Arbeitsrecht

Keine Verletzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch unterschiedliche Behandlung von Vorbeschäftigungszeiten bei der Stufenzuordnung nach § 16 Abs 2 TV-L

Aktenzeichen  3 Sa 926/15

Datum:
25.2.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 120823
Gerichtsart:
LArbG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Arbeitsgerichtsbarkeit
Normen:
TV-L § 16 Abs. 2, § 24 Abs. 1 S. 2, § 37 Abs. 1 S. 1
AEUV Art. 45 Abs. 2, Abs. 3
VO (EU) Nr. 492/2011 Art. 7

 

Leitsatz

Die unterschiedliche Behandlung von Vorbeschäftigungszeiten bei demselben oder einem anderen Arbeitgeber im Rahmen der Stufenzuordnung in das Entgeltsystem des TV-L in dessen § 16 Abs. 2 verstößt nicht gegen die unionsrechtlichen Vorgaben zur Arbeitnehmerfreizügigkeit in Art. 45 Abs. 2 AEUV sowie Art. 7 Freizügigkeits-VO und ist jedenfalls gerechtfertigt (rechtskräftig durch Rücknahme der Revision). (Rn. 22 – 27) (red. LS Alke Kayser)

Verfahrensgang

5 Ca 633/15 2015-09-27 Urt ARBGAUGSBURG ArbG Augsburg

Tenor

I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Augsburg vom 27.09.2015 – 5 Ca 633/15 -abgeändert und die Klage abgewiesen.
II. Die Berufung des Klägers wird zurückgewiesen.
III. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
IV. Die Revision wird für den Kläger zugelassen, soweit Ansprüche ab 01.01.2014 geltend gemacht werden.

Gründe

Die Berufung des Beklagten ist zulässig und begründet. Die Berufung des Klägers ist zulässig, aber unbegründet.
I.
1. Die nach § 64 Abs. 1, Abs. 2 lit. b) ArbGG statthafte Berufung des Beklagten ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO.
2. Die nach § 64 Abs. 1, Abs. 2 lit. b) ArbGG statthaftet Berufung des Klägers ist form- und fristgerecht eingelegt worden, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 6 ArbGG, §§ 519, 520, 222 Abs. 2 ZPO. Bei der Zustellung des Urteils am 08.10.2015 fiel das Ende der Berufungsfrist auf Sonntag, den 08.11.2015, so dass nach § 222 Abs. 2 ZPO die Frist erst mit Ablauf des Montag, 09.11.2015, endete.
II.
Die Berufung des Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Berücksichtigung seiner Beschäftigungszeiten aus früheren Arbeitsverhältnissen aus Art. 45 Abs. 2 AEUV und Art. 7 der VO (EU) Nr. 492/2011.
Die teilweise stattgebende Klage des Arbeitsgerichts Augsburg war insoweit abzuändern und die Klage insgesamt abzuweisen.
1. Der Anspruch des Klägers auf Berücksichtigung der Beschäftigungszeiten aus Art. 45 Abs. 2 AEUV und Art. 7 der VO (EU) Nr. 492/2011 setzt voraus, dass § 16 Abs. 2 TV-L eine auf der Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer, die ein neues Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitnehmer nach einer gemäß der Protokollerklärung Nr. 3 zu § 16 Abs. 2 TV-L unschädlichen Unterbrechung begründen, und den Arbeitnehmern, die wie der Kläger von einem anderen, insbesondere privatrechtlichen Arbeitgeber in ein Arbeitsverhältnis zum beklagten Land gewechselt sind, enthält und diese unterschiedliche Behandlung nicht aus Gründen der öffentlichen Ordnung, der Sicherheit oder der Gesundheit (Art. 45 Abs. 3 AEUV) oder anderen zwingenden Gründe des Allgemeininteresses (vgl. EuGH, U. v. 05.12.2013 – C 514/12 – NZA 2014, 204, Rn 36) gerechtfertigt ist. Dabei muss die fragliche Regelung geeignet sein, das verfolgte Ziel zu erreichen und darf nicht über das hinaus gehen, was zur Erreichung des verfolgten Zieles erforderlich ist (vgl. EuGH, U. v. 18.12.2014 – C 523/13 – NZA 2015, 91, Rn 38 m. w. N.; ErfK/Wißmann, 16. Aufl. 2016, Art. 45 AEUV, Rn 50).
2. Die unterschiedliche Regelung in § 16 Abs. 2 Satz 2 und 3 TV-L für die beiden Arbeitnehmergruppen ist jedenfalls gerechtfertigt.
a) Die Tarifvertragsparteien haben im TV-L ein höchst differenziertes Konzept zur Wahrung von Besitzständen vereinbart (s. BAG, U. v. 23.09.2010 – 6 AZR 180/09 -, NZA-RR 2011, 104, Rn 15 unter Darlegung dieses Konzeptes). In diesen differenzierenden Regelungen haben die Tarifvertragsparteien festgelegt, welchen Besitzstand sie unter welchen Voraussetzungen in welchem Umfang als schützenswert ansehen. Bezogen auf die Stufenzuordnung soll der Besitzstand bis zu einer Unterbrechung des Arbeitsverhältnisses von längstens sechs Monaten fortbestehen, wenn die bisher erworbene Berufserfahrung auch für das neue Arbeitsverhältnis zum selben Arbeitgeber einschlägig und deshalb für die darin zu erbringende Tätigkeit nützlich ist. Nur mit einer solchen Regelung konnten die Tarifvertragsparteien sicherstellen, dass bei wiederholten Befristungen, wie sie im öffentlichen Dienst verbreitet und üblich sind, dieser Personenkreis überhaupt die Chance zum Stufenaufstieg erhält (s. BAG, U. v. 23.09.2010, aaO, Rn 16). Der in einem vorangegangenen Vertragsverhältnis mit demselben Arbeitgeber erworbene Besitzstand sollte nicht durch die kurzfristige rechtliche und tatsächliche Unterbrechung des Vertrags verloren gehen (so zutreffend LAG Berlin-Brandenburg, U. v. 06.10.2015 – 7 Sa 773/15, juris, Rn 34).
b) Diese besitzstandswahrenden Regelungen durften die Tarifvertragsparteien unter Beachtung ihrer Einschätzungsprärogative im Rahmen des ihnen zustehenden Gestaltungsspielraums in der Annahme treffen, dass die im vorigen Arbeitsverhältnis bei demselben Arbeitgeber erworbene Berufserfahrung den Beschäftigten befähigt, nach seiner
a) Wiedereinstellung die erworbene Berufserfahrung schneller in vollem Umfang im neuen Arbeitsverhältnis einzusetzen, als dies einem Arbeitnehmer möglich ist, der seine Berufserfahrung in den oft gänzlich andersartigen Strukturen bei anderen Arbeitnehmern, insbesondere der Privatwirtschaft, erworben hat (s. BAG, U. v. 29.09.2010, aaO, Rn 16 und 18). Außerdem und vor allem durften die Tarifvertragsparteien damit einen Anreiz zur Rückkehr und Verbleib solcher Beschäftigter im öffentlichen Dienst schaffen, die bereits einschlägige Berufserfahrung bei demselben öffentlichen Arbeitgeber erworben haben (s. BAG, U. v. 23.09.2010, aaO, Rn 18 unter Bezugnahme auf BVerfG, B. v. 28.11.1997 – 1 BvR 8/96 – NZA 1998, 318). Dabei ist zu beachten, dass die niedrigere Entwicklungsstufe und damit die zu zahlende Vergütung zunächst verhältnismäßig schnell ansteigt und sich eine etwaige Ungleichbehandlung ab Erreichen der Endentwicklungsstufe zwischen den beiden Beschäftigungsgruppen nicht mehr auswirkt, § 16 Abs. 3 TV-L (hierauf abstellend BVerfG, aaO). Insgesamt wird damit in einer nicht sachfremden Weise die Betriebstreue von Arbeitnehmern honoriert und dem berechtigten Interesse des öffentlichen Arbeitgebers entsprochen, sich die von ihm bereits ausgebildeten und eingearbeiteten Arbeitnehmer zu erhalten bzw. zurückzugewinnen (in diesem Sinne LAG Berlin-Brandenburg, U. v. 06.10.2015, aaO, Rn 34). Auch der EuGH schließt nicht aus, dass das Ziel der Bindung der Arbeitnehmer an ihren Arbeitgeber einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann (siehe EuGH, U. v. 05.12.2013, aaO, Rn 38; U. v. 30.09.2003 – C 224/01 -NJW 2003, 3539, Rn 83).
c) In dieser Zielsetzung, die Arbeitnehmer an ihren Vertragsarbeitgeber zu binden, unterscheidet sich die streitige Tarifregelung von der österreichischen Regelung, die zur Beurteilung des EuGH stand. Schon nach Ansicht des Landes Salzburg und der österreichischen Regierung sollte die dortige Regelung keine „Treuprämie“ darstellen, wie das vorlegende österreichische Gericht noch angenommen hatte (vgl. EuGH, U. v. 05.12.2013, aaO, Rn. 37). Im Hinblick auf die Berücksichtigung auch der Dienstzeiten, die ein Arbeitnehmer nicht bei dem Vertragsarbeitgeber (der Gemeinnützigen Salzburger L. Betriebs GmbH) als solchem, sondern beim Land Salzburg im Allgemeinen zurückgelegt hatte, schloss der EuGH, dass das zur Entscheidung stehende Entlohnungssystem die Mobilität innerhalb einer Gruppe verschiedener Arbeitgeber gewährleisten und nicht die Treue eines Arbeitnehmers gegenüber einem bestimmten Arbeitgeber honorieren wolle (EuGH, U. v. 05.12.2013, aaO, Rn 40). Darüber hinaus fehlte der österreichischen Regelung die Dynamik der unteren Entwicklungsstufen gemäß § 16 Abs. 3 TV-L, da die Vorrückung in die nächsthöhere Entlohnungsstufe statisch alle zwei Jahre vorgesehen war. Die Entscheidung des EuGH kann nach allem nicht für den hier streitigen Sachverhalt herangezogen werden.
III.
Die Berufung des Klägers ist unbegründet. Das Arbeitsgericht Augsburg hat zu Recht und mit zutreffender Begründung geurteilt, dass Zahlungsansprüche vor dem 31.12.2013 nach § 37 Abs. 1 Satz 1 TV-L verfallen sind.
1. Nach § 37 Abs. 1 Satz 1 TV-L verfallen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis, wenn sie nicht innerhalb einer Ausschlussfrist von sechs Monaten nach Fälligkeit schriftlich geltend gemacht werden. Die monatlichen Vergütungsansprüche des Klägers für den laufenden Kalendermonat wurden am letzten Tag des Monats gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2 TV-L fällig. Danach hätte der Kläger die Vergütungsansprüche ab Mai 2011 bis spätestens 30.11.2011 schriftlich gegenüber dem beklagten Land erheben müssen. Tatsächlich hat er sie erst mit Schreiben vom 26.06.2014 und damit rückwirkend nur bis einschließlich Januar 2014 geltend gemacht.
2. Der Kläger kann sich nicht darauf berufen, seine Ansprüche seien erst mit der Entscheidung des EuGH vom 05.12.2013 im Sinne der Ausschlussfristenregelung entstanden bzw. fällig geworden, weil er erst aufgrund dieser Entscheidung Kenntnis vom Bestehen seines Anspruchs erlangt habe. Nur besondere Umstände können dazu führen, dass Entstehens- und Fälligkeitszeitpunkte nicht übereinstimmen, nämlich wenn es dem Gläubiger praktisch unmöglich ist, den Anspruch mit seinem Entstehen geltend zu machen. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn die rechtsbegründenden Tatsachen in der Sphäre des Schuldners liegen und der Gläubiger es nicht durch schuldhaftes Zögern versäumt hat, sich Kenntnis von den Voraussetzungen zu schaffen, die er für die Geltend-machung benötigt (vgl. BAG, U. v. 13.12.2007 – 3 AZR 222/07 – NZA 2008, 478, Rn 19 m. w. N.).
3. Solche besonderen Umstände liegen nicht vor. Dem Kläger waren seine Vorbeschäftigungszeiten ebenso bekannt wie ihre Nichtberücksichtigung für die Zuordnung der Entwicklungsstufe in seiner Entgeltgruppe. Der Kläger hat lediglich die daraus rechtlich zu ziehenden Konsequenzen verkannt, weil er einen (möglichen) Verstoß des § 16 Abs. 2 TV-L gegen das Unionsrecht nicht erkannt hat. In diesem Irrtum ist er rechtlich nicht geschützt. Die genannten Umstände liegen nicht in der Sphäre des beklagten Landes. § 37 Abs. 1 Satz 1 TV-L erfordert zudem lediglich eine einmalige schriftliche Geltendmachung, die dem Kläger ohne Weiteres möglich und zumutbar war.
IV.
Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen, §§ 91, 97 ZPO.
V.
Wegen grundsätzlicher Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage war die Revision für Ansprüche ab dem 01.01.2014 gemäß § 72 Abs. 1 Nr. 1 ArbGG zuzulassen.

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