Aktenzeichen 31 Wx 321/15
Leitsatz
1. Eine Aussetzung entsprechend § 21 FamFG ist zulässig, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits von der Beantwortung einer Rechtsfrage abhängt, die das Gericht dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV vorlegen müsste und die bereits Gegenstand eines anderen Vorabentscheidungsersuchens im Rahmen eines anderen Verfahrens ist. (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Entscheidung des hiesigen Verfahrens hängt maßgeblich von der Beantwortung der dem EuGH vom Kammergericht vorgelegten Frage ab, ob es mit Art. 18 AEUV (Diskriminierungsverbot) und Art. 45 AEUV (Freizügigkeit der Arbeitnehmer) vereinbar ist, dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern einräumt, die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind, so dass diese vorgreiflich iSd § 21 FamFG ist. (redaktioneller Leitsatz)
3. Der Senat legt die hier entscheidungserheblichen Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes und des Betriebsverfassungsgesetzes mit der wohl herrschenden Meinung dahin aus, dass nur in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer wählen können, als Delegierte wählbar sind und Aufsichtsratsmitglieder der Antragsgegnerin werden können. Eine andere Auslegung wäre mit den Grenzen des Souveränitätsanspruchs nationaler Gesetzgebung nicht vereinbar. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
Das Verfahren wird bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union über die in dem Verfahren C-566/15 vom Kammergericht Berlin mit Beschluss vom 16.10.2015 (Az. 14 W 89/15) vorgelegte Frage wegen Vorgreiflichkeit gemäß § 99 Abs. 1 AktG i.V.m. § 21 FamFG ausgesetzt.
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Rahmen eines Statusverfahrens nach §§ 98, 99 AktG darüber, ob der Aufsichtsrat der Antragsgegnerin richtig zusammengesetzt ist. Die Antragsgegnerin ist die Muttergesellschaft eines internationalen Handels- und Dienstleistungskonzerns mit den 31 Wx 321/15 – Seite 2 Kernsegmenten Agrar, Energie und Bau. Sie beschäftigte zum 30.9.2014 in Deutschland 11.900, in Europa 15.361 Arbeitnehmer. Der Aufsichtsrat besteht aus 16 Mitgliedern, von denen die Hälfte die Anteilseigner und die andere Hälfte die Arbeitnehmer stellen.
Der Antragsteller begehrt die Feststellung, dass der Aufsichtsrat nicht nach § 7 Abs. 1 Nr. 2, § 10 Mitbestimmungsgesetz (MitbestG) iVm §§ 7, 8 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) paritätisch, sondern gemäß § 96 Abs. 1 Var. 6 AktG nur aus Aufsichtsratsmitgliedern der Aktionäre zusammenzusetzen sei. Der Antragsteller begründet den Antrag mit der Auffassung, die Vorschriften des deutschen Mitbestimmungsrechts über die Wahl der Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsrat verstießen gegen Unionsrecht, namentlich gegen das Diskriminierungsverbot gemäß Art. 18 AEUV und gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 45 AEUV, weil sie das aktive und passive Wahlrecht nur den deutschen Belegschaften zugestehen, nicht aber auch den Belegschaften in anderen Staaten der Europäischen Union. Aufgrund ihrer Unionsrechtswidrigkeit dürften die geltenden Mitbestimmungsregeln nicht mehr angewandt werden.
Gegen den zurückweisenden Beschluss des Landgerichts München I hat der Antragsteller Beschwerde eingelegt.
Mit Beschluss vom 16.10.2015 (Az. 14 W 89/15) hat das Kammergericht Berlin in einem vergleichbaren Fall dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) gemäß Art. 267 AEUV folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist es mit Art. 18 AEUV (Diskriminierungsverbot) und Art. 45 AEUV (Freizügigkeit der Arbeitnehmer) vereinbar, dass ein Mitgliedstaat das aktive und passive Wahlrecht für die Vertreter der Arbeitnehmer in das Aufsichtsorgan eines Unternehmens nur solchen Arbeitnehmern einräumt, die in Betrieben des Unternehmens oder in Konzernunternehmen im Inland beschäftigt sind?
Der Antragsteller hat mit Schriftsatz vom 7.12.2015 die Aussetzung des Verfahrens nach § 21 FamFG im Hinblick auf jenes Vorlageverfahren beim EuGH beantragt.
Die Antragsgegnerin spricht sich gegen eine Vorlage an den EuGH und gegen eine Aussetzung des Verfahrens im Hinblick auf jenes Vorlageverfahren aus. Einer Vorlage bedürfe es nicht, weil die richtige Auslegung der Vorschriften des Gemeinschaftsrechts im vorliegenden Fall offenkundig sei, die Vorschriften des deutschen Mitbestimmungsrechtes jedenfalls europarechtskonform ausgelegt werden könnten und schließlich die Frage nicht entscheidungserheblich sei. Für eine Aussetzung fehle die Vorgreiflichkeit bzw. Entscheidungserheblichkeit, weil die Vorschriften des Mitbestimmungsrechtes offenkundig mit Unionsrecht vereinbar oder jedenfalls unionsrechtskonform anwendbar seien.
II.
Das Verfahren ist nach § 99 Abs. 1 AktG i.V.m. § 21 FamFG analog wegen Vorgreiflichkeit der vom Kammergericht in seinem Vorlagebeschluss an den EuGH gestellten Frage auszusetzen.
1. Eine Aussetzung entsprechend § 21 FamFG ist zulässig, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits von der Beantwortung einer Rechtsfrage abhängt, die das Gericht dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV vorlegen müsste und die bereits Gegenstand eines anderen Vorabentscheidungsersuchens im Rahmen eines anderen Verfahrens ist (vgl. BGH, IR 2012, 111 Rn. 4 ff. m.w.N.; OLG Frankfurt, AG 2016, 793 Rn. 6 ff.).
2. Die Entscheidung des hiesigen Verfahrens hängt maßgeblich von der Beantwortung der dem EuGH vom Kammergericht vorgelegten Frage ab, so dass diese vorgreiflich i.S.d. § 21 FamFG ist. Ob die Beschränkung des aktiven und passiven Wahlrechts auf im Inland tätige Arbeitnehmer einer Aktiengesellschaft gegen Unionsrecht verstößt, ist für das vorliegende Statusverfahren entscheidungserheblich.
a) Das vorliegende Statusverfahren ist nicht bereits unzulässig. Der Antrag ist darauf gerichtet festzustellen, dass der Aufsichtsrat deshalb nicht richtig zusammen gesetzt sei, weil er wegen Unionsrechtsverstoßes der maßgeblichen deutschen Mitbestimmungsvorschriften nach § 96 Abs. 1 Var. 6 AktG nichtparitätisch allein aus Anteilseignern zu besetzen wäre. Es handelt sich um einen Statusstreit über die Zusammensetzung des Aufsichtsrats (Fischer, NZG 2014, 737, 738; OLG Frankfurt, ZIP 2016, 2223 Rn. 10; im Ergebnis auch KG, ZIP 2015, 2172 Rn. 30; vgl. Oetker in Erfurter Kommentar, 17. Aufl. § 99 AktG Rn. 2; Drygala in Schmidt/Lutter, AktG, 3. Aufl., § 96 Rn. 30). Anders als im vom OLG Zweibrücken entschiedenen ähnlichen Verfahren (ZIP 2014, 1224) war der Antrag hier auch von Anfang an dahin gerichtet, die richtige Zusammensetzung sei eine nichtparitätische, und nicht etwa dahin, wie offenbar in jenem Verfahren, die acht Aufsichtsratsmitglieder aus der Arbeitnehmerschaft seien fehlerhaft gewählt, weil auch die EU-ausländischen Belegschaften hätten beteiligt werden müssen. Es geht deshalb im vorliegenden Verfahren nicht allein um die Frage, wer das aktive und passive Wahlrecht für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat hat, sondern ob es Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat geben darf.
b) Der Senat legt die hier entscheidungserheblichen Vorschriften des Mitbestimmungsgesetzes und des Betriebsverfassungsgesetzes mit der wohl herrschenden Meinung (KG, ZIP 2015, 2172 Rn. 19 mit Nachweisen auch zur Gegenansicht; Fischer, NZG 2014, 737, 738; Hellwig/Behme, AG 2009, 261, 266 f.) dahin aus, dass nur in Deutschland beschäftigte Arbeitnehmer die Aufsichtsratsmitglieder der Arbeitnehmer wählen können, als Delegierte wählbar sind und Aufsichtsratsmitglieder der Antragsgegnerin werden können. Eine andere Auslegung wäre mit den Grenzen des Souveränitätsanspruchs nationaler Gesetzgebung nicht vereinbar.
c) Der Senat hält es – in Übereinstimmung mit dem KG im Vorlageverfahren (ZIP 2015, 2172 Rn. 31 ff.) und dem OLG Frankfurt in einem ähnlich gelagerten Statusverfahren (AG 2016, 793 Rn. 10) – entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht für offenkundig ausgeschlossen, dass die einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften nach diesem Verständnis der Beschränkung auf inländische Arbeitnehmer mit den unionsrechtlichen Grundsätzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit und des Diskriminierungsverbots unvereinbar sind. Hierfür gibt es zahlreiche Stimmen im deutschen Schrifttum (siehe nur die Zitate in KG, ZIP 2015, 2172 Rn. 27). Die Frage ist auch nicht bereits vom EuGH geklärt. Kommt es daher durchaus in Betracht, dass der EuGH die Reichweite der Arbeitnehmerfreizügigkeit und/oder des Diskriminierungsverbots so weit zieht, dass die hier einschlägigen Mitbestimmungsvorschriften -auf der Basis der Auslegung durch den Senat (und der herrschenden Meinung) – damit nicht vereinbar wären, ist die Frage dem EuGH zur Klärung vorzulegen. Denn die Auslegung des Unionsrechts ist Aufgabe des EuGH und nicht des nationalen Gerichts. Das gilt auch für ein zur freiwilligen Gerichtsbarkeit gehörendes unternehmensrechtliches Statusverfahren nach §§ 98, 99 AktG (Wißmann in Erfurter Kommentar, 17. Aufl., Art. 267 AEUV Rn. 18).
d) Der Ausgang des vorliegenden Verfahrens hängt auf der Grundlage der Rechtsauffassung des Senats von der Beantwortung der Vorlagefrage ab, weil die maßgebenden Vorschriften des Mitbestimmungsrechts ggfs wegen Unionsrechtsverstoßes entweder nicht anwendbar wären und damit der ansonsten erfolglose Antrag der Antragsteller Erfolg hätte oder weiter zu prüfen wäre, ob und ggfs mit welcher Folge eine unionsrechtskonforme Auslegung in Betracht kommt.
Die Frage der Erforderlichkeit und Entscheidungserheblichkeit der Vorlage bzw. Vorlagefrage beantwortet das nationale Gericht auf der Grundlage der von ihm vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Vorschriften des nationalen Rechts (EuGH, NZA 2009, 1327 Rn. 38; Wißmann in Erfurter Kommentar, 17. Aufl. Art. 267 AEUV Rn. 20). Nur bei offensichtlich fehlendem Zusammenhang zwischen der Vorlagefrage und den Gegebenheiten des Ausgangsverfahrens wäre die Vorlage unzulässig (vgl. EuGH, NZA 2015, 153 Rn. 48).
Die Frage, ob und wie eine unionsrechtskonforme Auslegung der einschlägigen mitbestimmungsrechtlichen Vorschriften in Betracht kommt, ist im derzeitigen Verfahrensstadium, in dem gerade ungeklärt ist, ob sie nach der Auslegung des Senats gegen Unionsrecht verstießen und es deshalb der Prüfung einer unionsrechtskonformen Auslegung bedürfte, unerheblich.
3. Die Aussetzung nach § 21 FamFG ist mithin verfahrensökonomisch angebracht, weil der Senat die Frage ansonsten aus den vorstehend ausgeführten Gründen selbst dem EuGH vorlegen müsste.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde nach § 70 Abs. 2 FamFG liegen nicht vor.