Europarecht

Keine Abschiebung eines möglicherweise Minderjährigen nach Griechenland nach mangelhafter Altersfeststellung

Aktenzeichen  M 19 S 19.51178

Datum:
13.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 47008
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 24, § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34a
SGB VIII § 42f
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 UAbs. 2, UAbs. 3, Art. 13 Abs. 1 S. 1, Art. 16
GRC Art. 4
VwGO § 80 Abs. 5

 

Leitsatz

1. Es gibt bei summarischer Prüfung wesentliche Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Griechenland für (jedenfalls möglicherweise) minderjährige Personen systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRC mit sich bringen (Rn. 27). (redaktioneller Leitsatz)
2. Im Asylverfahren obliegt gemäß § 24 AsylG die Sachverhaltsermittlung grundsätzlich dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Es ist an die Feststellung des Jugendamts zum Alter des Asylantragstellers nicht gebunden, aber grundsätzlich auch nicht daran gehindert, sie zu übernehmen; Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass das Jugendamt die Vorgaben des § 42f SGB VIII beachtet hat (Rn. 34). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 30. Oktober 2019 gegen den Bescheid vom 22. Oktober 2019 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Abschiebung nach Griechenland im Rahmen des sog. Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller, ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste am 21. August 2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Diese Angaben beruhen auf seinen Aussagen, Dokumente wurden nicht vorgelegt. Der Antragsteller stellte am 20. September 2019 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen förmlichen Asylantrag.
Bei seinen Anhörungen und Befragungen durch die Regierung von Oberbayern (Zentrale Ausländerbehörde) und durch das Bundesamt gab er an, dass er sein Heimatland im Mai 2019 verlassen habe. Er sei über den Iran in die Türkei und von dort nach Griechenland gereist. Dort habe er sich knapp zwei Monate aufgehalten und sei dann nach Spanien geflogen und von dort mit dem Zug über Paris nach München gefahren. Sein Onkel sowie Tanten von ihm lebten in Deutschland.
Mit Schreiben vom 2. September 2019 lehnte das Jugendamt der Landeshauptstadt München einen Antrag des Antragstellers auf vorläufige Inobhutnahme ab. Es schloss die Minderjährigkeit nach Durchführung einer qualifizierten Inaugenscheinnahme als zweifelsfrei aus. Es setzte das Geburtsdatum auf den 10. April 2001 fest.
Eine Eurodac-Recherche vom 21. August 2019 ergab einen Treffer der Kategorie 1 für Griechenland für den 17. Juli 2019.
Das Bundesamt stellte ausweislich der Zugangsbestätigung vom 7. Oktober 2019 ein Wiederaufnahmeersuchen an Griechenland. Mit Schreiben vom 21. Oktober 2019 akzeptierten die griechischen Behörden (Ministry of Citizen Protection) die Aufnahme des Antragstellers und garantierten, dass er gemäß den Vorgaben der Richtlinie 2013/33/EU untergebracht werde, sowie, dass das Asylverfahren gemäß den Standards der Richtlinie 2013/32/EU durchgeführt werde. Der Antragsteller sei am 17. Juni 2019 in Athen registriert worden und habe einen förmlichen Asylantrag gestellt.
Mit Bescheid vom 22. Oktober 2019, zugestellt am 24. Oktober 2019, lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 2), ordnete die Abschiebung nach Griechenland an (Nr. 3) und setzte ein Einreise- und Aufenthaltsverbot von 15 Monaten ab dem Tag der Abschiebung nach § 11 Abs. 1 AufenthG fest (Nr. 4). Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass Griechenland aufgrund des dort gestellten Asylantrags für dessen Behandlung zuständig sei. Gründe zur Annahme systemischer Mängel im griechischen Asylverfahren und der dortigen Aufnahmebedingungen lägen nicht vor. Der Antragsteller sei nach den Feststellungen des Jugendamts auch nicht minderjährig.
Am 30. Oktober 2019 erhob der Antragsteller zur Niederschrift Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München (M 19 K 19.51177). Gleichzeitig beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Abschiebungsanordnung anzuordnen.
Zur Begründung bezog er sich auf seine Angaben gegenüber dem Bundesamt.
Mit Schriftsatz vom 6. November 2019 trug die inzwischen bevollmächtigte Rechtsanwältin vor, dass der Kläger ausweislich einer vorgelegten Tazkera im Jahr 2019 16 Jahre alt und demzufolge minderjährig sei. Außerdem sei der Kläger krank. Hierzu wurden ein vorläufiger Arztbrief einer Klinik für Kinder- und Jugendmedizin vom 27. August 2019 und ein ärztlich-psychologischer Bericht einer Kinder- und Jugendpsychiatrie vom 27. August 2019 vorgelegt.
Das Bundesamt legte die Asylakte auf elektronischem Weg vor, stellte aber keinen Antrag.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in beiden Verfahren und die vorgelegte Asylakte Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat Erfolg.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist zulässig, da wegen § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG der Klage keine aufschiebende Wirkung zukommt und er innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt wurde.
Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen. Bei dieser Entscheidung sind einerseits das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts und andererseits das Interesse des Betroffenen, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts von dessen Vollziehung verschont zu bleiben, gegeneinander abzuwägen. Maßgebliche Bedeutung kommt dabei den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist hierbei der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung in Nummer 3 des Bescheids vom 22. Oktober 2019, auf den im Sinne von § 77 Abs. 2 AsylG Bezug genommen wird, begegnet bei summarischer Prüfung durchgreifenden Bedenken.
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung unter anderem in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG) an, sobald feststeht, dass diese durchgeführt werden kann.
1. Die Antragsgegnerin ist voraussichtlich zu Unrecht davon ausgegangen, dass diese Voraussetzungen vorliegen und Griechenland der zuständige Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers ist.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl. L 180 v. 29.6.2013, S. 31) – im Folgenden: Dublin III-VO – für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist.
a) Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird.
Gemäß Art. 13 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO ist grundsätzlich derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig, über dessen Grenze der Asylbewerber aus einem Drittstaat illegal eingereist ist. Der Eurodac-Treffer für den 17. Juli 2019 mit der Kennzeichnung „GR1“ belegt, dass der Antragsteller in Griechenland einen Asylantrag gestellt hat. Die Ziffer „1“ in der Kennzeichnung „GR1“ steht für einen Antrag auf internationalen Schutz (Art. 24 Abs. 4 i.V.m. Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 vom 26.6.2013 – EURODAC-VO). Hiernach ist daher an sich Griechenland zuständig.
b) Auch trat kein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin nach Maßgabe des Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO ein, weil das Wiederaufnahmegesuch vom 7. Oktober 2019 fristgerecht innerhalb von zwei Monaten nach der Eurodac-Treffermeldung vom 21. August 2019 erfolgte.
c) Die Zuständigkeit der Antragsgegnerin wurde auch nicht durch Fristablauf begründet, da die sechsmonatige Überstellungsfrist (fristauslösendes Ereignis ist das Wiederaufnahmegesuch) im Zeitpunkt des vorliegenden Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes noch nicht abgelaufen war. Der Antrag unterbricht daher nun den Lauf der Frist (Art. 29 Abs. 1 i.V.m. Art. 27 Abs. 3 Buchst. c) Dublin III-VO i.V.m. § 34 a Abs. 2 Satz 2 AsylG).
d) Die Zuständigkeit ist allerdings gemäß Art. 3 Abs. 2 UAbs. 3 der Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil eine Überstellung an Griechenland als den zuständigen Mitgliedsstaat an Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 der Dublin III-VO scheitert.
Es gibt bei summarischer Prüfung wesentliche Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Griechenland für (jedenfalls möglicherweise) minderjährige Personen systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-Grundrechtecharta) mit sich bringen.
aa) Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 80 f.; U.v. 19.3.2019 – C-297/1 – juris Rn. 84; U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris Rn. 79 ff.), der im Unionsrecht fundamentale Bedeutung hat, gilt grundsätzlich die Vermutung, dass in den Mitgliedsstaaten die Behandlung von Asylbewerbern mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta und der EMRK in Einklang steht. Diese Vermutung ist allerdings widerlegbar.
Für Griechenland war durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 21. Januar 2011 (Nr. 30696/09 – M.S.S. v. Belgien und Griechenland – juris Rn. 205 ff., 235 ff., 300 ff.) und des Europäischen Gerichtshofs vom 21. Dezember 2011 (C-411/10 – juris Rn. 89 ff.) festgestellt worden, dass das griechische Asylsystem systemische Mängel aufwies. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens war daher erschüttert.
bb) Aktuell kann jedoch aufgrund der in den letzten Jahren unternommenen Anstrengungen (vgl. Empfehlung der Kommission vom 8.12.2016 an die Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Wiederaufnahme der Überstellungen nach Griechenland gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 – C(2016) 8525 final – Erwägungsgründe [ErwG] 33 ff.) nicht mehr ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass das griechische Asylsystem noch immer unter systemischen Mängeln leidet. Die Europäische Kommission hat in ihrer Empfehlung vom 8. Dezember 2016 ausgeführt, dass eine allmähliche Wiederaufnahme von Überstellungen auf Grundlage von Einzelfall-Zusicherungen angezeigt ist. Daraufhin hat das Bundesministerium des Innern das Bundesamt mit Schreiben vom 15. März 2017 (AG M4 – 20203/1#1) gebeten, Überstellungen nach Griechenland unter Beachtung der in der Empfehlung der Kommission genannten Kriterien (Einreise in Griechenland nach dem 15.3.2017, keine Vulnerabilität, Einzelfall-Zusicherung) wieder aufzunehmen.
Insoweit ist nach wie vor zu beachten, dass bei Personen mit besonderer Verletzbarkeit (vgl. Art. 16 Dublin III-VO) die Wahrscheinlichkeit, dass sie unabhängig vom eigenen Willen und persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten, wesentlich größer ist als bei gesunden, volljährigen und arbeitsfähigen Betroffenen (vgl. OVG Schleswig, U.v. 6.9.2019 – 4 LB 17/18 – BeckRS 2019, 22068 Rn. 65; VGH BW, U.v. 29.7.2019 – A 4 S 749/19 – juris Rn. 41; VG Saarlouis, U.v. 20.9.2019 – 3 K 1222/18 – juris Rn. 21, 30). Bei Angehörigen jener Personengruppe kann nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, dass sie in der Lage sein werden, sich den schwierigen örtlichen Gegebenheiten (vgl. hierzu ausführlich OVG Schleswig, U.v. 6.9.2019 – 4 LB 17/18 – BeckRS 2019, 22068 Rn. 67 ff.) zu stellen und durch ein zumutbares Maß an Eigeninitiative diese auch zu bewältigen.
cc) Vorliegend ist nach den im Eilverfahren zur Verfügung stehenden Erkenntnissen jedenfalls nicht ausgeschlossen, dass der Antragsteller als eine vulnerable Person in Gestalt eines unbegleiteten Minderjährigen anzusehen ist, dessen Überstellung jedenfalls mangels einer auf die Vulnerabilität abstellenden individuellen Zusicherung Griechenlands, nicht zulässig ist.
Nach seinem eigenen Vortrag hat der Antragsteller in Griechenland zwar das Geburtsjahr 1995 angegeben (dieses wird auch in der vorgelegten Rücknahmeerklärung Griechenlands vom 21. Oktober 2019 neben dem 10. April 2001 als „Alias-Geburtsdatum“ erwähnt). Nunmehr hat der Antragsteller im Verfahren angegeben, im Jahr 2003 geboren zu sein. Dies deckt sich insoweit mit der vorgelegten Tazkera, deren englischer Übersetzung zufolge der Antragsteller im Jahr 2019 16 Jahre alt und demnach im Jahr 2003 geboren worden ist. Die Antragsgegnerin hat mit den vorhandenen Untersuchungsmöglichkeiten bei zerstörungsfreier Untersuchung zumindest keine Manipulationen an dem vorgelegten Dokument feststellen können (dessen inhaltliche Richtigkeit ist damit allerdings nicht bestätigt). Demgegenüber hat das Jugendamt die Volljährigkeit des Antragstellers festgesetzt. Die Überzeugung des Jugendsamts stützt sich dabei auf folgende (handschriftlich auf dem formularmäßigen Schreiben festgehaltene) Überlegungen: Das äußerliche Erscheinungsbild entspreche nicht dem eines pubertierenden 16-jährigen, sondern dem eines volljährigen jungen Mannes. Sein Verhalten sei reif, er kommuniziere selbstbewusst auf Augenhöhe. Außerdem würden seine Beschulungsangaben nicht mit dem Geburtsdatum übereinstimmen und der Antragsteller habe widersprüchliche Angaben getätigt. Die Antragsgegnerin hat diese Einschätzung übernommen und ihrer Entscheidung zugrunde gelegt.
Im Asylverfahren obliegt gem. § 24 AsylG die Sachverhaltsermittlung grundsätzlich der Antragsgegnerin. Sie ist an die Feststellung des Jugendamts nicht gebunden, aber grundsätzlich auch nicht daran gehindert, sie zu übernehmen (vgl. Neundorf, ZAR 2018, 238/241). Voraussetzung für eine Übernahme der Einschätzung ist allerdings, dass das Jugendamt die Vorgaben des § 42 f SGB VIII beachtet hat. Hiernach hat das Jugendamt die Minderjährigkeit vorrangig durch „Einsichtnahme in [die] Ausweispapiere“ oder „hilfsweise mittels einer qualifizierten Inaugenscheinnahme“ einzuschätzen und festzustellen. „In Zweifelsfällen“ hat es eine ärztliche Untersuchung zur Altersbestimmung zu veranlassen.
Kann der Betroffene kein aussagekräftiges Ausweispapier vorlegen und ist seine Selbstauskunft nicht zweifelsfrei, ist also zunächst eine qualifizierte Inaugenscheinnahme durchzuführen. Die Möglichkeit der qualifizierten Inaugenscheinnahme bezweckt allerdings lediglich das Aussortieren ganz offensichtlicher Fälle der Volljährigkeit (vgl. Fazekas in Wellenhofer/Jox, BeckOGK, Stand: 1.9.2018, SGB VIII, § 42 f Rn. 5). Daher ist typsicherweise zusätzlich eine ärztliche Untersuchung durchzuführen (vgl. zum Ganzen BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – BeckRS 2016, 51383 und BayVGH, B.v. 16.8.2016 – 12 CS 16.1550 – NVwZ-RR 2017, 238 ff., dessen Ausführungen im Folgenden zusammenfassend wiedergegeben werden).
Im konkreten Fall erfüllt die Inaugenscheinnahme für sich genommen bereits nicht die gesetzlichen Anforderungen (1). Zudem wäre eine ärztliche Untersuchung veranlasst gewesen, weil – wie im Regelfall – vom Vorliegen eines Zweifelsfalls auszugehen ist (2).
(1) Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme erstreckt sich auf das äußere Erscheinungsbild – wie Stimmlage, Gesichtszüge, Bartwuchs etc. (vgl. Kepert/Dexheimer in Kunkel/Kepert/Pattar, Sozialgesetzbuch VIII, 7. Aufl. 2018, § 42 f, Rn. 3) -, das nach nachvollziehbaren Kriterien zu würdigen ist. Darüber hinaus hat sie eine Befragung des Betroffenen zu beinhalten, in der dieser mit den Zweifeln an seiner Eigenangabe zu konfrontieren und ihm Gelegenheit zu geben ist, diese Zweifel auszuräumen. Die im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand sind im Einzelnen zu bewerten. Maßgeblich ist der Gesamteindruck aus dem äußeren Erscheinungsbild und insbesondere der Bewertung der im Gespräch gewonnenen Informationen zum Entwicklungsstand. Gegebenenfalls sind weitere Unterlagen beizuziehen. Das Verfahren ist stets nach dem Vier-Augen-Prinzip von mindestens zwei beruflich erfahrenen Mitarbeitern des Jugendamtes durchzuführen (vgl. BayVGH, B.v. 18.8.2016 – 12 CE 16.1570 – BeckRS 2016, 51383 Rn. 13 m.w.N.). Das Ergebnis dieses Verfahrens ist in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise zu dokumentieren, insbesondere muss die Gesamtwürdigung in ihren einzelnen Begründungsschritten transparent sein.
Diesen Anforderungen wird die Feststellung des Jugendamts nicht gerecht. Zwar haben offenbar drei Personen des Jugendamts die Einstufung vorgenommen, wobei unklar bleibt, welche Qualifikation diese Mitarbeiter haben und ob sie allesamt während des gesamten Beurteilungs- und Gesprächsprozesses anwesend waren. Maßgeblich für die Entscheidung des Gerichts ist aber, dass nur ansatzweise erkennbar ist, dass neben dem äußerlichen Erscheinungsbild auch Gesprächsinhalte verwertet wurden, nicht aber nachvollziehbar ist, wie es zu den festgehaltenen Einschätzungen gekommen ist. Es ist nicht ersichtlich, zu welchen Aspekten eine Befragung durchgeführt wurde und weshalb sie die Schlussfolgerung trägt, der Antragsteller weise eine (für minderjährige Personen nicht kennzeichnende) reife Verhaltensweise im Gespräch auf und kommuniziere auf Augenhöhe. Diese Feststellung kann auf ihre Tragfähigkeit nicht überprüft werden. Die Erkenntnisse wurden nicht in nachvollziehbarer und überprüfbarer Weise dokumentiert. Es fehlt an ausreichender Transparenz der einzelnen Begründungsschritte und des Gesamtergebnisses. Eine Objektivierung der gewonnenen Erkenntnisse findet nicht statt und ist für einen außenstehenden Dritten nicht nachvollziehbar. Es bleibt mithin unklar, weshalb die Feststellungen geeignet sind, anzunehmen der Antragsteller ist im Jahr 2001, „zweifelsfrei“ aber nicht im Jahr 2003 geboren.
Folglich war es der Antragsgegnerin verwehrt, die Einschätzung des Jugendamts ihrer Entscheidung zugrunde zu legen. Sie hätte eigene Ermittlungen anstellen müssen.
(2) Ungeachtet der festgestellten Mängel der qualifizierten Inaugenscheinnahme wäre zudem eine medizinische Untersuchung zu veranlassen gewesen. Denn eine qualifizierte Inaugenscheinnahme bezweckt lediglich das Aussortieren ganz offensichtlicher Fälle der Volljährigkeit, da eine exakte Bestimmung des Lebensalters selbst auf medizinischem, psychologischem, pädagogischem oder anderem Wege nicht möglich ist. Eine qualifizierte Inaugenscheinnahme allein ist daher zur Altersfeststellung nur geeignet, wenn es darum geht, „für jedermann ohne Weiteres erkennbare (offensichtliche), gleichsam auf der Hand liegende, über jeden vernünftigen Zweifel erhabene Fälle eindeutiger Volljährigkeit auszuscheiden, in welchen ein Sich-Berufen des Betroffenen auf den Status der Minderjährigkeit selbst vor dem Hintergrund möglicher eigener Unkenntnis vom genauen Geburtsdatum als evident rechtsmissbräuchlich erscheinen muss“ (BayVGH, B.v. 16.8.2016 – 12 CS 16.1550 – NVwZ-RR 2017, 238/240). Folglich bestehen Zweifel, die von Gesetzes wegen zu einer medizinischen Untersuchung verpflichten, bereits dann, wenn nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass ein fachärztliches Gutachten zu dem Ergebnis kommen wird, der Betroffene sei noch minderjährig.
Ob ein solcher Zweifelsfall vorliegt, unterliegt als unbestimmter Rechtsbegriff ohne Beurteilungsspielraum umfassender verwaltungsgerichtlicher Kontrolle. Dies schließt eine wie auch immer geartete Einschätzungsprärogative des Jugendamts von vornherein aus (vgl. BayVGH, B.v. 16.8.2016 – 12 CS 16.1550 – NVwZ-RR 2017, 238/239).
Vorliegend ist von einem Zweifelsfall auszugehen. Schon aus dem widersprüchlicher Vortrag werden Zweifeln an der Selbstauskunft des Betroffenen geweckt, denen gerade durch Anwendung des § 42 f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII von Amts wegen durch Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung weiter nachzugehen ist. Auch die geringe Altersdivergenz zwischen der Selbstangabe des Antragstellers und der Einschätzung des Jugendamts begründen angesichts der unvermeidbaren Unschärfen bei der Alterseinstufung Zweifel an der Minderjährigkeit des Antragstellers, schließen diese aber auch gerade nicht aus. Der Fall einer offensichtlich volljährigen Person lässt sich auf der Basis der Feststellungen des Jugendamts jedenfalls nicht annehmen.
2. Angesichts der Defizite bei der Altersfeststellung ist nach der Einschätzung des Gerichts jedenfalls bei summarischer Prüfung im Eilverfahren mit seinen beschränkten Aufklärungsmöglichkeiten derzeit nicht auszuschließen, dass es sich bei dem Antragsteller um eine vulnerable Person handelt, die nicht nach Griechenland überstellt werden darf. Da die Klage in der Hauptsache hinsichtlich der streitgegenständlichen Nummer 3 des Bescheids vom 22. Oktober 2019 insoweit jedenfalls als offen anzusehen ist, überwiegt das das private Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheides das öffentliche Vollzugsinteresse. Die aufschiebende Wirkung der Klage ist daher anzuordnen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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