Aktenzeichen M 16 K 15.50326
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29
Leitsatz
1 Der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, muss die Folgen tragen (ebenso VGH München BeckRS 2015, 46404). (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Ausspruch, dass der Asylantrag mangels Zuständigkeit unzulässig ist, enthält nicht zugleich eine materiellrechtliche Aussage dahingehend, dass ein weiteres Asylverfahren iSv § 71a AsylG nicht durchzuführen ist (ebenso VGH München BeckRS 2015, 46404). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom … März 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet das Gericht ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Anfechtungsklage ist zulässig (vgl. BVerwG, U. v. 27.10.2015 – 1 C 32.14 – juris Rn. 13; BayVGH, B. v. 29.1.2015 – 13a B 14.50039 – juris Rn. 17) und begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom … März 2015 ist im maßgeblichen Zeitpunkt dieser Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die unter Nr. 1 des angegriffenen Bescheides erfolgte Ablehnung des Antrags des Klägers als unzulässig ist aufgrund des zwischenzeitlichen Ablaufs der sog. Überstellungsfrist und des hierdurch bedingten Zuständigkeitsübergangs auf die Bundesrepublik Deutschland rechtswidrig geworden.
Maßgeblich für die Zuständigkeitsbestimmung ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), weil das streitgegenständliche Gesuch auf internationalen Schutz nach dem 1. Januar 2014 gestellt worden ist (Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO).
Für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers war ursprünglich Bulgarien gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO zuständig, weil der Kläger nach eigenem Vortrag aus der Türkei kommend zuerst nach Bulgarien eingereist ist. Dementsprechend haben die bulgarischen Behörden auch ihr Einverständnis mit der Rückübernahme des Klägers erklärt.
Nach Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO erfolgt die Überstellung aus dem ersuchenden Mitgliedstaat in den zuständigen Mitgliedstaat gemäß den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats nach Abstimmung der beteiligten Mitgliedstaaten, sobald dies praktisch möglich ist und spätestens innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat. Wird die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt, ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über (Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO). Dieser Übergang der Zuständigkeit nach Ablauf der Sechsmonatsfrist stellt keinen fingierten Selbsteintritt, sondern eine besondere Zuständigkeitsnorm dar, die lediglich vom Ablauf der Frist abhängig ist. Die Regelung stützt sich auf die Überlegung, dass der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, die Folgen tragen muss (BayVGH, B. v. 11.5.2015 – 13a ZB 15.50006 – Rn. 5).
Die Überstellungsfrist ist im vorliegenden Fall abgelaufen. Dies gilt selbst dann, wenn man davon ausgeht, dass die Frist mit der Ablehnung eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO neu in Lauf gesetzt wird (so SächsOVG, B. v. 5.10.2015 – 5 B 259/15.A – juris). Denn der entsprechende Beschluss wurde den Beteiligten ausweislich der Empfangsbekenntnisse am 30. Juni bzw. 3. Juli 2015 zugestellt. Gründe für eine Verlängerung der Frist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO lagen nicht vor.
Damit ist der Antrag des Klägers nicht mehr nach § 27a AsylG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig. Dass Bulgarien sich entgegen der europarechtlichen Bestimmungen nicht auf den Fristablauf berufen wird und ausnahmsweise dennoch zur Übernahme des Klägers bereit ist, ist weder mitgeteilt worden noch kann hiervon grundsätzlich ausgegangen werden (vgl. BayVGH, B. v. 11.2.2015 – 13a ZB 15.50005 – juris Rn. 4; B. v. 26.6.2015 – 11 ZB 15.50021 – juris Rn. 8). Für das Verwaltungsgericht besteht auch keine Veranlassung im Wege der Amtsermittlung der Frage nachzugehen, ob Bulgarien trotz des Ablaufs der Überstellungsfrist zur Wiederaufnahme des Klägers bereit wäre. Vielmehr hätte es dem Bundesamt oblegen, diese Frage rechtzeitig zu klären und das Ergebnis in das verwaltungsgerichtliche Verfahren einzuführen (vgl. BayVGH, B. v. 1.6.2015 – 11 ZB 15.50090 – juris Rn. 9).
Der Kläger ist durch den streitgegenständlichen Bescheid auch in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Zwar richten sich die Bestimmungen der Dublin-Verordnungen als zwischenstaatliche Regelungen vorrangig an den Mitgliedstaat und begründen keine subjektiven Rechte der Asylbewerber (EuGH, U. v. 14.11.2013 – C-4/11 – juris; BVerwG U. v. 27.10.2015 – 1 C 32.14 – juris Rn. 17; OVG SH, B. v. 24.2.2015 – 2 LA 15/15 – juris m. w. N.). Wenn allerdings – wie hier – wegen Ablaufs der Überstellungsfrist eine Überstellung in den anderen Mitglied- oder Vertragsstaat nicht (mehr) möglich ist und allein die Zuständigkeit der Beklagten bleibt, liegen die Voraussetzungen für die Ablehnung des Antrags als unzulässig im Sinne des § 27a i. V. m. § 31 Abs. 6 AsylG nicht mehr vor (vgl. VGH BW, U. v. 29.4.2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 32). Durch die Aufrechterhaltung der rechtswidrig gewordenen Regelung unter Nr. 1 des angegriffenen Bescheids ist der Kläger in seinem subjektiven Recht auf ordnungsgemäße Prüfung seines Asylbegehrens in der zuständig gewordenen Bundesrepublik Deutschland verletzt. Durch den Fristablauf wird das Verfahren in den Zustand zurückversetzt, in dem es sich bei Antragstellung in Deutschland befunden hat. Damit lebt die Pflicht der Beklagten zur Behandlung des Asylantrags wieder auf. Im Ergebnis geht es daher nicht um eine unionsrechtlich determinierte Zuständigkeitsbestimmung, der die subjektive Komponente fehlt, sondern um die ordnungsgemäße Durchführung des Verfahrens im innerstaatlichen Bereich (vgl. VG Hannover, U. v. 22.4.2015 – 1 A 9674/14 – juris Rn. 21).
Eine Umdeutung des streitgegenständlichen Dublin-Bescheides in eine ablehnende Entscheidung nach § 71a AsylG kommt nicht in Betracht, da die Voraussetzungen des § 47 VwVfG nicht vorliegen. Dies ist zwischenzeitlich auch obergerichtlich geklärt (vgl. BVerwG, U. v. 16.11.2015 – 1 C 4.15 – juris Rn. 26ff.; BayVGH, B. v. 10.8.2015 – 13a ZB 15.50052 – juris Rn. 7; B. v. 3.8.2015 – 11 ZB 15.50100 – juris Rn. 12; B. v. 29.7.2015 – 13a ZB 15.50096 – juris Rn. 13; B. v. 20.7.2015 – 13a ZB 15.50095 – juris Rn. 9).
Nach alledem liegen auch die Voraussetzungen des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG für eine Abschiebungsanordnung nach Bulgarien nicht mehr vor. Der streitgegenständliche Bescheid war somit insgesamt aufzuheben.
Der Klage war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Gerichtskostenfreiheit ergibt sich aus § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V. mit §§ 708 ff. ZPO.