Aktenzeichen M 22 S 15.50879
Leitsatz
Anerkannte Schutzberechtigte werden sind regelmäßig außerstande sehen, wegen fehlender Lebensgrundlage dauerhaft in Bulgarien zu verbleiben. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 15. Oktober 2015 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller, ein irakischer Staatsangehöriger, reiste eigenen Angaben zufolge am 8. Juni 2015 in das Bundesgebiet ein und stellte am 4. August 2015 einen Asylantrag.
Nachdem die bulgarische Dublin-Unit einem Wiederaufnahmegesuch mit Schreiben 13. Oktober 2015 zugestimmt hatte – ausweislich eines Eurodac-Treffers hat der Antragsteller in Bulgarien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt – lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) den Asylantrag mit Bescheid vom 15. Oktober 2015 (zur Post gegeben am 27.10.2015) als unzulässig ab, ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Bulgarien an und verfügte eine vorsorgliche Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots auf 12 Monate ab dem Tag der Abschiebung. In den Bescheidsgründen wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass nach Auffassung des Bundesamtes systemische Mängel im bulgarischen Asylverfahren nicht vorlägen.
Am 2. November 2015 ließ der Antragsteller durch seine Bevollmächtigten gegen den Bescheid Klage erheben. Weiter beantragt er,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung von Klage und Antrag wurde vorgetragen, die Abschiebungsanordnung sei rechtswidrig, da in Bulgarien systemische Mängel des Asylsystems bestünden. Der Antrag des Klägers sei folglich im nationalen Verfahren zu prüfen. Mit Schriftsatz vom 9. Dezember 2015 wurde ein ärztliches Attest (vom 04.12.2015) vorgelegt, nach dem der Antragsteller unter anderem an einer PTBS leide und derzeit nicht reisefähig sei.
Die Antragsgegnerin hat sich zu dem Antrag nicht geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sachverhalt wird ergänzend auf die Gerichts- und die Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die mit dem Bescheid vom 15. Oktober 2015 verfügte Abschiebungsanordnung ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg. Nach der im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung ist davon auszugehen, dass die Klage voraussichtlich Erfolg haben wird. Die im Rahmen der Ermessensentscheidung über den Antrag vorzunehmende Interessenabwägung fällt bei dieser Sachlage zugunsten des Antragstellers aus.
1. Die Überstellung eines Asylbewerbers, auf dessen Schutzgesuch die Zuständigkeitsregelungen der Dublin III-VO anwendbar sind, in den an sich zuständigen Mitgliedstaat ist nicht zulässig, wenn sich dies als Verstoß gegen Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Grundrechtecharta) darstellen würde. Wie der EuGH im Urteil vom 21.12.2011 – C 411/10 u.a. – (NVwZ 2012, 417) noch zur Dublin II-VO ausgeführt hat, ist diese Bestimmung dahingehend auszulegen, dass es den Mitgliedstaaten einschließlich den nationalen Gerichten obliegt, einen Asylbewerber nicht an den nach den Dublin-Regelungen zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragssteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden (siehe hierzu auch EGMR, U.v. 21.01.2011 – Az. 30696/09 – NVwZ 2011, 413, zu Art. 3 EMRK).
Der Unionsgesetzgeber hat mit der Regelung des Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO diese Rechtsprechung aufgenommen und dazu klargestellt, dass für einen solchen Fall, wenn sich die Überstellung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat als unmöglich darstellt, der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung ggf. fortsetzt, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.
Das Urteil des EuGH wie auch die Regelung in Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO beziehen sich allerdings nur auf Fallgestaltungen, bei denen systemische Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingen für Antragsteller vorliegen und nicht auch auf die Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte (zu den gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben hierzu siehe Kapitel VII der Richtlinie 2011/95/EU). Das erkennende Gericht neigt aber der Auffassung zu, dass die im Urteil des EuGH entwickelten Grundsätze im Rahmen der Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin III-VO auch mit Blick auf die im betreffenden Mitgliedstaat bestehenden Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte jedenfalls dann Anwendung finden müssen, wenn die Lebensumstände, mit denen sich Schutzberechtigte konfrontiert sähen, mangels gebotener staatlicher Unterstützungs- bzw. Integrationsleistungen sich als mit den Anforderungen des Art. 4 Grundrechtecharta nicht vereinbar darstellen würden oder hierin eine Verletzung des Grundsatzes der Nichtzurückweisung (Refoulementverbot; vgl. Art. 33 Abs. 1 GFK und Art. 21 Abs. 1 Richtlinie 2011/95/EU) vor allem mit Blick auf eine faktisch erzwungene Rückkehr des Betroffenen in den Herkunftsstaat zu sehen wäre (wobei anzumerken ist, dass diese Fallgestaltung je nach den Umständen auch von Art. 4 Grundrechtecharta bzw. Art. 3 EMRK erfasst werden kann).
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 a.a.O. Rn. 75 m.w.N.- zum Schutz nach der GFK) oder ihm ein ernsthafter Schaden nach Maßgabe der Regelungen über den subsidiären Schutz drohen würde (vgl. Kapitel V der Richtlinie 2011/95/EU). Dies ist aber nur gewährleistet, wenn der Schutzberechtigte in dem zuständigen Mitgliedstaat Aufnahmebedingungen vorfindet, die einen Verbleib dort zumutbar erscheinen lassen, also davon ausgegangen werden kann, dass dieser dort eine Existenzgrundlage zu finden vermag. Ist dies nicht der Fall, ist die sich daraus ergebende Zwangslage für den Betroffenen in ihren Wirkungen einem Refoulement (Weiterschiebung ohne vorangehende Prüfung des Asylbegehrens) vergleichbar (unabhängig davon, ob sich dies auch als Verletzung von Art. 4 Grundrechtecharta darstellt), denn fehlt es im Zufluchtsstaat an einer materiellen Lebensgrundlage, wird der Betroffene, um nicht zugrunde zu gehen, sich veranlasst sehen, ggf. in sein Heimatland zurückzukehren, da sich ein anderer Staat, der ihn aufzunehmen bereit ist, kaum finden wird (zur Berücksichtigung einer solchen Situation als eigene Fallgruppe, die eine Ausnahme von den Vorgaben des Konzepts der normativen Vergewisserung bei Anwendung der Drittstaatenregelung des Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG rechtfertigen würde, vgl. Moll/Pohl, ZAR 2012, 102, 105 f).
Der Umstand, dass bei Anwendung der Dublin-Regelungen regelmäßig noch nicht feststeht, ob der Antragsteller als international Schutzberechtigter anzuerkennen ist, kann dabei nach Auffassung des Gerichts nicht dazu führen, dass die Gefahr eines mittelbaren Refoulement wegen defizitärer Aufnahmebedingen für Schutzberechtigte bei der Zuständigkeitsprüfung außer Betracht zu bleiben hätte. Eine solche Rechtsauffassung erscheint schwerlich vertretbar, weil damit dem Schutzsuchenden das Risiko einer faktischen Rechtschutzverweigerung bedingt durch Mängel des GEAS aufgebürdet würde, da Antragsteller, die tatsächlich schutzberechtigt sind, dann bei einer Überstellung in den betreffenden Mitgliedstaat (im Grunde sehenden Auges) in die vorbeschriebene Lage verbracht würden. Eine Feststellung dazu aber, dass eine Schutzberechtigung nicht besteht, kann im Zuständigkeitsbestimmungsverfahren nicht getroffen werden, so dass im Ergebnis auch Antragsteller, denen ein Schutzanspruch in der Sache nicht zusteht, begünstigt werden, was aber im Hinblick auf das Gebot, tatsächlich Schutzberechtigten eine effektive Durchsetzung ihrer Rechte zu gewährleisten, hingenommen werden muss.
2. Zur Streitsache ist danach Folgendes festzustellen:
Dahinstehen kann hier, ob bezüglich des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Bulgarien systemische Mängel vorliegen (was in der jüngeren Rechtsprechung überwiegend verneint wird, vgl. etwa VG München, B.v. 5.8.2016 – M 1 S 16.50377 – und B.v. 25.8.2016 – M 12 K 16.50117 – beide in juris).
Folgt man der unter 1. dargelegten Rechtsauffassung, dürfte aber davon auszugehen sein, dass eine Abschiebung des Antragstellers nach Bulgarien wegen der dort bestehenden Mängel bei den Aufnahmebedingungen für anerkannte Schutzberechtigte gleichwohl unzulässig wäre.
Wie sich den vorliegenden Erkenntnismitteln entnehmen lässt, die auf die Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien eingehen (siehe insbesondere die Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 23.07.2015 an das VG Stuttgart – 508-9-516.80/48488 und die Auskunft von Frau Dr. … vom 27.08.2015 an den VGH BW), stellen sich deren Lebensbedingungen, wenn sie nicht über ausreichend eigene Mittel verfügen, durchgehend mehr als prekär dar. So führt etwa das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 23. Juli 2015 aus, dass nur ein geringer Teil der anerkannten Schutzberechtigten in Bulgarien verbleibe, was insbesondere daran liege, dass es keinen konkreten nationalen Integrationsplan gebe und die reellen Chancen, sich in Bulgarien eine Existenz aufzubauen, sehr gering seien. Weiter wird festgestellt, dass der Zugang zum Arbeitsmarkt äußerst erschwert ist. Dies gelte sogar für den Schwarzmarkt (Antwort zu Frage 4 a). Sozialhilfeleistungen würden gleichfalls nur sehr wenige Schutzberechtigte erhalten. In der Regel bedeute der Erhalt eines Schutzstatus Obdachlosigkeit, da Schutzberechtigte auf dem Wohnungsmarkt geringe Chancen hätten bzw. ihre Situation durch das Verlangen horrender Mieten ausgenutzt werde (Antwort zu Frage 2). Schließlich verhält es sich danach auch so, dass mittellose Schutzberechtigte, weil sie sich die erforderliche Versicherung nicht leisten könnten, praktisch keinen Zugang zum Gesundheitssystem haben (Antwort zu Frage 3).
Diese alle Lebensbereiche erfassenden Defizite (Wohnung, Unterhalt, Zugang zum Arbeitsmarkt, Gesundheitsversorgung) sind aller Voraussicht nach als so erheblich zu werten, dass sie die Annahme rechtfertigen, dass Schutzberechtigte sich regelmäßig außerstande sehen werden, wegen fehlender Lebensgrundlage dauerhaft in Bulgarien zu verbleiben. Eine Abschiebung des Antragstellers würde daher wohl mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu einer Verletzung der Rechte aus Art. 4 Grundrechtecharta führen, sich jedenfalls aber als Verstoß gegen das Refoulementverbot darstellen, wenn diesem tatsächlich internationaler Schutz zustehen würde. Die Gefahr einer Verletzung der entsprechenden Rechte wird man aber wie bereits ausgeführt im Zuständigkeitsbestimmungsverfahren bereits dann berücksichtigen müssen, wenn eine Schutzberechtigung möglich erscheint, wovon vorliegend auszugehen ist (zur Frage des Abschiebungsschutzes für anerkannte Schutzberechtigte in Bezug auf Bulgarien nach Maßgabe von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK bzw. nach § 60 Abs. 7 AufenthG vgl. VG Münster, U.v. 15.12.2015 – 8 K 2599/14.A – BeckRS 2015, 56538; VG Köln, U.v. 26.11.2015 – 20 K 712/15.A – BeckRS 2015, 55745; VG Oldenburg, U.v. 4.11.2015 – 12 A 498/15 – juris; VG Stuttgart, U.v. 24.11.2015 – A 13 K 1733/15 – BeckRS 2015, 55752; VG des Saarlandes, U.v. 5.1.2016 – 3 K 1037/15 – juris; zum Anspruch auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens trotz einer Flüchtlingsanerkennung in Bulgarien siehe die Pressemitteilung des Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 07.11.2016 zu dem noch nicht veröffentlichten Urteil vom 4.11.2016 – 3 A 1292/16.A).
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).