Aktenzeichen M 7 K 15.50730
Dublin-II-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 10 Abs. 1, Art. 13, Art. 16 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1
GG GG Art. 6
EMRK EMRK Art. 3
Leitsatz
Das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien weisen keine systemischen Mängel auf. Allerdings laufen Familien mit Kleinstkindern Gefahr, dort einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu werden, wenn keine konkrete Zusicherung der italienischen Behörden zur gemeinsamen Unterbringung der Familie vorliegt. (redaktioneller Leitsatz)
Eine Trennung des neugeborenen Kindes, über dessen Asylantrag bislang nicht entschieden wurde, von seiner personensorgeberechtigten Mutter im Rahmen einer Aufenthaltsbeendigung ist mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht vereinbar. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 30. Juli 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tagen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Gründe
Mit dem Einverständnis der Beteiligten kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet. Der streitgegenständliche Bescheid erweist sich in dem nach § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Hs. AsylG maßgeblichen Zeitpunkt als rechtswidrig und verletzt die Klägerin damit in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach § 27a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG kann das Bundesamt in einem solchen Fall die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat anordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Zwar war Italien aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union für die Durchführung des Asylverfahrens grundsätzlich zuständig. Insoweit gelten für die Klägerin noch die Regelungen der Dublin II-VO (Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist; ABl EU Nr. L 50 S. 1) (vgl. VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 57/15 – juris Rn. 36 f. m. zahlreichen w. N.), da sie noch unter der Geltung der Dublin II-VO, nämlich am 23. Oktober 2008, ihren ersten Asylantrag in der Europäischen Union (Italien) gestellt hat. Die Dublin II-VO wurde zwar gem. Art. 48 Abs. 1 Dublin III-VO (Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist; ABl L 180/31) zwischenzeitlich aufgehoben. Für vor dem 1. Januar 2014 gestellte Anträge auf internationalen Schutz – gemeint ist damit der erste Antrag eines Fremden auf internationalen Schutz im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten (Filzwieser/Sprung, Komm. z. Dublin III-Verordnung, Stand: 1. Februar 2014, Art. 49 K3; vgl. auch VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 57/15 – juris Rn. 34) -, bleibt sie jedoch gem. Art. 49 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO weiterhin anwendbar.
Die Erstzuständigkeit Italiens, wo die Klägerin ein Asylverfahren mit unbekanntem Ausgang betrieben hat, ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1, Art. 13 Dublin II-VO. Die Pflicht Italiens, die Klägerin wieder aufzunehmen, folgt entweder aus Art. 16 Abs. 1 lit. c oder lit. d oder e Dublin II-VO. Da die italienischen Behörden auf das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamtes vom 2. März 2016 nicht geantwortet haben, ist gem. Art. 20 Abs. 1 lit. c Dublin II-VO davon auszugehen, dass diesem stattgegeben wurde, was gem. Art. 20 Abs. 1 lit. d Satz 1 Dublin II-VO die Verpflichtung nach sich zieht, die betreffende Person wiederaufzunehmen. Damit wäre grundsätzlich auch eine Abschiebung nach Italien – als EU-Mitgliedstaat ein sicherer Drittstaat im Sinne des § 26a AsylG – möglich. Das Gericht geht in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung verschiedener Obergerichte und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (VGH BW, U. v. 16. April 2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 43 ff.; OVG Nds., U. v. 25. Juni 2015 – 11 LB 248/14 – juris Rn. 47 ff., B. v. 18. März 2014 – 13 LA 75/13 – juris Rn. 15 ff.; OVG NW, U. v. 7. Juli 2016 – 13 A 2132/15.A – juris Rn. 42 ff. u. U. v. 21. Juni 2016 – 13 A 1896/14.A – juris Rn. 47 f., U. v. 24. April 2015 – 14 A 2356/12.A – juris Rn. 20 ff. u. U. v. 7. März 2014 – 1 A 21/12.A – juris; BayVGH, U. v. 28. Februar 2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 41 ff.; OVG RP, U. v. 21. Februar 2014 – 10 A 10656/13 – juris Rn. 41 ff.; OVG BB, B. v. 17. Juni 2013 – 7 S 33.13 – juris Rn. 13 ff. und B. v. 24. Juni 2013 – 7 S 58.13 – juris; OVG SA, B. v. 14. November 2013 – 4 L 44/13 – S. 7 ff. u. U. v. 2. Oktober 2013 – 3 L 643/12 – unveröffentlicht; vgl. auch das im Internet veröffentlichte Schweizer BVerwG, U. v. 20. Juni 2013 – E 1814/2013 -; EGMR, B. v. 2. April 2013 – Nr. 27725/10 – Rn. 78, ZAR 2013, 336/337 u. B. v. 10. September 2013 – Nr. 2314/10 – Rn. 138 ff. zitiert nach http://hudoc.echr.coe.in; B. v. 2. Februar 2015 – Nr. 51428/10 – A.M.E. ./. Niederlande, Rn. 36 veröffentlicht auf der Internetseite des EGMR; wegen der durchgeführten Rücküberstellungen aus anderen Mitgliedstaaten wie Frankreich, Großbritannien, Schweden, Niederlande, Österreich, Ungarn und der Schweiz nach Italien vgl. Leitfaden Italien vom Oktober 2014, Hrsg. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, S. 36, im Internet veröffentlicht) nicht davon aus, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Italien im allgemeinen systemische Schwachstellen aufweisen (vgl. Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO).
Vorliegend hat die Klägerin aufgrund ihrer besonderen Situation als alleinerziehende Mutter mit einem Kleinstkind jedoch nach Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO einen Anspruch darauf, dass die Beklagte ihr Selbsteintrittsrecht ausübt und ihren Asylantrag prüft. Hierdurch wird die Beklagte nach Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin II-VO zum zuständigen Mitgliedstaat.
Das dem Bundesamt bei der Anwendung des Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO eingeräumte weite Ermessen (EuGH, U. v. 10. Dezember 2013 – C-394/12 – juris Rn. 57) ist ausnahmsweise auf Null reduziert. Dies ist stets dann anzunehmen, wenn jede andere Entscheidung als der Selbsteintritt unvertretbar wäre, konkret im Falle der Rücküberstellung an den an sich zuständigen Mitgliedstaat, wenn eine in den persönlichen Umständen des Betroffenen wurzelnde Grundrechtsverletzung gegeben wäre, die nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann (vgl. BayVGH, U. v. 3. Dezember 2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22 m. w. N.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B. v. 27. Mai 2015 – 2 BvR 3024/14, 2 BvR 177/15, 2 BvR 601/15 – juris Rn. 4 m. w. N., B. v. 17. September 2014 – 2 BvR 1795/14 – juris Rn. 15 f. u. B. v. 30. April 2015 – 2 BvR 746/15 – juris Rn. 9) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR U. v. 4. November 2014 – Nr. 292117/12 – Tarakhel ./. Schweiz, NVwZ 2015, S. 127) ist davon auszugehen, dass Familien mit Kleinstkindern Gefahr laufen, im Aufnahmestaat Italien einer gegen Art. 3 EMRK – und damit auch gegen Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – EUGRCh – verstoßenden Behandlung ausgesetzt zu werden, wenn sie im Rahmen des Dublin-Verfahrens ohne eine konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung der italienischen Behörden, dass die Familie in Italien eine gesicherte Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten werde, dorthin überstellt werden. Darauf hat das Gericht die Beklagte mit Schreiben vom 9. September 2015 hingewiesen. Seither wurde weder eine derartige Zusicherung vorgelegt noch wurden sonstige Vorkehrungen im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B. v. 17. September 2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 10) zum Schutze der Klägerin und ihres Kindes dargetan.
Ist die Feststellung nach § 27a AsylG rechtwidrig, ist auch kein Raum mehr für die Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG nach Italien.
Im Übrigen hätte die Klage gegen die Abschiebungsanordnung – wie im Beschluss vom 4. November 2015 (M 7 S 15.50731) ausgeführt – auch deshalb Erfolg, weil im Hinblick auf das neugeborene Kind der Klägerin von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis gem. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK auszugehen ist. Nach § 60 a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange sie aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Rechtlich unmöglich kann eine Abschiebung sein, wenn sie unzumutbar in eine durch Art. 6 GG bzw. Art. 8 EMRK geschützte familiäre Beziehung eingreift. Auch wenn Art. 6 GG und Art. 8 EMRK keinen Anspruch auf einen wie auch immer gearteten Aufenthalt vermitteln (Funke-Kaiser, AufenthG II-§ 60 a, Stand: März 2015, Rn. 149, 211) und das Kind der Klägerin kein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet hat, ist eine Trennung des existenziell auf die Klägerin angewiesenen Kleinkindes, über dessen Asylantrag – soweit bekannt – bisher nicht entschieden ist und gegen das bislang keine Abschiebungsanordnung ergangen ist, von seiner personensorgeberechtigten Mutter im Rahmen einer Rückführung bzw. Aufenthaltsbeendigung mit Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht vereinbar (vgl. Nr. 60 a.2.1.1.2.1 AufenthG-VwV).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gem. § 83 b AsylVfG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.