Aktenzeichen 6 Sa 937/15
TVG § 1
RL 2003/88/EG Art. 7
MTV für die gewerblichen Arbeitnehmer in der Papier, Pappe und Kunststoff verarbeitenden Industrie § 15
Leitsatz
1. § 15 MTV für die gewerblichen Arbeitnehmer in der Papier, Pappe und Kunststoff verarbeitenden Industrie enthält ein eigenes Fristenregime im Bereich des Urlaubs, weswegen von einer Differenzierung zwischen gesetzlichem und tariflichem Urlaub auszugehen ist. Tariflicher Urlaub, der krankheitsbedingt nicht bis 31. März des auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres geltend gemacht ist, verfällt mit Ablauf dieses Datums. (amtlicher Leitsatz)
2. § 7 Abs. 3 BUrlG ist nach den Vorgaben von Art. 7 der Arbeitszeitrichtlinie in unionsrechtskonformer Weise dahingehend auszulegen, dass der gesetzliche Urlaub nicht vor Ablauf von 15 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums arbeitsunfähig erkrankt war (Anschluss an BAG BeckRS 2012, 73045 im Anschluss an EuGH BeckRS 2011, 81665). (red. LS Alke Kayser)
3. Die gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG lässt das Recht der Tarifvertragsparteien unberührt, über den gesetzlichen Mindesturlaub hinausgehende Urlaubsansprüche frei zu regeln; Gemeinschaftsrecht steht daher einer tariflichen Befristung des Mehrurlaubs nicht entgegen (Anschluss an BAG BeckRS 2012, 72249 Rn. 10). (red. LS Alke Kayser)
Verfahrensgang
5 Ca 749/15 2015-09-24 Urt ARBGKEMPTEN ArbG Kempten
Tenor
I.
Auf die Berufung der Beklagten wird das Endurteil des Arbeitsgerichts Kempten vom 24.09.2015 – 5 Ca 749/15 abgeändert und die Klage abgewiesen.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
Die statthafte Berufung hat in der Sache Erfolg.
I. Die Berufung ist zulässig.
Sie ist nach § 64 Abs. 1, 2b ArbGG statthaft sowie in rechter Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 519 Abs. 2, § 520 Abs. 3 ZPO i. V. m. § 66 Abs. 1 Sätze 1, 2, 5 ArbGG, § 222 ZPO).
II. In der Sache hat die Berufung Erfolg.
Der Kläger kann keine Übertragung des tariflichen Mehrurlaubs aus dem Jahr 2014, der wegen seiner bis in den April 2015 angedauerten Krankheit nicht mehr hatte genommen werden können, auf das Jahr 2015 verlangen. Denn der Tarifvertrag enthält hinreichende Anhaltspunkte für ein eigenständiges Fristenregime im Bereich des Urlaubs, welches der Behandlung des tariflichen Mehrurlaubs wie den gesetzlichen Mindesturlaub ausschließt.
1. Der Kläger hatte bei seiner Arbeitsverpflichtung an 5 Tagen/Woche zu Beginn des Jahres 2014 einen Anspruch auf einen gesetzlichen Mindesturlaub von 20 Arbeitstagen (§ 1, § 3 Abs. 1 BUrlG) erworben. Diese 20 Tage waren durch Urlaubsnahme erfüllt (19 Tage; § 362 BGB) bzw. durch Teilvergleich vom 24. März 2015 bis längstens 31. März 2016 übertragen (1 Tag).
a. Der offene gesetzliche Mindesturlaub war bis 31. März 2016 zu übertragen, wie das Arbeitsgericht zutreffend ausführt. Der aus dem Jahr 2014 stammende gesetzliche Urlaub bestand unbeschadet des Umstands, dass der Übertragungszeitraum des § 7 Abs. 3 BUrlG am 31. März 2015 endete, fort. Nach den Vorgaben des Art. 7 RL 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. Nov. 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (Arbeitszeitrichtlinie) ist § 7 Abs. 3 BUrlG in unionsrechtskonform Weise dahin gehend auszulegen, dass der gesetzliche Urlaub nicht vor Ablauf von 15 Monaten nach dem Ende des Urlaubsjahres erlischt, wenn der Arbeitnehmer bis zum Ende des Urlaubsjahres und/oder des Übertragungszeitraums arbeitsunfähig erkrankt war (BAG v. 20. 1. 2015 – 9 AZR 585/13, NZARR 2015, 399, Rz. 26; BAG v. 7. 8. 2012 – 9 AZR 353/10, NZA 2012, 1216, Rz. 23 ff.).
b. Hierbei hatte es sich nur mehr um 1 Tag gehandelt. Denn der Kläger hatte zunächst den gesetzlichen Mindesturlaub verbraucht. Zwar hatten die Vertragsparteien ersichtlich keine Tilgungsbestimmung getroffen, ob zunächst der gesetzliche oder der tarifliche Urlaub hatte eingebracht werden sollen (§ 366 Abs. 1 BGB). Allerdings ist unter den Parteien nicht streitig, dass der gesetzliche Mindesturlaub zunächst verbraucht worden war, weswegen hier davon auszugehen ist, dass nur mehr der tarifliche Mehrurlaub aus dem Jahr 2014 offen gewesen war.
2. Allerdings besteht kein Anspruch auf Übertragung des tariflichen Mehrurlaubs von offenen 10 Arbeitstagen auf das Jahr 2015 (bzw. bis längstens 31. März 2016). Denn die Tarifvertragsparteien haben in § 15 Abs. 1 MTV eine eigenständige Urlaubsregelung, insbesondere auch hinsichtlich der Urlausbefristung und des Urlaubsverfalls, getroffen, die einen „Gleichlauf von gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub ausschließt.
a. Zu dem gesetzlichen Mindesturlaub im Jahr 2014 (vgl. oben II 1) zu Beginn des Jahres 2014 traten 10 Arbeitstage tariflichen Mehrurlaubs hinzu. Diese waren aber nach § 15 Abs. 1 Nr. 7 Satz 3 MTV mit Ablauf des 31. März 2015 verfallen und können vom Kläger nicht mehr beansprucht werden. Denn zwischen dem gesetzlichen Urlaubsanspruch und dem tariflichen Mehrurlaub besteht angesichts einer eigenständigen Urlaubsregelung im MTV kein Gleichlauf.
aa. Der Kläger hatte im Jahr 2014 ab Jahresbeginn Anspruch auf weitere 10 Arbeitstage tariflichen Mehrurlaubs. Denn die Vorschriften des MTV fanden kraft einzelvertraglicher Vereinbarung auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung (vgl. Arbeitsvertrag vom 31. Okt.1975, vorletzter Absatz, Anlage K1, Bl. 7 d. A).
bb. Der Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub war, nachdem ihn der Kläger im Jahr 2014 infolge arbeitsunfähiger Erkrankung nicht mehr hatte einbringen können, mit Ablauf des 31. März 2015 untergegangen (§ 17 Abs. 1 Nr. 7 Satz 3 MTV). Zwischen dem Anspruch auf gesetzlichen Mindesturlaub und dem Anspruch auf tariflichen Mehrurlaub nach den Vorschriften des MTV besteht kein Gleichlauf, der zur Folge hätte, dass der Anspruch auf Mehrurlaub der 15 Monatsrechtsprechung des Senats (hierzu BAG v. 7. 8. 2012, a. a. O., Rz. 23 ff.) unterfiele. Die Verfallsregelungen des § 15 Abs. 1 MTV unterscheiden zwar nicht expressis verbis zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub. Die Tarifbestimmungen enthalten jedoch insgesamt abweichende Regelungen zur Übertragung und zum Verfall des Urlaubsanspruches gegenüber den gesetzlichen Regelungen im Bundesurlaubsgesetz, wie sich aus der Auslegung der maßgeblichen Tarifbestimmungen ergibt.
b. Vorliegend haben die Tarifvertragsparteien keinen Gleichlauf der tariflichen und der gesetzlichen Urlaubsregelungen beabsichtigt. Vielmehr haben sie, wie sich aus den getroffenen Urlaubsregelungen in § 15 MTV ergibt, einem eigenen Fristenregime unter- stellt.
aa. Die Auslegung des § 7 Abs. 3 BUrlG durch das Bundesarbeitsgericht aufgrund der unionsrechtlichen Vorgaben betrifft allein den gesetzlichen Mindestjahresurlaub von vier Wochen. Die Tarifvertragsparteien können hingegen darüber hinausgehende Urlaubsansprüche frei regeln (BAG v. 7. 8. 2012, a. a. O., Rz. 29 unter Hinweis auf EuGH v. 3. 5. 2012 Rs C337/10, AP Richtlinie 2003/88/EG Nr. 8 (Neidel), Rz. 34 ff.). Deren Regelungsmacht umfasst auch die Befristung des Mehrurlaubs; dem steht Unionsrecht nicht entgegen (BAG v. 22. 5. 2012 – 9 AZR 575/10, NZARR 2013, 48, Rz. 10; BAG v. 7. 8. 2012, a. a. O.; Rz. 29).
bb. Von dieser Regelungsmacht haben die Tarifvertragsparteien vorliegend Gebrauch gemacht.
(1) Zur Feststellung des Willens der Tarifvertragsparteien, den Mehrurlaub einem eigenen, von dem des Mindesturlaubs abweichenden Fristenregime zu unterstellen, müssen deutliche Anhaltspunkte vorliegen. Im Falle deren Fehlens ist von einem Gleichlauf des gesetzlichen Urlaubsanspruchs und des Anspruchs auf tariflichen Mehrurlaub auszugehen. Ein solcher Gleichlauf ist jedoch nicht gewollt, wenn die Tarifvertragsparteien entweder bei der Befristung und Übertragung bzw. beim Verfall des Urlaubs zwischen gesetzlichem Mindesturlaub und tariflichem Mehrurlaub unterschieden oder sich vom gesetzlichen Fristenregime gelöst und eigenständige, vom Bundesurlaubsgesetz abweichende Regelungen zur Befristung und Übertragung bzw. zum Verfall des Urlaubsanspruchs getroffen haben (BAG v. 22. 5. 2012 [Rz. 12], 7. 8. 2012 [Rz. 30], jeweils a. a. O.).
(2) Im hier zugrunde liegenden Tarifvertrag haben die Tarifvertragsparteien zwar nicht (durchgängig) zwischen dem gesetzlichen Mindesturlaub und tariflichen Mehrurlaub unterschieden; auch beim Urlaubsverfall ist keine ausdrückliche Unterscheidung getroffen. Allein in § 15 Abs. 1 Nr. 3 MTV, bei Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung, weisen sie ausdrücklich darauf hin, dass dann der tarifliche Mehrurlaub entfällt.
(3) Allerdings ist der tariflichen Urlaubsregelung in ihrer Gesamtheit zu entnehmen, dass die Tarifvertragsparteien eine eigene, vom Gesetz abweichende Urlaubsregelung hatten schaffen wollen. Dies betrifft nicht nur die von der Beklagten erstinstanzlich angeführten, vom Gesetz abweichenden Punkte (Schriftsatz vom 21. Mai 2015, Seite 3 ff, Bl. 22 ff., 24 ff. d. A.), sondern auch die Regelung in § 15 Abs. 1 Nr. 7 MTV im Besonderen.
Die Tarifvertragsparteien sehen in ihrer Urlaubsregelung in § 15 MTV – anders als im Gesetz – die zusammenhängende Gewährung von 3 und nicht lediglich 2 Wochen Urlaub vor (§ 15 Abs. 1 Nr. 1 MTV); im Ein und Austrittsjahr regeln sie entgegen § 5 Abs. 1 lit. c BUrlG eine Zwölftelung des Urlaubsanspruches pro Kalendermonat (§ 15 Abs. 2 Nr. 2 MTV), wobei der Tarifvertrag, anders als nach § 5 Abs. 1 BUrlG, nicht auf einen Monat, sondern auf einen Kalendermonat abstellt, der zudem bereits dann als voll gilt, wenn das Arbeitsverhältnis in ihm länger als 2 Wochen bestanden hatte (§ 15 Abs. 1 Nr. 2 Satz 2 MTV) . Fernerhin gewährt § 15 Abs. 1 Unterabs. 3 MTV einem gewerblichen Arbeitnehmer, abweichend von § 4 BUrlG, bei Eintritt im 2. Kalenderhalbjahr bereits ab 1. Dezember einen Anspruch auf Urlaubserteilung. Im Gegensatz zu § 4 BUrlG, der lediglich auf den Bestand des Arbeitsverhältnisses abstellt, sehen die Tarifpartner eine Kürzung des Urlaubsanspruches auch bei arbeitsunfähiger Erkrankung von mehr als 6 Monaten für jeden weiteren Monat der Arbeitunfähigkeit vor (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 MTV). Abweichend von § 9 BUrlG muss im Falle einer arbeitsunfähigen Erkrankung während des Urlaubes zunächst nach dem Urlaubsende eine Arbeitsleistung erbracht werden (§ 15 Abs. 1 Nr. 5 MTV). § 15 Abs. 2 Nr. 1 MTV erwähnt den tariflichen Jahresurlaub von 30 Tagen, der in seinem Umfang vom gesetzlichen Anspruch nach § 3 Abs. 1 BUrlG abweicht. Zudem stellt der Tarifvertrag in § 15 Abs. 2 Nr. 3 MTV, im Gegensatz zur gesetzlichen 6TageWoche, auf eine 5TageWoche zur Urlaubsberechnung ab. Allerdings verweist § 15 Abs. 2 Nr. 2 MTV hinsichtlich des Zusatzurlaubes für Schwerbehinderte auf die gesetzlichen Bestimmungen.
In Betreff der Urlaubsübertragung und des Urlaubsverfalls sieht der Tarifvertrag in § 15 Abs. 1 Nr. 7 Satz 2 MTV eine nur „ausnahmsweise“ Übertragung auf das nächste Kalenderjahr bis 31. März vor. Nach Satz 3 dieser Bestimmung muss ein übertragener Urlaub bis 31. März des Folgejahres geltend gemacht sein, während das Bundesarbeitsgericht § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG dahingehend versteht, dass der Urlaub bis 31. März des Folgejahres vollständig eingebracht sein muss (BAG v. 21. 1. 1997 – 9 AZR 791/95, NZA 1997, 889, unter I 1 c der Gründe; Leinemann/Linck, BUrlG 2. Aufl., § 7 Rz. 126, 128 m. w. N.).
Mag die tariflich vorgesehene nur „ausnahmsweise“ Übertragung im Wege der Auslegung noch im Sinn der gesetzlichen Übertragungsvoraussetzungen aus betrieblichen oder persönlichen – etwa: krankheitsbedingten – Gründen verstanden werden können, so gilt dies nicht mehr für Satz 3 von § 15 Abs. 1 Nr. 7 MTV. Hier ist, entgegen der Annahme des Erstgerichts, eine deutliche Abweichung der tariflichen Regelung von der Gesetzeslage nach dem Verständnis des Bundesarbeitsgerichts gegeben. Es ist danach gerade nicht so, dass § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG und § 15 Abs. 1 Nr. 7 Satz 3 MTV den gleichen Regelungsgehalt besitzen.
(4) Angesichts der Zahl der Abweichungen der tariflichen Urlaubsregelung von der im Bundesurlaubsgesetz ist von einem eigenständigen Fristenregime im Tarifvertrag auszugehen. Daran ändert auch der Umstand, dass allein in § 15 Abs. 1 Nr. 3 MTV expressis verbis zwischen dem gesetzlichen und dem tariflichen Urlaubsanspruch unterschieden wird, nichts. Dies war in der betreffenden Regelung zur Klarstellung, dass mit dem Ausspruch einer außerordentlichen Kündigung allein der tarifliche, nicht aber der gesetzliche Urlaubsanspruch erlischt, geboten. Die darüber hinaus im § 15 MTV zu erkennenden Differenzierungen, insbesondere die Differenzierung in § 15 Abs. 1 Nr. 7 Satz 3 MTV gegenüber § 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG lassen jedoch mit der gebotenen Klarheit erkennen, dass die Tarifvertragsparteien den (tariflichen) Urlaubsanspruch nicht denselben Regeln, wie im Bundesurlaubsgesetz vorgesehen hatten, unterwerfen wollen. Dass in § 15 Abs. 1 Nr. 7 MTV die Unterscheidung von gesetzlichem und tariflichem Urlaub nicht expressis verbis erfolgt war, spielt dabei keine Rolle.
c. Da der Kläger seinen (tariflichen) Mehrurlaub nicht bis 31. März 2015 geltend gemacht hatte, ist dieser mit Ablauf dieses Datums verfallen.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 Satz 1 ZPO.
IV. Die Revision war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (§ 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG).