Arbeitsrecht

Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts infolge mehrerer Verurteilungen wegen Vermögens- und Körperverletzungsdelikten

Aktenzeichen  M 25 K 17.4933

Datum:
24.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 22393
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
FreizügG/EU § 2 Abs. 1, § 6, § 7 Abs. 2 S. 5, S. 6
SGB III § 284 Abs. 1

 

Leitsatz

1. Die Annahme einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende – unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte – Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung iSv Art. 45 Abs. 3 AEUV beeinträchtigen wird (BVerwG BeckRS 2004, 25643). Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts daher nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. (Rn. 34) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 6 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU ist nicht an die Verhängung einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren gebunden.  (Rn. 37) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Die Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts nach § 6 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU ist auch dann möglich, wenn der Betroffene eine Vielzahl kleinerer Straftaten begangen hat, die für sich allein genommen nicht geeignet sind, eine hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu begründen (EuGH BeckRS 2007, 70784).  (Rn. 38) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Vermögens- und Körperverletzungsdelikte können als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen sein, die geeignet ist, Ruhe und Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen. Das Grundinteresse der Gesellschaft besteht in diesem Fall in der Sicherung des friedlichen Zusammenlebens ihrer Bürger unter Einhaltung der geltenden Rechtsordnung, insbesondere des Vermögens- und Eigentumsschutzes sowie des Schutzes vor Gewalttaten. (Rn. 42) (red. LS Clemens Kurzidem)

Verfahrensgang

M 25 K 15.40 2017-06-28 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Beschluss des Verwaltungsgerichts München vom 28. Juni 2017 (Az.: M 25 K 15.40) wird aufgehoben.
II. Die Klage wird abgewiesen.
III. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110% des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I.
Auf den entsprechenden Antrag des Klägers war der Beschluss vom 28. Juni 2017 (Verfahren M 25 K 15.40) aufzuheben und das Verfahren fortzusetzen. Zwar erfolgte auf die öffentliche Bekanntmachung der Betreibensaufforderung vom 7. März 2017 keine Reaktion des Klägers. Dieser hat jedoch angegeben, dass er seine c/o Adresse sowohl der Staatsanwaltschaft als auch der Beklagten weitergegeben und deshalb damit gerechnet habe, dass diese die Adresse an das Gericht weiterleiten würde. Vom Fehlen eines Rechtsschutzinteresses auf Seiten des Klägers ist somit nicht auszugehen.
II.
Die Klage ist jedoch nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 12. Dezember 2014 in der Fassung der Änderung vom 24. Januar 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO). Die von der Beklagten vorgenommene Ermessensentscheidung ist nicht zu beanstanden, § 114 VwGO.
Die nach pflichtgemäßem Ermessen ausgesprochene Verlustfeststellung nach § 6 Abs. 1 und Abs. 2 FreizügG/EU erweist sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (BVerwG, U.v. 16.7.2015 – 1 C 22/14 – juris) als rechtmäßig.
Nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU kann der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU unbeschadet des § 2 Abs. 7 und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit (Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV) festgestellt und die Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht oder die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte entzogen werden. Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in Abs. 1 genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen, § 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU. Es dürfen nur im Bundeszentralregister noch nicht getilgte strafrechtliche Verurteilungen und diese nur insoweit berücksichtigt werden, als die ihnen zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt, § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU. Es muss eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung verlangt eine hinreichende – unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierte – Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung i.S. des Art. 45 Abs. 3 AEUV beeinträchtigen wird (BVerwG, U.v. 3.8.2004 – 1 C 30/02 – juris). Eine strafrechtliche Verurteilung kann den Verlust des Freizügigkeitsrechts daher nur insoweit rechtfertigen, als die ihr zugrundeliegenden Umstände ein persönliches Verhalten erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Ob die Begehung einer Straftat nach Art und Schwere ein persönliches Verhalten erkennen lässt, das ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt, lässt sich nur aufgrund der Umstände des Einzelfalles beurteilen (vgl. EuGH, U.v. 27.10.1977, C-30/77 „Bouchereau“; U.v. 4.10.2007 „Polat“).
Die erschwerten Voraussetzungen des § 6 Abs. 4 FreizügG/EU für die Verlustfeststellung liegen nicht vor. Der Kläger hat im Bundesgebiet nie gearbeitet und unabhängig davon, dass die volle Arbeitnehmerfreizügigkeit erst zum 1. Mai 2011 eintrat, § 284 Abs. 1 SGB III in der bis 30.4.2011 geltenden Fassung, nie die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU erfüllt. Der am 12. Mai 2009 ausgehändigten Bescheinigung über das Freizügigkeitsrecht kommt nur deklaratorische Bedeutung zu.
Gemessen an diesen Grundsätzen liegt vorliegend eine den Verlust des Freizügigkeitsrechts rechtfertigende hinreichend schwere Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Kläger vor, welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Das Gericht ist auf der Grundlage der beigezogenen Akten sowie der persönlichen Verhältnisse des Klägers überzeugt, dass dieser auch in Zukunft Straftaten begeht, welche ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren.
Entgegen dem Vorbringen des Klägers ist die Verlustfeststellung nicht an die Verhängung einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren gebunden. Weder das Freizügigkeitsgesetz in der bis 30. Juni 2015 geltenden Fassung (Zeitpunkt des Bescheidserlasses) noch die derzeit aktuell gültige Fassung enthalten eine diesbezügliche Regelung.
Unzutreffend ist auch die Ansicht des Klägers, nur bei Terroristen oder Landesverrätern könne die Verlustfeststellung getroffen werden. Die Verlustfeststellung ist vielmehr auch möglich, wenn eine Vielzahl von kleineren Straftaten vorliegt, welche für sich allein genommen nicht geeignet sind, eine hinreichend schwere Gefährdung zu begründen (vgl. EuGH, Urteil vom 4.10.2007, C-349/06-“Polat“), wobei beim Kläger Verurteilungen wegen schwerer Straftaten (gefährliche Körperverletzung, Betrug) vorliegen.
Der Kläger hat unmittelbar nach Einreise ins Bundesgebiet und nach der Entlassung aus österreichischer Strafhaft (Verurteilung wegen eines Einbruchsdiebstahls) am 11. Oktober 2008 versucht, in einen Verkaufsstand einzubrechen, um Waren aus dem Inneren zu entwenden. Wenige Tage nach Haftentlassung am 10. Mai 2009 ließ sich der Kläger am 14. Mai 2009 von einer Bank (und am 26. Oktober 2009 von einer weiteren Bank) Girokarten ausstellen, obwohl er, wie er wusste, über keine Einnahmen verfügte und schloss in der Folge über mehrere Monate Kaufverträge mit verschiedenen Firmen ab, ohne die Forderungen zu begleichen. Diese hohe Rückfallgeschwindigkeit zeigt, dass der Kläger über keinerlei Unrechtsbewusstsein verfügt und nicht bereit ist, sich an geltende Gesetze zu halten. Auch die folgenden Verurteilungen (Amtsgericht München vom 7. Januar 2010 und 26. Juni 2010) hielten den Kläger nicht von der Begehung weiterer erheblicher Straftaten ab. So wurde der Kläger im Rahmen einer Auseinandersetzung am 22. März 2012 gewalttätig. Im Zuge dieser Auseinandersetzung trat er zweimal mit dem Fuß gegen den Kopf des Geschädigten, die zu einer blutigen Riss-Quetsch-Wunde am Schädeldach führte, die mit sieben Stichen genäht wurde. Keine der verhängten Strafen führte zu einer Verhaltensänderung des Klägers.
Auch die Justizvollzugsanstalt … geht in der Stellungnahme vom 22. November 2016 davon aus, dass der Kläger aufgrund der zahlreichen Vorstrafen und seiner desolaten Lebenssituation als Risikoprobant angesehen werden müsse. Dem Kläger fehle jegliche Kritik und Einsicht. Das Landgericht Coburg hat daher mit Beschluss vom 19. Dezember 2016 eine Führungsaufsicht für die Dauer von zunächst fünf Jahren festgesetzt.
Die Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten gegen das Eigentum und das Vermögen sowie die körperliche Unversehrtheit Dritter ergibt sich auch aufgrund der persönlichen Situation des Klägers. Dieser hat im Bundesgebiet nie (nach eigenen Angaben nur einen Tag) gearbeitet. Des Weiteren hatte der Kläger, mit Ausnahme der Zeiten der Inhaftierung, überwiegend keinen festen Wohnsitz und auf der Straße gelebt. Seit seiner Entlassung am 3. Januar 2017 lebte er, bis zur erneuten Verhaftung am 10. Januar 2018, durchgängig auf der Straße. Auch hat der Kläger nach den Feststellungen der Strafgerichte ein unbehandeltes Alkoholproblem, welches er offensichtlich verdrängt.
Die vom Kläger begangenen Straftaten sind auch als besonders schwere Beeinträchtigung eines grundlegenden gesellschaftlichen Interesses anzusehen, die geeignet sind, die Ruhe und die Sicherheit der Bevölkerung unmittelbar zu bedrohen. Das Grundinteresse der Gesellschaft besteht vorliegend in der Sicherung des friedlichen Zusammenlebens seiner Bürger unter Einhaltung der geltenden Rechtsordnung, insbesondere des Vermögens- und Eigentumsschutzes sowie des Schutzes vor Gewalttaten.
Die von der Beklagten getroffene Verlustfeststellung ist auch unter Berücksichtigung der besonderen Belange des Klägers gemäß § 6 Abs. 3 FreizügG/EU nicht zu beanstanden. Der Kläger hält sich zwar seit mehr als neun Jahren im Bundesgebiet auf. Davon verbrachte er jedoch fast vier Jahre in Haft. Eine wirtschaftliche und soziale Integration ist dem Kläger nie geglückt. Er hat hier nie gearbeitet und überwiegend auf der Straße gelebt. Nähere Beziehungen ins Bundesgebiet hat er nicht. Seine Halbtante ist zwischenzeitlich verstorben. Auch wenn er keinerlei Beziehungen mehr nach Ungarn haben sollte – nach eigenen Angaben lebt dort noch sein zwei Jahre jüngerer Bruder, zu dem er keinen Kontakt haben will – stellt sich die Situation in Ungarn nicht anders bzw. schlechter als im Bundesgebiet dar.
Auch die von der Beklagten nach pflichtgemäßem Ermessen gemäß § 7 Abs. 2 Satz 5, Satz 6 FreizügG/EU getroffene Befristung der Sperre zur Wiedereinreise und zum Aufenthalt im Bundesgebiet für die Dauer von (zuletzt) fünf Jahren ist rechtlich nicht zu beanstanden. Unter Berücksichtigung der Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten durch den Kläger ist angesichts fehlender sozialer Bindungen im Bundesgebiet die Sperrfrist von fünf Jahren erforderlich und nicht unverhältnismäßig.
Die in Ziffer 3. verfügte Ausreisepflicht beruht auf § 7 Abs. 1 FreizügG/EU, die Ausreisefrist entspricht den Anforderungen des § 7 Abs. 1 Satz 3, Satz 4 FreizügG/EU.
Zur Ergänzung wird auf die Ausführungen des streitgegenständlichen Bescheids Bezug genommen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO.

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