Aktenzeichen B 6 K 19.1069
Leitsatz
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.
Gründe
Die zulässige Klage, über die gem. § 101 Abs. 2 VwGO mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, hat in der Sache keinen Erfolg.
Denn der Kläger hat kein Anspruch auf Ausstellung einer (deklaratorischen) Bescheinigung nach § 5 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU, weil ihm kein Daueraufenthaltsrecht gem. § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU zusteht.
1. Zwar hält sich der Kläger tatsächlich jedenfalls seit März 2009 durchgehend im Bundesgebiet auf. Dieser Aufenthalt war jedoch nicht für mindestens fünf Jahre „ständig rechtmäßig“ i.S.d. § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU.
1.1. In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof (EuGH) ist geklärt, dass Zeiten der tatsächlichen Verbüßung einer Freiheitsstrafe innerhalb des Fünfjahreszeitraums den rechtmäßigen Aufenthalt unterbrechen und der Fünfjahreszeitraum nach der Haftentlassung wieder neu beginnt. Denn Zeiträume, in denen der Unionsbürger im Aufnahmemitgliedstaat eine Freiheitsstrafe verbüßt hat, können nicht für die Zwecke des Erwerbs des Daueraufenthaltsrechts berücksichtigt werden, weil der Unionsgesetzgeber die Erlangung eines Daueraufenthaltsrechts nach Art. 16 Abs. 1 RL 2004/38/EU von der Integration des Unionsbürgers in den Aufnahmemitgliedstaat abhängig macht, diese Integration nicht nur auf territorialen und zeitlichen Faktoren, sondern auch auf qualitativen Elementen im Zusammenhang mit dem Grad der Integration im Aufnahmemitgliedstaat beruht, und die Verhängung einer Freiheitsstrafe ohne Bewährung durch ein nationales Gericht dazu angetan ist, deutlich zu machen, dass der Betroffene die von der Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaates in dessen Strafrecht zum Ausdruck gebrachten Werte nicht beachtet. Die Berücksichtigung von Zeiträumen der Verbüßung einer Freiheitsstrafe für die Zwecke des Erwerbs eines Daueraufenthaltsrechts würde dem mit der Einführung dieses Aufenthaltsrechts verfolgten Ziel eindeutig zuwiderlaufen (EuGH, U.v. 16.1.2014 – Onuekwere, C-378/12 – InfAuslR 2014, 81 Rn. 25 f.; U.v. 16.1.2014 – M.G., C-400/12 – InfAuslR 2014, 82 Rn. 31 f.; U.v. 17.4.2018 – C-316/16 u.a. – InfAuslR 2018, 254 Rn. 58 f.; vgl. auch BayVGH, B.v. 18.3.2015 – 10 C 14.2655 – juris Rn. 24; Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Sept. 2020, § 4a FreizügG/EU Rn. 22c ff.; Hasse in v. Harbou/Weizäcker, Einwanderungsrecht, 2. Aufl. 2020, Teil F Rn. 63). Der Bayer. Verwaltungsgerichtshof hat diese Erwägungen auch auf die Fallkonstellation übertragen, dass der Unionsbürger innerhalb des Fünfjahreszeitraums in Untersuchungshaft genommen wird und die Untersuchungshaft später in eine Freiheitsstrafe mündet (BayVGH, B.v. 12.12.2019 – 10 ZB 19.2195 – BeckRS 2019, 34549; B.v. 21.1.2020 – 10 ZB 19.2250 – BeckRS 2020,1184). Denn auch in diesem Fall sei die Inhaftierung dazu angetan deutlich zu machen, dass es an der für den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts erforderlichen (qualitativen) Integration fehle.
Die vorgenannte Rechtsprechung des EuGH bezieht sich – entgegen der Äußerung der Klägerbevollmächtigten – nicht etwa nur auf Drittstaatsangehörige, die Familienangehörige eines Unionsbürgers sind, sondern auch auf den Unionsbürger selbst, von dem der Familienangehörige sein Aufenthaltsrecht ableitet (vgl. EuGH, U.v. 17.4.2018 – C-316/16 u.a. – InfAuslR 2018, 254 Rn. 57 u. 60).
1.2. Im vorliegenden Fall liegt die Inhaftierung des Klägers ab Juni 2014 zwar nicht innerhalb des Fünfjahreszeitraums des § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU. Nach Überzeugung der Kammer ist jedoch maßgeblich zu berücksichtigen, dass der Kläger wegen innerhalb des Fünfjahreszeitraums begangener Straftaten zu einer Freiheitsstrafe, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde, verurteilt wurde, und diese Aussetzung zur Bewährung noch innerhalb des Fünfjahreszeitraums widerrufen wurde.
1.2.1. Der Aufenthalt des Klägers konnte frühestens ab 1. März 2009 rechtmäßig i.S.d. § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügigG/EU sein. Denn mit (bestandskräftigem) Bescheid vom 18. Februar 2009 hatte der Beklagte die „Wirkung der mit Bescheid vom 30.06.2003 verfügten Ausweisung“ nachträglich auf den 28. Februar 2009 befristet. Vor diesem Zeitpunkt konnte der zuvor rechtskräftig ausgewiesene und abgeschobene Kläger sich daher nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten. Es bedarf daher keiner weiteren Klärung, ob bzw. in welchen Zeiträumen sich der Kläger vor März 2009 – der Beklagte gibt als Tag der erlaubten Wiedereinreise den 18. März 2009 an (Bl. 38 d.A.) – illegal im Bundesgebiet aufgehalten hatte.
1.2.2. Der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung erfolgte mit Beschluss des Amtsgerichts N* … vom 27. Februar 2014 und damit jedenfalls innerhalb von fünf Jahren seit Beginn des erlaubten Aufenthalts des Klägers im Bundesgebiet. Dies führt nach Überzeugung des Gerichts dazu, dass insgesamt nicht von einem ununterbrochen rechtmäßigen Aufenthalt des Klägers über fünf Jahre hinweg ausgegangen werden kann. In der Rechtsprechung wurde die Unterbrechung des Fünfjahreszeitraums bisher in Fällen der tatsächlichen Inhaftierung innerhalb dieses Zeitraums bejaht. In der Literatur wird zudem die Auffassung vertreten, dass die Verurteilung zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe nicht ausreicht, um eine Unterbrechung des rechtmäßigen Aufenthalts i.S.d. § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU anzunehmen (Hasse in v. Harbou/Weizäcker, Einwanderungsrecht, Teil F Rn. 63; vgl. aber auch Oberhäuser in NK-AuslR, 2. Aufl. 2016, § 4a FreizügG/EU Rn. 10: „sofern die Bewährung nicht widerrufen wird“). Im vorliegenden Fall muss jedoch berücksichtigt werden, dass der Kläger innerhalb des Fünfjahreszeitraums rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurde und die maßgebliche Ursache für die tatsächliche Verbüßung der Haftstrafe – der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung – ebenfalls innerhalb des Fünfjahreszeitraums liegt. Der EuGH misst qualitativen Aspekten der Integration innerhalb dieses Zeitraums besondere Bedeutung zu und stellt dabei insbesondere auf die Achtung der Strafrechtsordnung des Aufnahmestaates ab. Im Hinblick darauf fällt der Widerruf der Bewährung innerhalb des Fünfjahreszeitraums nach Überzeugung der Kammer sogar schwerer ins Gewicht als die vom BayVGH als relevant angesehene Untersuchungshaft, die in eine Strafhaft mündet. Denn der Kläger wurde im maßgeblichen Zeitraum rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Die durch die Strafaussetzung zur Bewährung gegebene Chance, Zweifel an seiner Einfügung in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen, hat er – gerichtlich festgestellt – trotz der „offenen“ Bewährung und der deshalb drohenden Haft nicht genutzt. Im Gegensatz zu einem Beschuldigten in Untersuchungshaft, für den die strafrechtliche Unschuldsvermutung fort gilt und dessen persönliche Schuld strafgerichtlich noch nicht endgültig festgestellt ist, wurde im Falle des Klägers innerhalb des Zeitraums des § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU die Freiheitsstrafe bereits rechtskräftig verhängt. Gleichzeitig wurde mit dem Widerruf der Bewährung ebenfalls innerhalb dieses Zeitraums die maßgebliche Ursache für den tatsächlichen Haftantritt (zeitnah) nach Ablauf ebendieses Fünfjahreszeitraums gesetzt. In dieser Konstellation nur auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Haftantritts abzustellen, würde der in der Rechtsprechung des EuGH geforderten qualitativen Betrachtungsweise nicht gerecht: Denn dies würde nach Auffassung der Kammer gerade eine vom EuGH abgelehnte bloße zeitliche Betrachtung unter Außerachtlassung des Grades der Integration im Aufnahmestaat darstellen. Von der erforderlichen Integration des Klägers, der noch dazu bereits zuvor rechtskräftig aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen worden war, kann im Zeitraum März 2009 bis Februar 2014 daher nicht gesprochen werden.
1.2.3. Auch zu einem späteren Zeitpunkt hielt sich der Kläger unter Berücksichtigung des oben unter 1.1. Ausgeführten nicht seit mindestens fünf Jahren ständig rechtmäßig i.S.d. § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU in Deutschland auf. Denn durch die Verbüßung der weiteren Freiheitsstrafe ab 29. November 2016 wurde der Fünfjahreszeitraums erneut unterbrochen und lief erst nach Haftende erneut an.
1.3. Zu keinem anderen Ergebnis führt der Vortrag der Klägerbevollmächtigten, dem Kläger sei sein Freizügigkeitsrecht bereits im Jahr 2009 vom Landratsamt D* … bescheinigt worden. Denn diese – ohnehin nur deklaratorische – Bescheinigung sagt nichts über das Bestehen des Daueraufenthaltsrechts nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU aus. Gleichfalls unbeachtlich ist der Vortrag, die Haftzeiten des Klägers seien deshalb nicht zu berücksichtigen, weil sie nicht länger als sechs Monate waren. Bei der Verbüßung einer Freiheitsstrafe handelt es sich offensichtlich nicht um eine „Abwesenheit“ i.S.d. § 4a Abs. 6 Nr. 1 FreizügG/EU. Der Kläger hat das Bundesgebiet im Haftzeitraum nicht verlassen; dies war ihm aufgrund der Inhaftierung vielmehr unmöglich. Es liegt auf der Hand, dass gerade im Hinblick auf die vom EuGH betonten qualitativen Aspekte der Integration eine Haftzeit nicht als unbeachtliche Abwesenheitszeit i.S.d. § 4a Abs. 6 FreizügG/EU eingestuft werden kann.
2. Die Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.