Europarecht

Erfolgreiche Klage eines unbegleiteten Minderjährigen gegen Rückführung nach Slowenien im Rahmen des Dublin-Verfahrens

Aktenzeichen  M 24 K 14.50347

Datum:
13.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 7, Art. 8, Art. 18
AsylG AsylG § 27a, § 34a

 

Leitsatz

Für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ist nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO der Zeitpunkt maßgeblich, zu dem der Asylbewerber zum ersten Mal einen Asylantrag gestellt hat. (red. LS Clemens Kurzidem)
Eine afghanische Tazkira besitzt keinen einer deutschen Geburtsurkunde vergleichbaren Beweiswert, was umgekehrt nicht bedeutet, dass jede in einem Asylverfahren vorgelegte Tazkira inhaltlich unrichtig oder gefälscht sein muss.  (red. LS Clemens Kurzidem)
Eine ärztliche Alterseinschätzung erfordert, dass im Wege einer zusammenfassenden Begutachtung die Ergebnisse einer körperlichen Untersuchung unter Erfassung anthropometrischer Maße, sexueller Reifezeichen und möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen, gegebenenfalls auch einer Röntgenuntersuchung der Hand und der Schlüsselbeine, sowie einer zahnärztlichen Untersuchung zu einer abschließenden Altersdiagnose zusammengeführt werden (wie VGH München BeckRS 2014, 56870). (red. LS Clemens Kurzidem)
Der nach Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO zuständige Mitgliedstaat richtet sich nach dem Wohl des Minderjährigen. Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs regelmäßig derjenige Staat, in dem sich der Minderjährige aufhält, da unter dem Gesichtspunkt der Betreuung Minderjähriger unnötige Erschwernisse, die ein Wechsel des Mitgliedsstaates mit sich brächte, vermieden werden sollen (vgl. EuGH BeckRS 2013, 81155). (red. LS Clemens Kurzidem)
Die Annahme eines Wiederaufnahmegesuchs führt nach dem Wortlaut der einschlägigen Vorschrift (Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin III-VO) nicht zu einem Zuständigkeitswechsel, sondern verpflichtet nur zur Wiederaufnahme (vgl. BVerwG BeckRS 2015, 55772). In der Annahme eines Wiederaufnahmegesuchs ist, da sie eine reine Verfahrenshandlung darstellt, auch nicht ohne Weiteres eine konkludente Ausübung des Selbsteintrittsrechts zu sehen (BVerwG BeckRS 2015, 55772). (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Der Bescheid der Beklagten vom 11. Juni 2014 wird aufgehoben. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II.
Die Kosten des Verfahrens haben der Kläger zu ¼ und die Beklagte zu ¾ zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat zum überwiegenden Teil Erfolg.
1. Das Gericht konnte gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtete haben. Die Klagepartei hat mit Schriftsatz vom 6. Mai 2016, die Beklagte mit allgemeingültiger Prozesserklärung vom 25. Februar 2016 den Verzicht erklärt.
2. Die Klage ist teilweise zulässig. Gegen die Entscheidung des Bundesamtes, den Asylantrag gem. § 27 a Asylgesetz (AsylG) als unzulässig abzulehnen, ist die isolierte Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, U. v. 27.10.2015 – 1 C 32/14 – juris Rn. 13 ff.; BayVGH, U. v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris; OVG Hamburg, B. v. 2.2.2015 – 1 Bf 208/14.AZ – juris; VGH BW, U. v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris). Da das Bundesamt mit der Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids bereits von Gesetzes wegen zur Fortführung des Asylverfahrens verpflichtet ist, besteht kein Rechtsschutzbedürfnis für ein über die Anfechtung des Bescheids hinausgehendes Verpflichtungsbegehren. Die Klage war daher abzuweisen, soweit über die Aufhebung des streitgegenständlichen Bescheids hinaus beantragt wurde, die Beklagte zu verpflichten, ein Asylverfahren durchzuführen bzw. hilfsweise den Asylantrag neu zu verbescheiden.
3. Soweit die Klage zulässig ist, hat sie auch in der Sache Erfolg. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Beklagte hat den Asylantrag zu Unrecht gem. § 27a AsylG als unzulässig abgelehnt.
3.1. Nach § 27a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
3.2. Maßgeblich für die Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO). Die Dublin III-VO ist gem. Art. 49 Unterabs. 2 Satz 1 Alternative 2 Dublin III-VO auf den vorliegenden Fall anwendbar, da der Antrag auf internationalen Schutz nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurde. Bei der Bestimmung des für die Durchführung eines Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaats finden die in Kapitel III der Dublin III-VO genannten Kriterien in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung. Nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO ist bei der Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates von der Situation auszugehen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat einen Asylantrag stellt. Es ist daher auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der ersten Asylantragstellung in der Slowakischen Republik abzustellen, d. h. auf die Verhältnisse am 18. Februar 2014.
3.3. Art. 8 Dublin III-VO trifft besondere Zuständigkeitsregelungen für die Behandlung von unbegleiteten Minderjährigen. Diese gehen der offenbar vom BAMF dem streitgegenständlichen Bescheid zugrunde gelegten Grundregel, wonach das Asylverfahren in dem ersten Mitgliedstaat durchzuführen ist, in dem der Asylsuchende einen Asylantrag gestellt hat (Art. 3 Abs. 2 und Art. 13 Abs. 2 Dublin III-VO), im Rang vor.
3.4. Das Gericht geht davon aus, dass der Kläger im nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt der ersten Asylantragstellung (18. Februar 2014) minderjährig im Sinne von Art. 2 Buchst. i) Dublin III-VO, d. h. unter 18 Jahre alt, war.
3.4.1. Der Kläger hat bei seinem Aufgriff durch die Bundespolizei selbst angegeben, minderjährig zu sein. Auch in der Slowakischen Republik wurde er ausweislich des im EURODAC-Treffer angegebenen Geburtsdatums als minderjährig geführt. Die in den Akten befindlichen Lichtbilder stehen der damaligen Angabe des Klägers, minderjährig zu sein, nicht ersichtlich entgegen. Zum Nachweis der Minderjährigkeit hat der Kläger in Ermangelung eines Ausweisdokuments eine Tazkira vorgelegt. Anhaltspunkte dafür, dass diese inhaltlich unrichtig und/oder gefälscht wäre, sind von der Beklagten weder vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Dem Gericht ist bekannt, dass eine afghanische Tazkira nicht einen einer deutschen Geburtsurkunde vergleichbaren Beweiswert hat, dies bedeutet umgekehrt aber nicht, dass jede Tazkira inhaltlich unrichtig oder gefälscht wäre.
3.4.2. Die ärztliche Altersschätzung vermag die Altersangabe des Klägers nicht zu erschüttern. Sie genügt nicht den Anforderungen an eine zuverlässige Altersdiagnostik. Nach der Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs ist dafür regelmäßig zu fordern, dass im Wege einer zusammenfassenden Begutachtung die Ergebnisse einer körperlichen Untersuchung unter Erfassung anthropometrischer Maße, sexueller Reifezeichen und möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen, gegebenenfalls auch einer Röntgenuntersuchung der Hand und der Schlüsselbeine, sowie einer zahnärztlichen Untersuchung zu einer abschließenden Altersdiagnose zusammengeführt werden (BayVGH, B. v. 23.9.2014 – 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 – juris Rn. 21). Da die ärztliche Einschätzung im vorliegenden Fall lediglich einen Einzelaspekt der Altersdiagnostik herausgreift, kann sie Zweifel an der Altersangabe des Klägers nicht begründen. Sie ist dementsprechend auch lediglich als „vorläufiger Befund“ bezeichnet. Basierend auf einer Röntgenuntersuchung der linken Hand trifft sie bereits nach ihrem Wortlaut („eine normale statistische Knochenreifung vorausgesetzt und ohne mögliche Berücksichtigung eventueller individueller Schwankungen“) eine lediglich statistisch gemittelte Aussage ohne Berücksichtigung individueller Besonderheiten. Eine umfassende körperliche Untersuchung im oben genannten Sinne und eine zahnärztliche Untersuchung wurden nicht vorgenommen. Zudem ist die ärztliche Einschätzung auch im Hinblick auf den Begriff des „18-jährigen“ Mannes nicht eindeutig, da zweifelhaft ist, ob der im 18. Lebensjahr stehende Mann gemeint ist oder derjenige, der das 18. Lebensjahr vollendet hat.
3.4.3. Die Beklagte hat sich auch auf richterlichen Hinweis vom 25. April 2016 hin nicht zu der Problematik geäußert. Da aus Sicht des Gerichts keine begründeten Zweifel an der Altersangabe des Klägers bestehen, war eine weitere Sachverhaltsaufklärung nicht veranlasst.
3.5. Der minderjährige Kläger ist unbegleitet im Sinne von Art. 2 Buchst. j) Dublin III-VO, da er ohne Begleitung eines für ihn verantwortlichen Erwachsenen eingereist ist.
3.6. Die Zuständigkeit der Beklagten ergibt sich im vorliegenden Fall aus Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO. Nachdem sich kein Familienangehöriger im Sinne von Art. 2 Buchst. g) Dublin III-VO, kein Geschwister und auch kein Verwandter im Sinne von Art. 2 Buchst. h) Dublin III-VO im nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt der ersten Asylantragstellung rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhielt, und damit Art. 8 Abs. 1 und 2 nicht in Betracht kommen, ist nach Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO der zuständige Mitgliedstaat danach zu bestimmen, was dem Wohl des Minderjährigen zu dienen bestimmt ist. Das ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs regelmäßig der Staat, in dem sich der Minderjährige aufhält, da unter dem Gesichtspunkt der Betreuung Minderjähriger unnötige Erschwernisse, die ein Wechsel des Mitgliedsstaates mit sich brächte, vermieden werden sollen (EuGH, U. v. 6.6.2013 – C-648/11 – juris; BVerwG, U. v. 16.11.2015 – 1 C 4.15 – juris Rn. 19).
3.7. Der Zuständigkeit der Beklagten steht auch die Annahme des Wiederaufnahmegesuchs durch die Slowakische Republik nicht entgegen. Allein die Annahme eines Wiederaufnahmegesuchs führt schon nach dem Wortlaut der einschlägigen Vorschrift (Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO) nicht zu einem Zuständigkeitswechsel, sondern verpflichtet nur zur Wiederaufnahme (BVerwG, U. v. 16.11.2015 – 1 C 4.15 – juris Rn.22 mit Verweis auf EuGH v. 6. Juni 2013 – C-648/11 – juris). In der Annahme eines Wiederaufnahmegesuchs ist, da sie eine reine Verfahrenshandlung darstellt, auch nicht etwa ohne weiteres eine konkludente Ausübung des Selbsteintrittsrechts zu sehen (BVerwG, a. a. O. Rn. 23).
3.8. Die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig (Ziff. 1 des Bescheids) ist daher von § 27a AsylG nicht gedeckt und rechtswidrig. Die Zuständigkeitsbestimmungen für unbegleitete Minderjährige sind individualschützend, da sie nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern auch dem Grundrechtsschutz dienen (BVerwG, U. v. 16.11.2015 – 1 C 4.15 – juris Rn. 24 und Leitsatz). Der Kläger ist mithin in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Da die Voraussetzungen des § 27a AsylG nicht vorliegen, ist auch die Abschiebungsandrohung nach § 34 a AsylG rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.
Der streitgegenständliche Bescheid war daher insgesamt aufzuheben.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Der Kläger hat mit der Anfechtungsklage obsiegt. Mit der Aufhebung des Bescheids ist die Beklagte kraft Gesetzes verpflichtet, ein Asylverfahren durchzuführen, so dass der Kläger auch das mit der mangels Rechtsschutzbedürfnis unzulässigen Verpflichtungsklage verfolgte Ziel im Ergebnis erreicht. Vor diesem Hintergrund ist das Obsiegen des Klägers hinsichtlich der Anfechtungsklage mit drei Vierteln und sein Unterliegen mit einem Viertel zu bewerten.
5. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 und Abs. 1 Satz 1 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).

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