Europarecht

Anspruch auf Prüfung eines Asylantrags in Deutschland

Aktenzeichen  W 3 K 14.50080

Datum:
1.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG aF § 27a, § 34 a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 UAbs. 2, UAbs. 3, Art. 7 Abs. 1, Abs. 2, Art. 13 Abs. 1, Art. 16, Art. 17 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 23 Abs. 3, Art. 25 Abs. 1, Art. 27 Abs. 3, Art. 29 Abs. 1, Abs. 2 S. 1
GRCh GRCh Art. 3 Abs. 1, Art. 4, Art. 7, Art. 18
EMRK EMRK Art. 3
GG GG Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 6 Abs. 1

 

Leitsatz

Die Bundesrepublik Deutschland ist dann zum Selbsteintritt verpflichtet, wenn die Grundrechte eines Asylantragstellers im Fall der Überstellung an den an sich zuständigen Mitgliedstaat wegen dortiger systemischer Mängel verletzt würden und seine  Lage durch eine unangemessen lange Verfahrensdauer noch verschlimmert würde oder wenn im Fall der Überstellung eine in den persönlichen Umständen des Antragstellers wurzelnde Grundrechtsverletzung gegeben wäre, die nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Juli 2014 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da der Sachverhalt geklärt ist und die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist. Die Beteiligten wurden zuvor angehört.
Die Klage ist zulässig, soweit sie auf die Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids vom 16. Juli 2014 gerichtet ist. Im Übrigen, d. h. hinsichtlich des Verpflichtungsantrags, ist sie unzulässig, weil insoweit das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis fehlt. Statthafte Klageart gegen die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig bzw. die Feststellung der Unzulässigkeit gemäß § 27a AsylG ist die (isolierte) Anfechtungsklage (BayVGH, B. v. 6.3.2015 – 13a ZB 15.50000 – juris Rn. 7; U. v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 22). Die Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin II-VO (Verordnung (EG) Nr. 343/2003 vom 18.2.2003) bzw. der Dublin III-VO (Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26.6.2013) ist der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und von dem Verfahren zur inhaltlichen Prüfung des Asylverfahrens zu unterscheiden (BayVGH, B. v. 23.1.2015 – 13a ZB 14.50071 – juris Rn. 6). Eines auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungsausspruchs bedarf es nicht, weil im Falle der Aufhebung der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig die Beklagte bereits von Gesetzes wegen zur Fortführung des Asylverfahrens verpflichtet ist (vgl. BayVGH, B. v. 6.3.2015 – 13a ZB 15.50000 – juris Rn. 7; B. v. 5.3.2015 – 11 ZB 14.50046 – juris Rn. 11; B. v. 23.1.2015 – 13a ZB 14.50071 – juris; U. v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 22 jeweils m. w. N.). Einer auf ein weitergehendes Ziel gerichteten Verpflichtungsklage fehlt deshalb das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis.
Die Klage ist, soweit sie zulässig ist, begründet. Denn der angefochtene Bescheid vom 16. Juli 2014 erweist sich in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Der angefochtene Bescheid stützt sich ausweislich seiner Begründung auf §§ 27a, 34a AsylG. Nach § 27a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Wenn ein Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylG) abgeschoben werden soll, ordnet das Bundesamt die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann (§ 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG). Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Bundesrepublik Deutschland zur Entscheidung über den Asylantrag der Klägerin zuständig. Dies ergibt sich aus der hier anzuwendenden Dublin III-VO. Die Reihenfolge der Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats richtet sich nach Kapitel III dieser Verordnung (vgl. Art. 7 Abs. 1 Dublin III-VO). Nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO wird bei der Bestimmung des nach diesen Kriterien zuständigen Mitgliedstaats von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Asylbewerber seinen Antrag zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat gestellt hat. Gemessen hieran wäre nach Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO Italien für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin zuständig, weil die Klägerin, aus einem Drittstaat kommend, die Grenze Italiens überschritten hat, bevor sie nach Deutschland weiterreiste. Dem Übernahmeersuchen des Bundesamts stimmte Italien mit Schreiben vom 24. April 2014 zu (vgl. Art. 25 Abs. 1 Dublin III-VO). Damit ist die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens nicht nach Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Die Zuständigkeit ist auch nicht wegen Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. Denn die Frist von sechs Monaten zur Überstellung der Klägerin beginnt nach Art. 29 Abs. 1, Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO erst mit der endgültigen Entscheidung über die Klage der Klägerin, nachdem das Gericht mit Beschluss vom 4. September 2014 die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO angeordnet hat und der Klage daher aufschiebende Wirkung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Buchst. c Dublin III-VO zukommt. Demnach wäre Italien grundsätzlich verpflichtet, die Klägerin wieder aufzunehmen (vgl. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO).
Allerdings wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat – hier die Beklagte – gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO in einer solchen Fallgestaltung dennoch zum zuständigen Mitgliedstaat, wenn es sich als unmöglich erweist, eine Person, die internationalen Schutz beantragt hat, an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für den Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 EU-Grundrechtecharta – GR-Charta – mit sich bringen und auch keine alternative Überstellung in einen weiteren Mitgliedstaat anhand nachrangiger Zuständigkeitskriterien ausscheidet.
Ob in Italien systemische Schwachstellen in diesem Sinne bestehen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung der Klägerin im Sinne des Art. 4 GR-Charta mit sich bringen, kann dahinstehen, weil die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens der Klägerin aufgrund der besonderen Umstände dieses Einzelfalls jedenfalls bereits nach Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen ist. Nach dieser Vorschrift kann jeder Mitgliedstaat beschließen, einen bei ihm von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist.
Aufgrund ihrer besonderen Situation hat die Klägerin auch einen Anspruch darauf, dass ihr Asylantrag in Deutschland geprüft wird. Zwar handelt es sich bei der Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO um eine Ermessensentscheidung, die vom Gericht lediglich darauf überprüft wird, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist (vgl. § 114 Satz 1 VwGO). Ist eine Behörde ermächtigt, nach ihrem Ermessen zu handeln, hat ein Kläger gemäß § 40 VwVfG lediglich ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Auch wenn berücksichtigt wird, das dem Bundesamt bei der Anwendung des Art. 17 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ein weites Ermessen zusteht (EuGH, U. v. 10.12.2013 – C-394/12 – NVwZ 2014, 208 – Rn. 57; BayVGH, U. v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – Rn. 22), ist das Ermessen der Beklagten im Fall der Klägerin ausnahmsweise auf Null reduziert.
Das Ermessen reduziert sich dann auf Null, wenn jede andere Entscheidung als der Selbsteintritt unvertretbar wäre. Eine solche Fallkonstellation ist anzunehmen, wenn in einer Situation, in der Grundrechte des Antragstellers im Fall der Überstellung an den an sich zuständigen Mitgliedstaat wegen systemischer Mängel verletzt würden, die Lage des Antragstellers durch eine unangemessen lange Verfahrensdauer noch verschlimmert würde oder wenn im Fall der Überstellung eine in den persönlichen Umständen des Betroffenen wurzelnde Grundrechtsverletzung gegeben wäre, die nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann (vgl. BVerfG, B. v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 13; BayVGH, U. v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – Rn. 22 m. w. N.).
Dass bei einem solchen Grundrechtsbezug eine Ermessensreduzierung auf Null und damit eine Pflicht zum Selbsteintritt anzunehmen ist, ergibt sich aus den Wertungen der Dublin III-VO selbst, die sich nicht nur auf rein verfahrenstechnische Regelugen beschränkt. Die gesonderte Erwähnung von Personen, die wegen Schwangerschaft, eines neugeborenen Kindes, schwerer Krankheit, ernsthafter Behinderung oder hohen Alters auf die Unterstützung von Verwandten angewiesen sind (Art. 16 Dublin III-VO), zeigt, dass der Unionsgesetzgeber die Ermessensausübung dort einschränken will, wo Grundrechte berührt sind. So heißt es auch in den Erwägungsgründen der Dublin III-Verordnung, dass bei der Anwendung dieser Verordnung die Achtung des Familienlebens im Einklang mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie das Wohl des Kindes im Einklang mit dem Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte des Kindes von 1989 und mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten sein sollten (Erwägungsgründe 13 und 14). Des Weiteren haben die Mitgliedstaaten sicherzustellen, dass Überstellungen in Form einer kontrollierten Ausreise oder in Begleitung in humaner Weise und unter uneingeschränkter Wahrung der Grundrechte und der Menschenwürde erfolgen (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 2 Dublin III-VO), wobei auch dem Wohl des Kindes und der Entwicklung der einschlägigen Rechtsprechung, insbesondere hinsichtlich Überstellungen aus humanitären Gründen, Rechnung getragen werden soll (vgl. Erwägungsgrund 24 der Dublin III-VO). Ähnlich verhält es sich mit den Zuständigkeitsbestimmungen für unbegleitete Minderjährige, die nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern auch dem Grundrechtsschutz dienen und individualschützend sind (BVerwG, U. v. 16.11.2015 – 1 C 4.15 – juris; BayVGH, U. v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – Rn. 25). In derartigen Fällen besteht grundrechtsbedingt die Pflicht zum Selbsteintritt, welche ein subjektives Recht vermittelt (BayVGH, U. v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – Rn. 25 m. w. N.).
Eine solche Fallgestaltung liegt im Fall der Klägerin vor. Die Klägerin kann im Falle ihrer Rückführung nach Italien weder auf verwandtschaftliche Hilfe noch auf ein soziales Netzwerk bei der Suche nach einer Unterkunft für die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr zurückgreifen. Dies gilt auch im Hinblick auf den Einwand der Beklagten, dass der Lebensgefährte der Klägerin in Italien internationalen Schutzstatus habe. Denn es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Lebensgefährte der Klägerin wirtschaftlich in der Lage wäre, die Klägerin und ihr erst einjähriges Kleinkind in Italien tatsächlich hinreichend zu unterstützen. Angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage vieler Personen mit internationalem Schutzstatus in Italien (vgl. Bundesamt, Leitfaden Italien, aktualisierte Fassung von Oktober 2014; ProAsyl, Flucht ohne Ankunft, November 2014; bordermonitoring.eu, Italien: Vai Via!, Februar 2013; Schweizer Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013) kann insbesondere nicht allein aus der Tatsache der Zuerkennung eines Schutzstatus in Italien auf die Fähigkeit zur Erbringung hinreichender Unterstützungsleistungen an Verwandte wie hier die Klägerin und ihr Kind geschlossen werden. So müssen sich internationale Schutzberechtigte in der Praxis zum Beispiel – ebenso wie italienische Staatsangehörige – regelmäßig selbst um eine Unterkunft kümmern und es bestehen grundsätzlich keine staatlichen finanziellen Hilfeleistungen bzw. Sozialleistungen (Bundesamt, Leitfaden Italien, aktualisierte Fassung von Oktober 2014, S. 21 m. w. N.; ProAsyl, Flucht ohne Ankunft, November 2014, S. 10, 11; bordermonitoring.eu, Italien: Vai Via!, Februar 2013, S. 16 ff.; Schweizer Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 22, 42, 47, 61, 69). Zugleich liegen aufgrund von Berichten international anerkannter Flüchtlingsschutzorganisationen und des European Council on Refugees and Exiles (ECRE) belastbare Anhaltspunkte für das Bestehen von Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung rückgeführter Asylsuchender in Italien vor, selbst wenn diese noch nicht den Grad systemischer Mängel erreichen mögen (vgl. nur EGMR, U. v. 4.11.2014 – Tarakhel ./. Schweit, Nr. 29217/12 – Rn. 115; Dass seit der vorgenannten EGMR-Entscheidung eine beachtenswerte Verbesserung der Aufnahmesituation eingetreten wäre, ist nach der derzeitigen Erkenntnislage des Gerichts insbesondere im Hinblick auf die weiterhin hohe Zahl in Italien ankommender Asylsuchender nicht erkennbar). Das Bundesamt hat dem angesichts der hier berührten hochrangigen Grundrechte aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 7 GR-Charta bzw. aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 6 Abs. 1 GG und der bei der Durchführung von Überstellungen nach dem Dublin-System vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkte der uneingeschränkten Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls (vgl. Erwägungsgrund 13-16 der Dublin III-Verordnung) angemessen Rechnung zu tragen, indem es in Abstimmung mit den Behörden des Zielstaats sicherstellt, dass die Klägerin und ihr Kind bei der Übergabe an die Behörden des Zielstaats eine Unterkunft erhalten, um erhebliche konkrete Gesundheitsgefahren für die Klägerin und ihr Kind auszuschließen (vgl. BVerfG, B. v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 15 f.). Zur Sicherstellung einer kindgerechten Unterkunft unter Wahrung der Familieneinheit und Berücksichtigung des psychischen Zustands der Klägerin kommt die Abgabe einer entsprechenden individuellen Zusicherung der italienischen Behörden in Betracht (vgl. EGMR, U. v. 4.11.2014 – Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – Rn. 122; VG Augsburg, B. v. 21.4.2015 – Au 7 S 15.50204 – juris m. w. N.). Eine solche Zusicherung der italienischen Behörden zur Unterbringung der Klägerin (und ihres Kindes) liegt indes nicht vor. Andere ausreichende (Vorkehrungs-) Maßnahmen zur Sicherstellung einer Unterkunft in dem genannten Sinne für die Klägerin und ihr Kind bei Rücküberstellung nach Italien sind weder vorgetragen worden noch sonst erkennbar. Es gibt auch keine konkreten Anzeichen dafür, dass ausreichende Vorkehrungsmaßnahmen wie die Einholung einer individuellen Zusicherung der italienischen Behörden in absehbarer Zeit erfolgen würden oder erfolgen könnten. Eine Abschiebung der Klägerin nach Italien scheidet daher auf unabsehbare Zeit aus.
Diese Annahme steht auch im Einklang mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK. So gebietet die Europäische Menschenrechtskonvention nach der Rechtsprechung des EGMR eine Einzelfallprüfung und im Falle belastbarer Anhaltspunkte für eine nicht im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention stehende Behandlung einschließlich Unterbringung des Abzuschiebenden im Zielstaat der Abschiebung in einem konkreten Einzelfall, dass die Behörden des abschiebenden Staates vor Durchführung der Abschiebung ausreichende Sicherungen (etwa eine individuelle Garantieerklärung des Zielstaats) einholen, um sicherzustellen, dass die konkret betroffene Person im Falle der Abschiebung im Zielstaat konventionskonform behandelt und untergebracht wird. Andernfalls darf die Abschiebung nicht erfolgen (EGMR, U. v. 4.11.2014 – Tarakhel ./. Schweiz, Nr. 29217/12 – Rn. 122).
Auch nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann die der zuständigen Behörde – hier dem Bundesamt – obliegende Pflicht, gegebenenfalls durch eine entsprechende Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann, in Einzelfällen gebieten, sicherzustellen, dass erforderliche Hilfen rechtzeitig nach der Ankunft im Zielstaat zur Verfügung stehen, wobei der Ausländer regelmäßig auf den dort allgemein üblichen Standard zu verweisen ist (BVerfG, B. v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 14). Besonders hohe Bedeutung kommt dabei den im Fall der Klägerin berührten hochrangigen Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 6 Abs. 1 GG und den bei der Durchführung von Überstellungen nach dem Dublin-System vorrangig zu berücksichtigenden Gesichtspunkten der uneingeschränkten Achtung des Grundsatzes der Einheit der Familie und der Gewährleistung des Kindeswohls zu (vgl. BVerfG, B. v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 16).
Da eine Abschiebung der Klägerin nach Italien somit auf unabsehbare Zeit ausscheidet und auch kein anderer Mitgliedstaat ersichtlich ist, in den die Klägerin zur Durchführung des Asylverfahrens in absehbarer Zeit überstellt werden könnte, besteht die konkrete Gefahr, dass ihr Asylbegehren in gar keinem Mitgliedstaat bzw. nicht innerhalb angemessener Frist von einem Mitgliedstaat geprüft wird, wenn sich die Beklagte weiterhin weigert, den Asylantrag der Klägerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu prüfen. Dies verletzt die Klägerin in ihrem subjektiven Recht auf Durchführung des Asylverfahrens aus Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, das Ausdruck des in Art. 18 GR-Charta verankerten Rechts auf Asyl ist.
Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass ein Asylsuchender grundsätzlich keinen Anspruch auf Prüfung seines Asylantrags durch einen bestimmten Mitgliedstaat hat. Den Zuständigkeitsvorschriften der Dublin-Verordnungen ist zwar grundsätzlich kein individualschützender Gehalt zu entnehmen, da sie prinzipiell allein der zeitnahen Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und einer zügigen Überstellung an diesen dienen (vgl. VGH BW, B. v. 6.8.2013 – 12 S 675/13 – juris Rn. 13; VG Würzburg, B. v. 30.10.2014 – W 3 E 14.50144 – juris Rn. 13). Dennoch besteht in einer Situation, in der eine Abschiebung in den eigentlich nach der Dublin III-VO zuständigen Mitgliedstaat auf unabsehbare Zeit ausscheidet, ein schutzwürdiges Interesse des Asylbewerbers daran, dass die inhaltliche Prüfung seines Asylantrags nicht durch weitere Zuständigkeitsprüfungen verzögert wird (vgl. auch VGH BW, B. v. 6.8.2013 – 12 S 675/13 – juris Rn. 13; VG Augsburg, GB. v. 12.11.2014 – Au 7 K 14.50047 – juris Rn. 45; VG Sigmaringen, U. v. 22.10.2014 – 8 K 4481/14.A – UA S. 5 ff.; VG Regensburg, U. v. 21.10.2014 – RO 9 K 14.30217 – UA S. 6; VG Düsseldorf, U. v. 23.9.2014 – 8 K 4481/14.A – juris Rn. 30). Insofern beinhaltet der materielle Prüfungsanspruch der Klägerin (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO) eine zeitliche Komponente. Diese verlangt, dass die Prüfung des Asylantrags und die daraufhin ergehende Entscheidung zeitnah erfolgen. Somit würden die subjektiven Rechte der Klägerin verletzt, wenn in der vorliegenden Situation trotz des Zuständigkeitsübergangs noch über einen unter Umständen längeren Zeitraum hinweg Ungewissheit darüber bestünde, welcher Mitgliedstaat den Asylantrag inhaltlich zu prüfen hat (vgl. VG Würzburg, U. v. 26.9.2014 – W 7 K 13.30538 – S. 6; VG Würzburg, U. v. 27.4.2015 – W 4 K 14.50127 – S. 9). Dabei kann eine rein theoretische Überstellungsmöglichkeit, die nicht durch konkrete aussagekräftige und auch eine überschaubare zeitliche Dimension der Überstellung umfassende Fakten untermauert wird, nicht genügen, da andernfalls das dem Dublin-System immanente Beschleunigungsgebot verletzt wird. Eine andere Sichtweise würde dem Grundanliegen des gemeinsamen europäischen Asylsystems widersprechen. Dieses darf um seiner Effektivität willen nicht so ausgelegt und angewandt werden, dass die betroffenen Antragsteller in keinem Mitgliedstaat eine Prüfung ihres Schutzgesuchs erhalten können und – wenn auch nicht dem potentiellen Verfolger ausgeliefert – doch ohne den im Unionsrecht vorgesehenen förmlichen Schutzstatus bleiben (vgl. VGH BW, U. v. 29.4.2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 32).
Nach alledem erweist sich der angefochtene Bescheid vom 16. Juli 2014 als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Er war daher mit der Kostenfolge aus § 155 Abs. 1 Satz 2 VwGO, § 83b AsylG aufzuheben.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Gerichtsbescheid steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zugelassen wird. Die Zulassung der Berufung ist innerhalb von 2 Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids schriftlich beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg,
Hausanschrift: Burkarderstraße 26, 97082 Würzburg, oder
Postfachanschrift: Postfach 11 02 65, 97029 Würzburg,
zu beantragen. Hierfür besteht Vertretungszwang.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte, Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, oder die in § 67 Absatz 2 Satz 2 Nr. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen zugelassen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.
Der Antrag muss den angefochtenen Gerichtsbescheid bezeichnen. In dem Antrag sind die Gründe, aus denen die Berufung zuzulassen ist, darzulegen. Die Berufung kann nur zugelassen werden, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder der Gerichtsbescheid von einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein in § 138 der Verwaltungsgerichtsordnung bezeichneter Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt.
Anstelle des Antrags auf Zulassung der Berufung können die Beteiligten innerhalb von zwei Wochen nach Zustellung des Gerichtsbescheids beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle mündliche Verhandlung beantragen.
Wird von beiden Rechtsbehelfen Gebrauch gemacht, findet mündliche Verhandlung statt.
Der Antragsschrift sollen 4 Abschriften beigefügt werden.
Beschluss:
Der Klägerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt …, …, bewilligt.
Gründe:
Dem Prozesskostenhilfeantrag der Klägerin war stattzugeben, da die Voraussetzungen des § 166 VwGO i. V. m. §§ 114, 121 ZPO gegeben sind. Die Klägerin kann nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen, und die erhobene Klage bietet aus den im vorstehenden Gerichtsbescheid dargestellten Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig. Des Weiteren erscheint die Vertretung durch einen Rechtsanwalt angesichts der inmitten stehenden Rechtsfragen und der Bedeutung der Streitsache für die Klägerin erforderlich.
Rechtsmittelbelehrung:
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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