Aktenzeichen M 19 S 18.52168
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 1, Abs. 2, Art. 13 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5
Leitsatz
Im gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht anzunehmen, dass ein Dublin-Rückkehrer aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.
Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Italien im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Die am … 1972 geborene Antragstellerin, eine nigerianische Staatsangehörige, reiste am 16. Mai 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Diese Angaben beruhen u.a. auf ihren Aussagen, sie legte ferner eine Staatsangehörigkeitsurkunde der Bundesrepublik Nigeria vor. Die Antragstellerin stellte hier am 7. Juni 2018 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag.
Bei ihrer Befragung/Anhörung durch das Bundesamt am 7. Juni 2018 gab sie an, seit ihrem Fortgang aus Nigeria im Jahr 2013 zunächst zwei Jahre in Libyen und sodann in Italien gelebt zu haben. Sie legte einen vorläufigen Arztbrief des Klinikums Fürstenfeldbruck – Frauenklinik vom 1. Juni 2018 vor, aus dem sich ergibt, dass sie an Menometrorhaghie bei Uterus myomatosus leide, sowie HIV positiv sei. Sie habe sich vom 30. Mai bis 1. Juni 2018 stationär in der Klinik aufgehalten. Als Therapie wurde Fortführung der Eisensubstitution empfohlen sowie die Wiedervorstellung zur Planung der weiteren Therapie.
Am 19. Juni 2018 wurde sie vom Bundesamt zur Zulässigkeit des Asylantrags sowie im Rahmen des § 25 AsylG angehört.
Eine Eurodac-Recherche am 16. Mai 2018 ergab einen Treffer der Kategorie 1 für Italien.
Das Bundesamt stellte am 20. Juni 2018 ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien, für das eine Zugangsbestätigung vorliegt, das aber bisher nicht beantwortet wurde.
Mit Bescheid vom 5. Juli 2018, zugestellt am 12. Juli 2018, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 6 Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass Italien aufgrund des dort gestellten Asylantrags für dessen Behandlung zuständig sei. Gründe zur Annahme systemischer Mängel im italienischen Asylverfahren und der dortigen Aufnahmebedingungen lägen nicht vor. Die Erkrankungen der Antragstellerin seien in Italien behandelbar.
Am 13. Juli 2018 erhob die Antragstellerin Klage zum Verwaltungsgericht München (M 19 K 18.52167). Gleichzeitig beantragte sie,
die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Abschiebungsandrohung nach Italien anzuordnen.
Zur Begründung wurde auf die Angaben beim Bundesamt Bezug genommen. Ferner legte die Antragstellerin erneut den vorläufigen Arztbrief des Klinikums Fürstenfeldbruck – Frauenklinik vom 1. Juni 2018 vor und führte aus, dass sie in Italien keine entsprechende Behandlung erhalten werde. Es gehe ihr hier besser.
Das Bundesamt legte die Asylakte auf elektronischem Weg vor, stellte aber keinen Antrag.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Verfahren und die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Er ist zwar zulässig, insbesondere wurde er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt.
Der Antrag ist jedoch nicht begründet.
Nach § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind einerseits das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und andererseits das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu.
An der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen bei summarischer Prüfung keine Zweifel. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
1. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Ausgehend von den Eurodac-Daten und dem Vortrag des Antragstellers ist vorliegend Italien für die Prüfung des Asylantrags zuständig.
Dies ergibt sich mangels vorrangiger Zuständigkeitskriterien aus Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO, da Italien der erste Mitgliedstaat war, dessen Grenze die Antragstellerin aus einem Drittstaat kommend – ohne Aufenthaltsrecht und damit illegal – überschritten hat. Diese Zuständigkeit ist aufgrund der Antragstellung binnen Jahresfrist nicht nach Art. 13 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO entfallen. Auch trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO ein, weil das Wiederaufnahmegesuch für die Antragstellerin fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung bzw. von drei Monaten nach Asylantragstellung erfolgte. Die italienischen Behörden haben hierauf nicht geantwortet, so dass davon auszugehen ist, dass dem Wiederaufnahmegesuch stattgegeben wurde (Art. 25 Abs. 2 Dublin III-VO). Italien ist daher nach Art. 25 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO innerhalb der offenen sechsmonatigen Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet, die Antragstellerin wieder aufzunehmen.
2. Die Überstellung an Italien ist auch nicht rechtlich unmöglich im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Dies würde voraussetzen, dass es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der EU-Grundrechtecharta entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragstellerin führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EU-Grundrechtecharta ausgesetzt zu werden. Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelmäßig so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – Rn. 86 ff.; BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Ls. und Rn. 6).
Ausgehend von diesen Maßstäben ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht anzunehmen, dass die Antragstellerin aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Es mag zwar vorkommen, dass Asylsuchende während der Bearbeitung ihres Asylantrags in Italien auf sich alleine gestellt und zum Teil obdachlos sind. Dies wird in aktuellen Erkenntnismitteln erwähnt, wie etwa dem Länderbericht des Europäischen Flüchtlingsrats (ECRE) für das Projekt AIDA – Asylum Information Database – zu Italien, Update Februar 2017, und dem Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe von August 2016 (abrufbar unter: http://www.asylumineurope.org/reports/country/italy, https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/news/2016/160815-sfh-bericht-italien-aufnahmebedingungen-final.pdf). Diese Umstände und auch die teilweise lange Dauer von Asylverfahren sind darauf zurückzuführen, dass das italienische Asylsystem aufgrund der hohen Asylbewerberzahlen stark ausgelastet und an der Kapazitätsgrenze ist. Die im Bereich der Unterbringung und Versorgung der Asylbewerber feststellbaren Defizite sind jedoch weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten, dass ein grundlegendes, systemisches Versagen des Mitgliedstaats vorläge, mit der Folge einer zu prognostizierenden, systembedingt unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 EU-Grundrechtecharta oder Art. 3 EMRK. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der italienische Staat hiergegen wirksame Gegenmaßnahmen ergriffen und dass der UNHCR weiterhin keine generelle Empfehlung dahingehend ausgesprochen hat, Asylbewerber nicht nach Italien zu überstellen. Der Umstand, dass sich die Situation der Antragstellerin in Italien gegebenenfalls als deutlich schlechter darstellen mag als im Bundesgebiet, begründet keinen systemischen Mangel des Asylverfahrens (vgl. EGMR, B.v. 2.4.2013 – Nr. 27725/10 – juris).
Eine andere Beurteilung der Situation in Italien ist auch nicht vor dem Hintergrund des Vorlagebeschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Juni 2017 (1 C 26.16 – juris) und des Vorabentscheidungsersuchens des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg an den Europäischen Gerichtshof vom 15. März 2017 (A 11 S 2151/16 – juris) geboten. Die jeweils gestellten Fragen betreffen nicht das konkrete Verfahren der Antragstellerin (vgl. BVerfG, B.v. 14.12.2017 – 2 BvR 1872/17 – juris Rn. 20 ff.).
Schließlich folgt nichts anderes aus dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 4. November 2014 im Verfahren … / Schweiz (Nr. 29217/12; NVwZ 2014, 127), weil sich daraus lediglich eine Einschränkung für die Abschiebung von Familien mit Kleinkindern nach Italien ergibt. Zudem hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 5. Februar 2015 im Verfahren A.M.E. / Niederlande (Nr. 51428/10; juris) entschieden, dass die Struktur und die Gesamtsituation des italienischen Flüchtlings- und Asylbewerberaufnahmesystems kein genereller Grund sind, eine Überstellung im Zuge des Dublin-Verfahrens zu verbieten.
Nach alledem vermag das Gericht – jedenfalls soweit es sich nicht um besonders schutzbedürftige Personen handelt – derzeit keine systemischen Mängel des Asylverfahrens in Italien zu erkennen und schließt sich damit der ganz überwiegenden Meinung in der Rechtsprechung an (vgl. nur VG München, B.v. 11.5.2018 – M 9 S 17.51806; B.v. 3.4.2018 – M 3 S 18.50618; OVG Lüneburg, U.v. 6.4.2018 – 10 LB 109/18 – juris Ls. und Rn. 26; BayVGH, U.v. 28.02.2014 – 13a B 13.30295 – juris). Individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig machen, sind nicht ersichtlich.
3. Der Abschiebung stehen zudem weder zielstaatsbezogene noch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse entgegen, so dass sie auch im Sinne des § 34a AsylG durchgeführt werden kann. Die Erkrankungen der Antragstellerin stehen ihrer Reisefähigkeit nicht entgegen. Der vorgelegte Arztbrief des Klinikums Fürstenfeldbruck erfüllt nicht die Anforderungen des § 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung. Denn zwar ergibt sich aus diesem, dass die Klägerin HIV positiv ist sowie an Menometrorhaghie (Zwischenblutungen) bei Uterus myomatosus leidet. Es ist jedoch nicht festgestellt, dass sich ihre Erkrankung für den Fall einer Rückführung nach Italien erheblich verschlechtern würde oder sie reiseunfähig ist.
Für die medizinische Versorgung der Antragstellerin ist sowohl bezüglich ihrer HIV-Infektion als auch ihrer Unterleibserkrankung auch in Italien gesorgt, sodass kein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis für Italien vorliegt, § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG. Danach soll von der Abschiebung abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Es ist nach der aktuellen Erkenntnislage davon auszugehen, dass die Antragstellerin in Italien hinreichenden Zugang zur Gesundheitsversorgung erhält. Asylbewerber haben nach entsprechender Registrierung und unter Vorlage einer Gesundheitskarte einen effektiven Zugang zu allen wesentlichen Formen der Gesundheitsversorgung in Italien (vgl. z.B. VG Düsseldorf, B.v. 18.1.2017 – 12 L 3754/16.A – juris Rn. 29f.).
Der Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83 b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).