Aktenzeichen 7 AZR 443/09
§ 242 BGB
§ 21 Abs 1 BEEG
Anh Rahmenvereinbarung § 5 Nr 1 EGRL 70/99
Leitsatz
Die Gerichte dürfen sich bei der Befristungskontrolle nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG nicht auf die Prüfung des geltend gemachten Sachgrunds der Vertretung beschränken. Sie sind vielmehr aus unionsrechtlichen Gründen verpflichtet, alle Umstände des Einzelfalls und dabei namentlich die Gesamtdauer und die Zahl der mit derselben Person zur Verrichtung der gleichen Arbeit geschlossenen aufeinanderfolgenden befristeten Verträge zu berücksichtigen, um auszuschließen, dass Arbeitgeber missbräuchlich auf befristete Arbeitsverträge zurückgreifen. Diese zusätzliche Prüfung ist im deutschen Recht nach den Grundsätzen des institutionellen Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) vorzunehmen.
Verfahrensgang
vorgehend ArbG Köln, 28. Mai 2008, Az: 12 Ca 571/08, Urteilvorgehend Landesarbeitsgericht Köln, 15. Mai 2009, Az: 4 Sa 877/08, Urteil
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Köln vom 15. Mai 2009 – 4 Sa 877/08 – aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
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Die Parteien streiten über die Befristung eines Arbeitsvertrags.
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Die Klägerin war beim beklagten Land als Justizangestellte in der Zeit vom 2. Juli 1996 bis zum 31. Dezember 2007 aufgrund von insgesamt 13 befristeten Arbeitsverträgen beschäftigt. Zuvor hatte sie am Amtsgerichts Köln vom 1. September 1994 bis zum 2. Juli 1996 eine Ausbildung absolviert. Dort wurde sie anschließend durchgehend als Justizangestellte im Geschäftsstellenbereich der Zivilprozessabteilung eingesetzt. Die Befristungen dienten mit einer Ausnahme der Vertretung vorübergehend beurlaubter Justizangestellter.
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Nach § 1 des letzten zwischen den Parteien am 12. Dezember 2006 für die Zeit vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2007 geschlossenen Arbeitsvertrags wurde die Klägerin „zur Vertretung der Mitarbeiterin K, die in der Zeit vom 1. Januar 2007 bis zum 31. Dezember 2007 Sonderurlaub erhalten hat“, befristet weiterbeschäftigt. Frau K, die seit 1980 beim Amtsgericht Köln als Vollzeitkraft angestellt ist, nahm nach der Geburt ihrer beiden Kinder ab 1995 Erziehungsurlaub in Anspruch; anschließend bewilligte ihr das beklagte Land nach Maßgabe der einschlägigen tariflichen Bestimmungen Sonderurlaub ohne Bezüge, zunächst bis zum 31. Dezember 2002, sodann jeweils jährlich, zuletzt bis zum 31. Dezember 2007. Nach dem mit Frau K geschlossenen Arbeitsvertrag bestimmt sich ihr Arbeitsverhältnis nach dem BAT und den diesen ersetzenden Tarifverträgen. Der Präsident des Amtsgerichts Köln unterrichtete den Personalrat unter dem 29. November 2006 über die mit der Klägerin bis zum 31. Dezember 2007 beabsichtigte befristete Vertragsverlängerung und gab als Grund die Vertretung der Mitarbeiterin K an. Der Personalrat verlangte keine weiteren Informationen und stimmte am 30. November 2006 der beabsichtigten Maßnahme zu. Nach ihrem Sonderurlaub wurde Frau K ab dem 1. Januar 2008 mit 75 vH einer Vollzeitstelle in der Haftabteilung des Amtsgerichts eingesetzt.
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Die Klägerin hat mit der Befristungskontrollklage vom 18. Januar 2008 die Auffassung vertreten, die zum 31. Dezember 2007 vereinbarte Befristung sei nicht durch den Sachgrund der Vertretung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG gerechtfertigt. Bei insgesamt 13 befristeten, sich über einen Zeitraum von über elf Jahren jeweils unmittelbar aneinander anschließenden Arbeitsverträgen könne nicht mehr von einem Vertretungsfall im Sinne dieser Vorschrift ausgegangen werden. Eine Auslegung und Anwendung des nationalen Rechts, nach der eine derartige „Kettenbefristung“ als wirksam erachtet werde, befinde sich nicht mehr im Einklang mit § 5 Nr. 1 der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 (im Folgenden: Rahmenvereinbarung). Die Befristung sei außerdem wegen Verstoßes gegen das LPVG NW unwirksam.
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Die Klägerin hat beantragt
festzustellen, dass das zwischen den Parteien begründete Arbeitsverhältnis nicht aufgrund der Befristung im Vertrag vom 12. Dezember 2006 am 31. Dezember 2007 beendet worden ist.
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Das beklagte Land hat beantragt, die Klage abzuweisen. Die letzte Befristung sei nach § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG durch den Sachgrund der Vertretung gerechtfertigt. Dem stehe ein etwa beim Amtsgericht Köln vorhandener dauerhafter Vertretungsbedarf nicht entgegen. Jeder Vertretungsfall müsse befristungsrechtlich isoliert beurteilt werden. Selbst wenn ein Vertretungsbedarf immer wieder auftrete, müssten größere Unternehmen oder Dienststellen keine ständige Personalreserve bilden. Soweit der Gerichtshof der Europäischen Union (im Folgenden: Gerichtshof oder EuGH) in der Vorabentscheidung vom 26. Januar 2012 (- C-586/10 – [Kücük] Rn. 27
, AP Richtlinie 99/70/EG Nr. 9 = EzA TzBfG § 14 Nr. 8
0) die nationalen Gerichte nach § 5 Nr. 1 Buchst. a der Rahmenvereinbarung zu der Missbrauchskontrolle auch einer Sachgrundbefristung anhalte, habe die Klägerin keine besonderen Umstände für die Annahme eines dem beklagten Land anzulastenden Rechtsmissbrauchs vorgetragen. Allein die Anzahl und Dauer der Befristungen reiche dafür so wenig aus wie die persönliche und familiäre Situation der Klägerin.
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Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin die Befristungskontrollklage weiter. Das beklagte Land beantragt die Zurückweisung der Revision. Der Senat hat den Gerichtshof mit Beschluss vom 17. November 2010 (- 7 AZR 443/09 (A) – BAGE 136, 168) um Vorabentscheidung gemäß Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) über folgende Fragen ersucht:
1.
Verstößt es gegen § 5 Nr. 1 der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999, eine nationale Bestimmung, die wie § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Teilzeit- und Befristungsgesetz (TzBfG) vorsieht, dass ein sachlicher Grund zur wiederholten Befristung eines Arbeitsvertrags vorliegt, wenn der Arbeitnehmer zur Vertretung eines anderen Arbeitnehmers beschäftigt wird, dahin auszulegen und anzuwenden, dass der sachliche Grund auch im Falle eines ständigen Vertretungsbedarfs gegeben ist, obwohl der Vertretungsbedarf auch gedeckt werden könnte, wenn der betreffende Arbeitnehmer unbefristet eingestellt und ihm die jeweilige Vertretung eines der regelmäßig ausfallenden Arbeitnehmer übertragen würde, der Arbeitgeber sich aber vorbehält, jeweils neu zu entscheiden, wie er auf den konkreten Ausfall von Arbeitnehmern reagiert?
2.
Falls der Gerichtshof die Frage zu 1. bejaht:
Verstößt die in der Frage zu 1. beschriebene Auslegung und Anwendung einer nationalen Bestimmung wie derjenigen des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 TzBfG unter den in der Frage zu 1. beschriebenen Umständen auch dann gegen § 5 Nr. 1 der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999, wenn der nationale Gesetzgeber mit dem in einer nationalen Bestimmung wie derjenigen des § 21 Abs. 1 Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz (BEEG) geregelten, die Befristung eines Arbeitsverhältnisses rechtfertigenden Sachgrund der Vertretung jedenfalls auch das sozialpolitische Ziel verfolgt, Arbeitgebern die Bewilligung sowie Arbeitnehmern die Inanspruchnahme von Sonderurlaub, etwa aus Gründen des Mutterschutzes oder der Erziehung, zu erleichtern?
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Der Gerichtshof hat mit Urteil vom 26. Januar 2012 (- C-586/10 – [Kücük] AP Richtlinie 99/70/EG Nr. 9 =
EzA TzBfG § 14 Nr. 8
0
) erkannt:
„Paragraf 5 Nr. 1 Buchst. a der am 18. März 1999 geschlossenen Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverhältnisse im Anhang der Richtlinie 1999/70/EG des Rates vom 28. Juni 1999 zu der EGB-UNICE-CEEP-Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge ist dahin auszulegen, dass die Anknüpfung an einen vorübergehenden Bedarf an Vertretungskräften in nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden grundsätzlich einen sachlichen Grund im Sinne dieser Bestimmung darstellen kann. Aus dem bloßen Umstand, dass ein Arbeitgeber gezwungen sein mag, wiederholt oder sogar dauerhaft auf befristete Vertretungen zurückzugreifen, und dass diese Vertretungen auch durch die Einstellung von Arbeitnehmern mit unbefristeten Arbeitsverträgen gedeckt werden könnten, folgt weder, dass kein sachlicher Grund im Sinne von Paragraf 5 Nr. 1 Buchst. a der genannten Rahmenvereinbarung gegeben ist, noch das Vorliegen eines Missbrauchs im Sinne dieser Bestimmung. Bei der Beurteilung der Frage, ob die Verlängerung befristeter Arbeitsverträge oder -verhältnisse durch einen solchen sachlichen Grund gerechtfertigt ist, müssen die Behörden der Mitgliedstaaten jedoch im Rahmen ihrer jeweiligen Zuständigkeiten alle Umstände des Falles einschließlich der Zahl und der Gesamtdauer der in der Vergangenheit mit demselben Arbeitgeber geschlossenen befristeten Arbeitsverträge oder -verhältnisse berücksichtigen.“
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Die Parteien halten auch nach der Vorabentscheidung des Gerichtshofs an ihren Anträgen fest.