Europarecht

Anspruch einer 19-jährigen Frau auf Durchführung des Asylverfahrens in Deutschland wegen Familienzusammenführung

Aktenzeichen  AN 17 E 20.50200

Datum:
16.6.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 18613
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 8, Art. 9, Art. 11 lit. a, Art. 17 Abs. 2
Dublin III-VO Art. 8, Art. 9, Art. 11 lit. a, Art. 17 Abs. 2

 

Leitsatz

Von einer volljährigen Person kann grundsätzlich auch ein selbstständiges Durchlaufen des Asylverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, der für das Verfahren der übrigen Familienmitglieder verantwortlich ist oder war, erwartet werden. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt von Griechenland aus die Verpflichtung der Antragsgegnerin, sich gegenüber Griechenland auf Grund der Verordnung (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) für die Prüfung ihres Asylantrages für zuständig zu erklären.
Nach eigenen Angaben ist die Antragstellerin am … 2001 in Sy. geboren und syrische Staatsangehörige. Der Vater der Antragstellerin,  …, geboren am … in Sy., verließ Sy. am 27. September 2015 und reiste am 24. Oktober 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er ist in Deutschland als Flüchtling anerkannt, verfügt über einen zunächst bis 2. März 2022 gültigen Aufenthaltstitel und wohnt derzeit in … . Die Mutter ist eigener Aussage nach bereits im Jahr 2013 bei einem Bombenangriff in Sy. verstorben.
Im August 2019 reiste die Antragstellerin zusammen mit ihren beiden minderjährigen Brüdern, deren Eilrechtsschutzverfahren gesondert beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach anhängig ist (AN 17 E 20.50201), über die Türkei nach Griechenland ein. Nach der Ankunft auf der Insel L. stellte sie dort am 18. November 2019 einen Asylantrag. Mit Schreiben vom 16. Februar 2020 der Anwaltsvereinigung „European Lawyers in Lesvos“ per E-Mail an das „Regional Asylum Office of Lesvos“ und die „Dublin Unit of the Greek Asylum Service“ forderte diese im Namen der Antragstellerin die griechischen Behörden auf, Deutschland um ihre Aufnahme gemäß Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO und Art. 8 EMRK zu bitten. Am 18. Februar 2020 ersuchte Griechenland die Bundesrepublik Deutschland, die Antragstellerin und ihre beiden Brüder zur Prüfung deren Asylantrags aufzunehmen. Dem Gesuch war eine Erklärung der Antragstellerin vom 11. November 2019 und vom 6. Februar 2020 und eine Erklärung ihres Vaters vom 11. November 2019 und vom 7. Februar 2020 beigefügt, in der sie sich mit einer Prüfung ihres Asylbegehrens durch Deutschland sowie einer Familienzusammenführung und ihr Vater mit einer Familienzusammenführung in Deutschland einverstanden erklärten. Die Bundesrepublik lehnte dieses Aufnahmegesuch mit Schreiben vom 2. März 2020 mit der Begründung ab, bis auf den Wunsch der Antragstellerin, das Asylverfahren in Deutschland durchzuführen, seien keine humanitären Gründe ersichtlich. Mit weiterem Schreiben der Anwaltsvereinigung „European Lawyers in L.“ vom 16. März 2020 forderte diese im Namen der Antragstellerin die griechischen Behörden auf, Deutschland um eine erneute Überprüfung des Aufnahmegesuchs der Antragstellerin zu bitten. Am 24. März 2020 remonstrierten die griechischen Behörden gegen diese Entscheidung unter Beifügung des genannten Schreibens, was seitens Deutschland am 30. März 2020 mit der Begründung abgelehnt wurde, dass im vorliegenden Fall keine humanitären Gründe ersichtlich seien. Im Verfahren der beiden minderjährigen Brüder der Antragstellerin (AN 17 E 20.50201) erklärte sich die Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 8. Juni 2020 für die Durchführung deren Asylverfahren auf Basis von Art. 8 Abs. 1 Dublin III-VO zuständig und sandte eine entsprechende Erklärung an die griechischen Behörden.
Mit am 26. Mai 2020 beim Verwaltungsgericht Ansbach eingegangenem Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten stellte die Antragstellerin einen Antrag nach § 123 VwGO und beantragte,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich gegenüber dem griechischen Migrationsministerium, Nationales Dublin-Referat, unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen zum Übernahmegesuch vom 18. Februar 2019 und zur Wiedervorlage vom 24. März 2019 durch das griechische Migrationsministerium, Nationales Dublin-Referat, für die Prüfung des Asylantrages der Antragstellerin für zuständig zu erklären.
Zur Begründung führt sie aus, dass sowohl ihr Vater als auch sie gegenüber den griechischen Behörden erklärt hätten, dass sie eine Familienzusammenführung und die Durchführung des Asylverfahrens der Antragstellerin in Deutschland wünschten. Es bestehe und habe enger Kontakt zwischen der Antragstellerin, ihren minderjährigen Brüdern und dem Vater bestanden. Seit dessen Ausreise aus Sy. stünden sie täglich telefonisch in Kontakt. Der Vater habe dafür gesorgt, dass die Antragstellerin und ihre Brüder in L. in einem Hotel untergebracht seien und nicht im Flüchtlingslager Moria leben müssten. Er sei auch mehrmals nach L. gereist, um seinen Kindern persönlich beizustehen. Die Antragstellerin sei vorübergehend zum Vormund ihrer minderjährigen Brüder bestellt worden, allerdings lediglich aufgrund der Abwesenheit der Eltern. Das Verhältnis zwischen ihr und ihren Brüdern sei aufgrund des gemeinsam Erlebten sehr eng und emotional. Nach dem Verlust der Mutter und der Flucht des Vaters sei sie eine wichtige Bezugsperson für ihre Brüder und in den letzten fünf Jahren die einzig durchgängig anwesende familiäre Konstante gewesen. Daher sei auch zum Wohl ihrer beiden minderjährigen Brüder von 13 und 15 Jahren die Übernahme des Asylverfahrens der Antragstellerin erforderlich. Eine Trennung der Geschwister würde den erneuten Verlust eines Familienmitgliedes und den Verlust familiärer Stabilität bedeuten. Dies gelte auch aus Sicht der Antragstellerin, da ihre Brüder in den letzten Jahren für sie die einzig konstant anwesenden Familienmitglieder darstellt hätten. Eine Familienzusammenführung auf anderem Wege scheide entgegen der Behauptung der Antragsgegnerin aus. Selbst wenn die Antragstellerin in Griechenland als Flüchtling anerkannt werden würde, genösse sie keine europarechtliche Freizügigkeit und dürfte sich nur besuchsweise in Deutschland aufhalten. Obendrein drohe ihr eine Ablehnung ihres Asylantrags in Griechenland als unzulässig und in Folge eine Abschiebung in die Türkei. Zudem sei sie aufgrund des Todes ihrer Mutter, die 2013 durch einen Bombenangriff verstorben sei, der Verletzung ihres Vaters, der räumlichen Trennung von ihm seit 2015 und ihrer eigenen Flucht und aktuellen Situation traumatisiert und daher auf die Unterstützung des Vaters angewiesen. Nicht zuletzt sei es einer 19-jährigen jungen Frau nicht zuzumuten, alleine in Griechenland zurückzubleiben.
Der Anordnungsanspruch für den Antrag nach § 123 VwGO folge aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Es lägen humanitäre Gründe vor, das Ermessen sei auf Null reduziert. Die Antragstellerin sei erst 19 Jahre alt, die Mutter 2013 verstorben und die Bindung an den Vater trotz der räumlichen Trennung nach dessen Ausreise aus Sy. im Jahr 2015 sehr eng. Das Asylverfahren der minderjährigen Brüder der Antragstellerin sei nach Art. 8 und Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO zu übernehmen. Ohne eine gemeinsame Durchführung aller Asylverfahren in Deutschland sei ein Verlust an familiärer Stabilität zu befürchten. Der Antragstellerin sei es als junger, schutzloser Frau dann nicht zuzumuten, alleine auf L. zurückzubleiben. Und auch das Wohl ihrer beiden Brüder im Alter von 13 und 15 Jahren gebiete es, alle Asylverfahren zusammen in Deutschland durchzuführen.
Der Anordnungsgrund ergebe sich daraus, dass die Antragstellerin nach Abschluss des Dublin-Verfahrens durch die Ablehnung der Bunderepublik Deutschland jederzeit zu einer Anhörung durch die griechische Asylbehörde vorgeladen werden und im Anschluss über ihren Asylantrag im nationalen griechischen Verfahren kurzfristig entschieden werden könne. Daher sei eine Vorwegnahme der Hauptsache hinzunehmen, da andernfalls irreversible Tatsachen geschaffen werden könnten, gegen die kein Rechtsschutz mehr möglich sei.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag nach § 123 VwGO abzulehnen.
Zur Begründung führt sie aus, dass entgegen dem Vorbringen der Antragstellerin ihre Mutter ausweislich der in den Akten befindlichen Sterbeurkunde am 10. Januar 2017 verstorben sei. Der Vater habe in seiner Anhörung vor dem Bundesamt nichts von einer nun durch die Antragstellerin vorgebrachten schweren Verletzung erwähnt. Im vorliegenden Fall fänden Art. 8 und 9 Dublin III-VO keine Anwendung, da die Antragstellerin volljährig sei. Ein Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO könne nur für Antragsteller erfolgen, die sich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhielten. Ein Ersuchen nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO könne nur auf humanitäre Gründe gestützt werden, die nicht vorlägen. Die Antragstellerin sei volljährig und habe laut Akte keine schweren Erkrankungen oder sonstige besondere Umstände. Eine Ermessensreduzierung auf Null scheide aus, da andere Möglichkeiten der Familienzusammenführung bestünden. Sollte etwa eine Flüchtlingsanerkennung in Griechenland erfolgen, bestehe das Recht auf Freizügigkeit.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die beigezogenen Behördenakten der Antragstellerin, ihres Vaters und ihrer beiden minderjährigen Brüder und die Gerichtsakte mit den Schriftsätzen und deren Anlagen verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig (1.), insbesondere ist das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach für die Entscheidung zuständig, aber unbegründet (2.).
1. a) Da sich die Antragstellerin in Griechenland aufhält, greift nicht die für asylrechtliche Streitigkeiten (vgl. für Streitigkeiten nach der Dublin III-VO BVerwG, B.v. 2.7.2019 -1 AV 2/19 – juris Rn. 4) regelmäßige Zuständigkeitsvorschrift des § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 1 VwGO und auch nicht § 52 Nr. 2 Satz 3 Halbs. 2, Nr. 3 Satz 2 VwGO ein, sondern richtet sich die gerichtliche Zuständigkeit nach dem Sitz der Antragsgegnerin, § 52 Nr. 3 Satz 3, Nr. 5 VwGO (BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 6). Da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Sitz in N. hat, ist das Bayerische Verwaltungsgericht Ansbach zur Entscheidung berufen. Einer Zuständigkeitsbestimmung durch das Bundesverwaltungsgericht nach § 53 Abs. 1 Nr. 3 VwGO bedarf es vorliegend nicht, da die Person, zu der zugezogen werden soll, nicht als Antragsteller auftritt und damit keine Kollision von Zuständigkeiten besteht.
b) Der Antrag nach § 123 VwGO ist zulässig. Die Antragstellerin ist entsprechend § 42 Abs. 2 VwGO antragsbefugt. Erforderlich ist hierfür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung eines subjektiven Rechts. In Frage kommt und von der Antragstellerin geltend gemacht, ist ein Anspruch nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Ein Berufen vom Ausland aus auf die Regelungen der Dublin III-VO ist dabei anzuerkennen. Die Regelungen der Dublin III-VO schließen dies nicht aus, die Erwägungsgründe 13, 14 und 15 der Dublin III-VO sprechen vielmehr dafür. Auch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) sowie Art. 6 GG streiten für dieses Ergebnis (vgl. auch VG Saarlouis, B.v. 9.3.2020 – 5 L 177/20 – BeckRS 2020, 7819 Rn. 18; VG Ansbach, B.v. 19.7.2019 – AN 18 E 19.50355; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21).
Dem Antrag fehlt auch nicht das allgemeine Rechtschutzbedürfnis aufgrund einer teilweisen allgemeinen Aussetzung von Abschiebungen und Überführungen von Personen durch die Nationalstaaten wegen der aktuellen Gefahrenlage bzw. zur Eindämmung der pandemischen Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2. Ebenso wenig stehen die aktuellen tatsächlichen Einschränkungen im Flug- und im sonstigen Reiseverkehr und nationale Einreisebestimmungen, die eine Zusammenführung der Personen in der Bundesrepublik derzeit möglicherweise verhindern, dem Antrag entgegen. Der Antrag ist nicht auf die tatsächliche Überführung des Antragstellers in die Bundesrepublik Deutschland gerichtet, so dass es auf die derzeitige eventuelle Unmöglichkeit der Durchführung nicht ankommt, sondern auf die Schaffung der rechtlichen Voraussetzungen für eine Überführung, nämlich auf die Zustimmung der Antragsgegnerin zur einer – auch später noch möglichen, und nicht auf Dauer unmöglichen – Durchführung des Asylverfahrens in der Bundesrepublik Deutschland.
2. a) Der Antrag ist jedoch unbegründet, da zwar wohl von einem Anordnungsgrund auszugehen ist, weil nach einer etwaigen Entscheidung über den Asylantrag der Antragstellerin in Griechenland ein Nachzug zum Vater (und zu den Brüdern) nach den Regularien der Dublin III-VO ausgeschlossen ist; dies kann aber letztlich offenbleiben. Jedenfalls ist ein Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht worden.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnte. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache aber dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris Rn. 5, 7).
Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Der Antragstellerin hat weder einen Anspruch nach Art. 8 oder Art. 9 Dublin III-VO, noch nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO und auch nicht nach Art. 11 Buchst. a Dublin III-VO glaubhaft gemacht.
b) Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III-VO sind bereits deshalb nicht einschlägig, weil sie einen unbegleiteten Minderjährigen als Antragsteller voraussetzen. Minderjährig ist nach Art. 2 Buchst. i der Dublin III-VO, wer als Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser unter 18 Jahre alt ist.
Die Antragstellerin ist am … 2001 geboren und hat am 18. November 2019 erstmals einen Asylantrag auf der Insel L. in Griechenland gestellt. Dies ist gemäß Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens. Damit war die Antragstellerin zum Zeitpunkt der Asylantragstellung volljährig und Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III-VO scheiden aus.
Gleiches gilt für Art. 9 Dublin III-VO, der voraussetzt, dass der Antragsteller einen Familienangehörigen hat, der in einem anderen Mitgliedstaat als Begünstigter internationalen Schutzes aufenthaltsberechtigt ist. Familienangehöriger in diesem Sinne ist nach Art. 2 Buchst. g, dritter Spiegelstrich, zwar der Vater, allerdings nur, soweit es sich um einen minderjährigen und unverheirateten Antragsteller handelt.
c) Die Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO sind ebenso wenig erfüllt. Hierzu wäre neben dem Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen noch eine Ermessensreduzierung auf Null glaubhaft zu machen.
Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO kann derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Art. 8 bis 11 und 16 Dublin III-VO nicht zuständig ist. Die betreffenden Personen müssen dem schriftlich zustimmen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO. Bei den genannten humanitären Gründen handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auszulegen ist. Im Kontext der Dublin III-VO ist dabei eine Auslegung geboten, die dem Grundgedanken der Wahrung der Einheit der Familie und der Wahrung des Kindeswohls verpflichtet ist. Dies lässt sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 13 bis 17 der Dublin III-VO entnehmen, sowie übergeordnet Art. 7 GRCh sowie, wegen Art. 52 Abs. 3 GRCh, Art. 8 EMRK.
Zwar hat die Antragsgegnerin ihr Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt, da ihre Ablehnungsentscheidungen vom 2. März 2020 und vom 30. März 2020 ohne weitere Begründung das Vorliegen humanitärer Gründe verneinen. Wenigstens hätte in die Abwägung eingestellt werden müssen, dass die Antragsgegnerin nach Art. 8, jedenfalls nach Art. 9 Dublin III-VO, für die Asylverfahren der minderjährigen Brüder der Antragstellerin zuständig ist – was letztlich durch ihren Schriftsatz vom 8. Juni 2020 im Parallelverfahren AN 17 E 20.50201 anerkannt wurde – und sich aus der daraus folgenden Trennung der Brüder von ihrer Schwester, der Antragstellerin, zumindest erwägenswerte humanitäre Belange im Sinne des Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ergeben.
Gleichwohl genügt dies nicht, da ein Antrag nach § 123 VwGO nicht bereits bei einem Ermessensfehler der Behörde Erfolg hat, sondern erst dann, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null glaubhaft gemacht ist. Daran fehlt es hier.
Dies wäre nur anzunehmen, wenn über das regelmäßig bestehende Interesse von Kindern an einer Familienzusammenführung konkret und im Einzelfall Umstände vorliegen, die die Annahme einer besonderen Härte begründen und jede andere Entscheidung als eine Zusammenführung der genannten Personen als unvertretbar erscheinen ließen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte spielen dabei insbesondere das Alter des Kindes, der Umfang der Bindung des Kindes zu Familienmitgliedern, zu dem nachgezogen werden soll, sowie der Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, eine Rolle (vgl. EGMR, U.v. 30.7.2013 – Nr. 948/12 – BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.]). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist die Schutzwürdigkeit eines minderjährigen Kindes aufgrund seines Lebensalter sowie die Frage, wie lange dieses in einem anderen Staat als seine Familienangehörigen gelebt hat (EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – BeckRS 2006, 70498 Rn. 73-75), zu werten, wobei der EuGH in diesem Zusammenhang eine Altersgrenze von zwölf Jahren gebilligt hat.
Demnach kann für die Antragstellerin nicht von einer Ermessensreduzierung auf Null im Rahmen des Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO ausgegangen werden. Die Antragstellerin ist seit …2019 volljährig und hat keine Erkrankungen oder sonstigen Einschränkungen glaubhaft gemacht. Zwar wird eine Traumatisierung in Folge ihrer Flucht und der aktuellen Situation vorgetragen, allerdings ohne dies weiter zu spezifizieren oder qualifizierte ärztliche Atteste vorzulegen. Von einer volljährigen Person kann grundsätzlich auch ein selbstständiges Durchlaufen des Asylverfahrens in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, der für das Verfahren der übrigen Familienmitglieder verantwortlich ist oder war, erwartet werden. Sie ist anders als Kinder und Jugendliche nicht mehr auf die Fürsorge der Eltern angewiesen. Alleine die Tatsache, dass es sich bei der Antragstellerin um eine 19-jährige und – legt man die Zuständigkeitsübernahme hinsichtlich ihrer beiden Brüder zu Grunde – sich zukünftig alleine in Griechenland aufhaltende Frau handelt, ändert hieran nichts. Schon bislang finanziert der in Deutschland lebende Vater der Antragstellerin ihr und ihren Brüdern in Griechenland einen Aufenthalt in einem Hotel, so dass seine Kinder nicht auf einen Aufenthalt in einem der Flüchtlingslager oder einer staatlich organisierten Unterkunft angewiesen sind. Es ist davon auszugehen, dass diese Unterstützung für die Antragstellerin fortdauert. Aber selbst falls nicht, könnte die Antragstellerin, solange sie sich im griechischen Asylverfahren befindet grundsätzlich das ESTIA-Programm (Emergency Support to Accomodation and Integration System) mit seinen derzeit ca. 4.500 Appartements und insgesamt ca. 25.800 Unterbringungsplätzen (UNHCR, Fact Sheet Greece, Stand Dezember 2019) in Anspruch nehmen, sowie finanzielle Unterstützung im Rahmen des sog. Cash-Card-Programms (näher Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Griechenland, Stand 4.10.2019, S. 16). Nach einer etwaigen Anerkennung stünde grundsätzlich das Helios 2-Programm, ein von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Abstimmung mit dem griechischen Migrationsministerium entwickeltes und durch die EU finanziertes Integrationsprogramm mit 5000 Wohnungsplätze für anerkannte Schutzberechtigte, zur Verfügung (näher Auskunft des Auswärtigen Amtes an das VG Potsdam vom 23.8.2019, S. 2 f.).
Überdies spricht gegen eine Ermessensreduzierung auf Null mit Blick auf die Beziehung der Antragstellerin zu ihrem Vater, dass die Familie der Antragstellerin nicht während oder bei der gemeinsamen Flucht getrennt wurde, sondern ihr Vater bereits im Jahr 2015 alleine die Flucht nach Deutschland antrat, wohingegen die Antragstellerin und ihre beiden Brüder zunächst in Sy. bei einer Tante verblieben und erst 2019 über die Türkei nach Griechenland einreisten. Zwar besteht regelmäßiger telefonischer Kontakt und es erfolgten Besuche des Vaters auf der Insel L., gleichwohl mindert dies das Gewicht des Vortrags der Antragstellerin, auf die Unterstützung ihres Vaters angewiesen zu sein. Das Ermessen ist erst dann auf Null reduziert, wenn eine Lebensgemeinschaft zwischen der Antragstellerin und ihrem Vater unabdingbar wäre.
Die Beziehung zu ihren Brüdern, die sich durch deren Übernahme in das deutsche Asylverfahren und einen angenommenen Verbleib der Antragstellerin in Griechenland jedenfalls räumlich verschlechtern würde, ist zweifelsohne ein humanitärer Grund im Sinne des Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO. Daraus folgt aber, auch in Zusammenschau mit den bereits angesprochenen Aspekten, keine Ermessensreduzierung auf Null. Denn die Brüder haben fortan mit ihrem in Deutschland lebenden Vater eine elterliche Bezugsperson und der volljährigen und gesunden Antragstellerin kann zugemutet werden, vorerst in Griechenland alleine zu leben und das Asylverfahren zu durchlaufen. Zudem sind Besuche, wie bisher mehrfach durch den Vater in Griechenland, nicht ausgeschlossen. Die Umstände in der Person der Antragstellerin erreichen nicht die Dringlichkeit, die eine Herstellung der Lebensgemeinschaft mir ihrem Vater und ihren Brüdern in Deutschland als unabdingbar und jede andere Entscheidung als eine Zusammenführung als unvertretbar erscheinen lassen.
d) Auch ein Anspruch aus Art. 11 Buchst. a Dublin III-VO (Familienverfahren) scheidet aus, da die Antragstellerin nicht mehr minderjährig ist.
3. Die Kostenentscheidung des damit erfolglosen Antrags beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.

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