen anderer zu unterscheiden (vgl. z.B. BGH, GRUR 2016, 382 Rn. 31 – BioGourmet). Nachdem ein beschreibender Gehalt der Bezeichnung VITA, als ursprünglich aus dem Lateinischen stammendes Wort für Leben und eine Verwendung in der deutschen Sprache für eine literarische Lebensbeschreibung (vgl. DUDEN, Die deutsche Rechtschreibung, 27. Aufl. 2017) für die einschlägigen Widerspruchswaren im Bereich der Dentalmedizin oder sonstige Gründe, die für eine Schwächung der Kennzeichnungskraft sprechen könnten, nicht gegeben sind, kann von einer mindestens durchschnittlichen originären Kennzeichnungskraft der Widerspruchsmarke ausgegangen werden. Aufgrund der von der Widersprechenden zahlreich vorgelegten Unterlagen – Dokumente zu dem von der Marke gehaltenen Marktanteil, Informationen zu der Dauer der Benutzung, ein demoskopisches Gutachten zu der Bekanntheit der Marke – ist jedenfalls von einer überdurchschnittlichen Kennzeichnungskraft der Widerspruchsmarke für die von ihr im Dentalbereich bzw. im Bereich von Zahnersatz und Zahnprothetik beanspruchten Waren auszugehen.
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3. Den bei dieser Ausgangslage – identische bzw. hochgradig ähnliche Waren und jedenfalls überdurchschnittliche Kennzeichnungskraft – zu fordernden strengen bzw. sehr strengen Anforderungen an den Markenabstand wird die jüngere Marke nicht gerecht. Es ist davon auszugehen, dass ein beachtlicher Teil der angesprochenen Fachkreise im Bereich der Dentalprodukte die angegriffene Wort-/Bildmarke aufgrund der Übereinstimmung in dem Wort „Vita/VITA“, das nicht nur die Widerspruchsmarke, sondern auch die Unternehmensbezeichnung und den Stammbestandteil einer entsprechenden Markenserie der Widersprechenden darstellt, mit dieser im Sinne des § 9 Abs. 1 Nr. 2 Halbsatz 2 MarkenG gedanklich in Verbindung bringt.
25
a. Zwar ist eine unmittelbare Verwechslungsgefahr zwischen den sich gegenüberstehenden Marken nicht zu bejahen. Soweit sie in ihrer Gesamtheit miteinander verglichen werden, ergibt sich unter keinem Gesichtspunkt eine Gefahr von Verwechslungen. Insoweit unterscheiden sich die beiden Marken klanglich im Hinblick auf die markant unterschiedliche Wortlänge wie auch schriftbildlich durch die unterschiedliche Wortlänge sowie die zusätzlichen bildlichen Bestandteile (Darstellung zweier Blätter, + Symbol) in der jüngeren Marke deutlich voneinander, auch wenn sie in den ersten beiden Silben bzw. in der Wiedergabe vi-ta nahezu identisch übereinstimmen.
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Auch der Umstand, dass die Zeichen in dem Wort „vita“ übereinstimmen, führt vorliegend für sich genommen noch nicht zu einem verwechslungsfähigen Gesamteindruck der Vergleichszeichen. Denn insoweit kann nicht davon ausgegangen werden, dass die angegriffene Marke durch ihren Wortanfang „Vita“ allein kollisionsbegründend geprägt wird. Denn grundsätzlich nimmt der angesprochene Verkehr eine Marke so wahr, wie sie ihm entgegentritt, ohne sie in einzelne Bestandteile zu zerlegen. Ebenso kann eine Prägung durch einen Bestandteil eines zusammengesetzten Zeichens nur angenommen werden, wenn davon auszugehen ist, dass die übrigen Markenteile in einer Weise zurücktreten, dass sie für den Gesamteindruck vernachlässigt werden können. Dabei dürfen beschreibende oder kennzeichnungsschwache Markenteile nicht von vorneherein unberücksichtigt bleiben (vgl. auch Ströbele/Hacker/Thiering, MarkenG, 12. Aufl., § 9 Rn. 387 ff mwN). Insoweit kann, anders als die Widersprechende meint, nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass ein entscheidungserheblicher Teil der angesprochenen Verkehrskreise den zweiten Wortbestandteil „lebenskraft“ bei der angegriffenen Marke nicht (sei es klanglich oder schriftbildlich) mit wiedergeben wird, zumal die konkrete Gestaltung der Marke dafür keinen Anhalt gibt, was etwa bei einer entsprechenden optischen Ausgestaltung durch die Größe und Wiedergabe der Bestandteile der Fall sein kann (größerer und kleinerer Bestandteil oder ein klar im Vordergrund befindlicher Bestandteil). Auch begrifflich wirken die Wörter „vita“ im Sinn von „Leben“ und „+lebenskraft“ als eine aufeinander bezogenen Einheit.
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b. Es besteht aber eine Verwechslungsgefahr unter dem Gesichtspunkt des gedanklich miteinander in Verbindung Bringens unter dem Aspekt eines Serienzeichens. Dies ist dann der Fall, wenn die Zeichen in einem Bestandteil übereinstimmen bzw. einen wesensgleichen Stamm aufweisen, den der Verkehr als Stammbestandteil mehrerer Zeichen eines Unternehmens ansieht und deshalb die nachfolgenden Bezeichnungen, die einen identischen oder zumindest wesensgleichen Stamm aufweisen, demselben Inhaber zuordnet, § 9 Abs. 1 Nr. 2 letzter Halbsatz MarkenG (vgl. BGH GRUR 2009, 484 Rn. 38 – METROBUS; GRUR 2009, 673 Rn. 39 – OSTSEE-POST). Das Vorliegen einer Zeichenserie setzt die Benutzung mehrerer Marken mit einem gemeinsamen Stammbestandteil voraus, so dass die angesprochenen Verkehrskreise das gemeinsame Element kennen und mit der Zeichenserie in Verbindung bringen (vgl. EuGH GRUR 2008, 343 Rn. 64 – Il Ponte Finanziaria/HABM [BAINBRIDGE]; BGH GRUR 2013, 840 Rn. 23 – PROTI II).
28
Die Widersprechende hat mit dem von ihr vorgelegten umfangreichen Material belegt, dass die Bezeichnung „VITA“ ein sehr bekanntes Firmenschlagwort, eine Dachmarke und der Stammbestandteil einer Markenfamilie der Widersprechenden ist. Die als Anlagen zu der Beschwerdebegründung vom 7. Juli 2017 eingereichten Unterlagen zeigen, dass die Widersprechende seit dem Jahr 1924 Produkte im Bereich der Zahntechnik, insbesondere künstliche Zähne, herstellt und dabei mit dem Firmenschlagwort VITA auf dem Dentalmarkt tätig ist. Insbesondere mit der seit dem Jahr 1998 als VITAPAN classical bezeichneten Farbskala für künstliche Zähne hat die Widersprechende einen Marktanteil von in den Jahren 2001 bis 2010 in Höhe von jeweils zwischen 72 % und 93 % nach den Umsatzzahlen erreicht (vgl. Anlage 7 zum Schriftsatz der Widersprechenden vom 7. Juli 2017). Zur tatsächlichen Verwendung der mit dem vorangestellten Bestandteil verbundenen bzw. den Bestandteil „Vita“ enthaltenden Kennzeichen hat die Widersprechende zahlreiche Unterlagen eingereicht, unter anderem die sogenannten Vita Kompendien mit der Produktpalette der Widersprechenden aus den Jahren 2006 und 2013 (Anlage 18 zum Schriftsatz vom 7. Juli 2017). Aus diesen Unterlagen geht hervor, dass die Widersprechende unter anderem die Bezeichnungen VITA Toothguide 3D-Master für Zahnfarben, VITA Easyshade zur Bestimmung von Zahnfarben, VITACOLL für einen Haftvermittler zwischen Kunststoffzähnen und Basismaterialien, VITAPAN für Kunststoffzähne, VITA PHYSIODENS für Front- und Seitenzahnlager, VITAVM bzw. VITA VM für Verblendkeramik, VITA In-Ceram für Blöcke zur Herstellung von Vollkeramik Kronengerüste, VITA VACUMAT für ein Keramikbrenngerät, VITA Linearguide 3D-Master zur Zahnfarbenbestimmung, VITA LINGOFORM für Kunststoffzähne, VITAFOL für ein Silikon-Isoliermaterial, VITA ENAMIC für eine dentale Hybridkeramik vor dem maßgeblichen Prioritätszeitpunkt der jüngeren Marke (so BGH GRUR 2009, 484 Rn. 40 – METROBUS) am 8. Dezember 2015 verwendet. Bei den so gekennzeichneten Waren handelt es sich um chemische Erzeugnisse in Form von Verblendmaterialien für zahnärztliche Zwecke oder Zahnfarben, Haftvermittler oder Kunststoffzähne und damit um mit den angegriffenen Waren der jüngeren Marke identische oder jedenfalls hochgradig ähnliche Waren. Nach dem Vortrag der Widersprechenden und den dazu eingereichten Unterlagen ist daher davon auszugehen, dass die Widersprechende im Verkehr bereits vor dem Anmeldetag der angegriffenen jüngeren Marke mit einer Zeichenserie mit der Firmenkennzeichnung und dem Stammbestandteil VITA auf dem Dentalmarkt umfangreich aufgetreten ist.
29
Der Bestandteil VITA ist in der angegriffenen Wort-/Bildmarke
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nahezu identisch bzw. jedenfalls wesensgleich enthalten. Zwar ist „vita“ mit dem zusätzlichen Bestandteil „+lebenskraft“ in die gesamtbegriffliche Bezeichnung „vita+lebenskraft“ eingebunden und verfügt zudem über einen zusätzlichen Bildbestandteil in Form der Wiedergabe zweier Pflanzenblätter. Die Widersprechende ist aber sowohl mit Bezeichnungen wie VITAPAN, VITACOLL und damit direkt angefügten weiteren Bestandteilen, aber auch mit Zweitwortbezeichnungen wie VITA Easyshade, VITA Lingoform, VITA Enamic, VITA In-Ceram bereits seit langem auf dem Markt und führt die Markenfamilie mit ganz unterschiedlichen mit dem vorangestellten VITA und verbundenen oder nach VITA mit Leerzeichen folgenden Bezeichnungen laufend weiter. Vor diesem Hintergrund und aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der übereinstimmenden Bezeichnung VITA/vita um die auf dem überschaubaren Dentalmarkt seit langem gut eingeführte Firmenkennzeichnung der Widersprechenden handelt, ist die Annahme gerechtfertigt, dass die beteiligten Fachverkehrskreise bei einer Benutzung der Marken für identische oder hochgradig ähnliche Waren einer Fehlzuordnung der angegriffenen Marke und der damit gekennzeichneten Waren zu dem Unternehmen der Widersprechenden unterliegen werden.
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Vor dem Hintergrund identischer und hochgradig ähnlicher Vergleichswaren und einer mindestens überdurchschnittlichen Kennzeichnungskraft der Widerspruchsmarke besteht angesichts der nahezu identischen oder jedenfalls wesensgleichen Übernahme des Serien- und Stammbestandteils sowie des Unternehmenskennzeichens der Widersprechenden „VITA“ die Gefahr, dass die Bezeichnungen VITA und
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gedanklich miteinander in Verbindung gebracht werden, so dass von einer Verwechslungsgefahr unter dem Aspekt des Serienzeichens auszugehen ist.
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Daher ist die angegriffene Wort-/Bildmarke im Umfang des erhobenen Widerspruchs zu löschen, sodass der angefochtene Beschluss der Markenstelle insoweit aufzuheben war.
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4. Zur Auferlegung der Kosten aus Gründen der Billigkeit gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 MarkenG besteht bei der vorliegenden Sachlage keine Veranlassung.
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5. Über die Beschwerde konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden. Eine solche war nur von der obsiegenden Widersprechenden hilfsweise beantragt worden, nicht aber von den insoweit unterlegenen Markeninhaberinnen. Eine mündliche Verhandlung war auch nicht aus Gründen der Sachdienlichkeit veranlasst, § 69 Nr. 1 und Nr. 3 MarkenG.

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