Europarecht

Kein Anspruch auf Selbsteintritt wegen Betreuung des erkrankten Sohnes

Aktenzeichen  W 8 S 17.50323

Datum:
19.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a, § 77 Abs. 2
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 16 Abs. 1, Art. 17 Abs. 1
GRCh GRCh Art. 4

 

Leitsatz

1. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass das estnische Asylsystem an systemischen Mängeln im Sinne des Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO leidet, aufgrund derer die dorthin rücküberstellten Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh ausgesetzt wären. (Rn. 12 – 13) (redaktioneller Leitsatz)
2. Voraussetzung für die Anwendung des § 16 Abs. 1 Dublin III-VO ist, dass anhand ärztlicher Atteste glaubhaft ist, dass der Betreffende an einer schweren Krankheit leidet, aufgrund der er zwingend auf die Unterstützung der Eltern bzw. eines Elternteils angewiesen wäre. Allein eine schwere Erkrankung begründet noch keinen Anspruch auf die Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO, wenn diese regelmäßig auch so im zuständigen Mitgliedsstaat behandelbar ist. (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wird abgelehnt.
II. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragstellerin ist armenische Staatsangehörige. Sie reiste am 18. März 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 30. März 2017 einen Asylantrag.
Nach den Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) vor. Auf ein Übernahmeersuchen vom 2. Mai 2017 erklärten die estnischen Behörden mit Schreiben vom 29. Mai 2017 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrages gemäß Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO.
Mit Bescheid vom 6. Juni 2017 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Estland wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Am 16. Juni 2017 erhob die Antragstellerin im Verfahren W 8 K 17.50322 Klage und beantragte im vorliegenden Verfahren:
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung vom 6. Juni 2017 wird angeordnet.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Klageverfahrens W 8 K 17.50322) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens der Antragstellerin ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass sie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bundesamtsbescheides vom 6. Juni 2017 begehrt, zumal ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO betreffend die übrigen Nummern des streitgegenständigen Bescheides unzulässig wäre.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO – betreffend die Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids – ist zulässig, aber unbegründet.
Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 6. Juni 2017 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtmäßig und verletzt die Antragstellerin nicht in ihren Rechten, so dass das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse der Antragstellerin, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, überwiegt.
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheides verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Das Vorbringen der Antragstellerseite führt zu keiner anderen Beurteilung.
Estland ist für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß den Vorschriften der Dublin III-VO zuständig (§§ 34a, 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. der Dublin III-VO). Die Zuständigkeit Estlands ergibt sich vorliegend aus Art. 12 Abs. 4 Dublin III-VO.
Außergewöhnliche Umstände, die möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO bzw. für eine entsprechende Pflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere ist nach derzeitigem Erkenntnisstand und unter Berücksichtigung der hierzu einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u.a. – NVwZ 2012, 417) nicht davon auszugehen, dass das estnische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer die dorthin rücküberstellten Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechtscharta (GRCharta) ausgesetzt wären. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen bestehen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen solcher Mängel im estnischen Asylsystem, zumal die Antragstellerin nichts Dahingehendes vorgebracht hat.
Ergänzend ist anzumerken, dass trotz einzelner Kritik hinsichtlich der Umverteilung von Asylsuchenden, auch von Familien (vgl. Amnesty International, Amnesty Report Estland 2017 vom 15.5.2017), in Estland ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit existiert. Auch Dublin-Rückkehrer haben Zugang zum Asylsystem sowie zu medizinischer Versorgung samt Medikation sowie zur Rückkehrhilfe. Spezifische Situationen schutzbedürftiger Personen werden berücksichtigt. Während des laufenden Asylverfahrens haben die Asylbewerber Zugang zu folgenden Leistungen: Unterbringung, Verpflegung, Ausstattung mit Hygieneartikel, Kleidung usw., Handgeld, medizinische Untersuchung und notwendige medizinische Behandlung, Übersetzerleistungen und Sprachtraining, Information, Kostenübernahme für öffentlichen Transport für Amtswege und andere notwendige Leistungen. Die medizinische Betreuung, einschließlich Zahnbehandlung sowie verschriebene Medikamente, ist kostenfrei. Die medizinischen Behandlungsmöglichkeiten sind wie generell in der EU im ausreichenden Maß verfügbar. Weiter gibt es für schutzberechtigte Flüchtlinge die notwendige Unterstützung bei der Integration, auch bzgl. Arbeitsplätze, Schul- und Kindergartenplätze, Sprachkurse usw. Schutzberechtigte sind zu denselben Leistungen berechtigt wie estnische Bürger (vgl. im Einzelnen BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Estland v. 14.3.2017, S. 6 ff. m.w.N.).
Ferner ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin ermessensfehlerhaft keinen Gebrauch von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Dublin III-VO gemacht hat. Konkret sind insbesondere keine gewichtigen Erkrankungen ersichtlich, die in Estland nicht behandelt bzw. weiterbehandelt werden könnten.
Des Weiteren besteht auch nicht im Hinblick auf die von der Antragstellerin – nur pauschal – behauptete schwere Erkrankung des volljährigen Sohnes samt stationärer Behandlung im Krankenhaus ein Anspruch auf Selbsteintritt (vgl. Art. 16 und 17 der Dublin III-VO). Zweck des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO ist es wegen einer aktuellen Hilfsbedürftigkeit, etwa auch eines volljährigen Kindes, dem Familienmitglied die Hilfeleistung, Unterstützung und familiäre Fürsorge zu ermöglichen; eine Trennung soll vermieden werden. Voraussetzung für die Anwendung des § 16 Abs. 1 Dublin III-VO ist, dass anhand ärztlicher Atteste glaubhaft ist, dass der betreffende an einer schweren Krankheit leidet, aufgrund der er zwingend auf die Unterstützung der Eltern bzw. eines Elternteils angewiesen wäre. Dabei ist das die Zuständigkeit begründete Abhängigkeitsverhältnis auf Ausnahmesituationen besonderer Hilfsbedürftigkeit beschränkt. Allein das Vorhandensein – auch einer schweren Erkrankung – begründet noch keinen Anspruch auf die Ausübung des Selbsteintrittsrechts, wenn diese regelmäßig auch so im zuständigen Mitgliedsstaat behandelbar ist (VG München, U.v. 6.5.2016 – M 12 K 15.50793 – juris).
Die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO liegen danach nicht vor. Erforderlich ist nämlich eine besondere Hilfsbedürftigkeit, die sich zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt nicht feststellen lässt. Zur Erkrankung des Sohnes fehlt jegliche Substanziierung anhand von ärztlichen Stellungnahmen, die belegen, dass der Sohn derzeit zwingend auf die Unterstützung seiner Mutter angewiesen ist, wie sich die Unterstützungshandlungen konkret darstellen und welche Auswirkungen diese auf den gesundheitliche Zustand haben. Weiter mangelt es an substanziierten Belegen, dass eine Behandlung bzw. Weiterbehandlung des Sohnes nur in Deutschland möglich ist und dass er darüber hinaus zwingend auf die Anwesenheit seiner Mutter in Deutschland angewiesen wäre. Es ist nichts dafür vorgebracht oder sonst ersichtlich, dass eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr des Eintritts gravierender gesundheitliche Folgen im Fall der Trennung besteht, denen nicht anders begegnet werden könnte, als durch eine gemeinsame Anwesenheit in Deutschland.
Schließlich bestehen auch keine inlandsbezogenen Abschiebungshindernisse, die die Antragsgegnerin selbst zu berücksichtigen hätte. Eine Reise- oder Transportunfähigkeit wurde von der Antragstellerin nicht substanziiert geltend gemacht und ist auch sonst nicht ersichtlich.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage war daher abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.

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