Aktenzeichen W 8 S 17.50344
Leitsatz
1 Nach derzeitigem Erkenntnisstand und unter Berücksichtigung der einschlägigen Rechtsprechung ist nicht davon auszugehen, dass das tschechische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer dorthin rücküberstellte Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh ausgesetzt wären (vgl. BayVGH BeckRS 2015, 52036). (Rn. 12) (red. LS Clemens Kurzidem)
2 Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO setzt voraus, dass anhand von Attesten glaubhaft gemacht wurde, dass ein Familienangehöriger eines Asylbewerbers an einer schweren Krankheit leidet, aufgrund der er zwingend auf die Unterstützung des Asylbewerbers angewiesen wäre. Dabei ist das die Zuständigkeit begründende Abhängigkeitsverhältnis auf Ausnahmesituationen besonderer Hilfsbedürftigkeit beschränkt; allein eine schwere Erkrankung begründet noch keinen Anspruch auf Ausübung des Selbsteintrittsrechts, wenn sie regelmäßig im zuständigen Mitgliedstaat behandelbar ist (wie VG München BeckRS 2016, 47330). (Rn. 17) (red. LS Clemens Kurzidem)
3 Die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts iSv Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO setzt voraus, dass dieser durch einen exekutiven oder legislativen Akt legalisiert wurde. Eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 Abs. 1 AsylG stellt keine derartige Legalisierung dar (vgl. VG München BeckRS 2016, 43278), da hierdurch nur ein vorübergehendes, verfahrensbegleitendes Aufenthaltsrecht vermittelt wird. (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
Tenor
I. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der Antragsteller ist armenischer Staatsangehöriger. Er reiste am 25. März 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 11. April 2017 einen Asylantrag.
Nach den Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO) vor. Auf ein Übernahmeersuchen vom 13. April 2017 reagierten die tschechischen Behörden bislang nicht.
Mit Bescheid vom 14. Juni 2017 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Tschechien wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).
Am 23. Juni 2017 ließ der Antragsteller im Verfahren W 8 K 17.50342 Klage erheben und im vorliegenden Verfahren beantragen,
die aufschiebende Wirkung der beiliegenden Klage wird wieder hergestellt.
Zur Begründung ließ der Antragsteller vorbringen: Eine vorzeitige Abschiebung würde dem Antragsteller einen nicht wiedergutzumachenden Nachteil bescheren. Nach Erfahrungen des Prozessbevollmächtigten werde durch die tschechischen Behörde eine Einreise aufgrund des lebensbedrohenden Zustandes der Mutter des Antragstellers abgelehnt werden. Der Antragsteller sei zur Unterstützung, Versorgung und Betreuung seiner Mutter in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Diese leide an einem fortgeschrittenen Unterleibskrebs. Die Mutter des Antragstellers sei nicht in der Lage, sich selbst zu versorgen, sie brauche insbesondere Hilfe im Haushalt, beim Kochen und der Körperpflege.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte des Klageverfahrens W 8 K 17.50342) und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Bei verständiger Würdigung des Vorbringens des Antragstellers ist der Antrag dahingehend auszulegen, dass er die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bundesamtsbescheids vom 14. Juni 2017 begehrt, zumal ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO betreffend die übrigen Nummern des streitgegenständlichen Bescheides unzulässig wäre.
Der Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO – betreffend die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung unter Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids – ist zulässig, aber unbegründet.
Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 14. Juni 2017 ist bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen summarischen Prüfung in Nr. 3 rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten, so dass das öffentliche Vollzugsinteresse das private Interesse des Antragstellers, vorläufig bis zur Entscheidung in der Hauptsache noch im Bundesgebiet verbleiben zu dürfen, überwiegt.
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die zutreffenden Gründe des streitgegenständlichen Bescheides verwiesen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Das Vorbringen der Antragstellerseite führt zu keiner anderen Beurteilung.
Tschechien ist für die Durchführung des Asylverfahrens gemäß den Vorschriften der Dublin III-VO zuständig (§§ 34a, 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG i.V.m. der Dublin III-VO). Die Zuständigkeit Tschechiens ergibt sich vorliegend aus Art. 12 Abs. 2 und Art. 22 Abs. 7 Dublin III-VO.
Außergewöhnliche Umstände, die möglicherweise für ein Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO bzw. für eine entsprechende Pflicht der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten, sind vorliegend nicht glaubhaft gemacht. Insbesondere ist nach derzeitigem Erkenntnisstand und unter Berücksichtigung der hierzu einschlägigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u.a. – NVwZ 2012, 417) nicht davon auszugehen, dass das tschechische Asylsystem an systemischen Mängeln leidet, aufgrund derer die dorthin rücküberstellten Asylbewerber einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Grundrechtscharta (GRCharta) ausgesetzt wären. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen bestehen keine Anhaltspunkte für das Vorliegen solcher Mängel im tschechischen Asylsystem (vgl. BayVGH, B.v. 17.8.2015 – 11 B 15.50111 – juris sowie etwa VG Düsseldorf, B.v. 29.5.2017 – 12 L 1477/17.A – juris, jeweils m.w.N.), zumal der Antragsteller nichts Dahingehendes vorgebracht hat. Vielmehr existiert in der Tschechischen Republik ein rechtsstaatliches Asylverfahren mit gerichtlicher Beschwerdemöglichkeit. Dublin-Rückkehrer haben Zugang zum Asylverfahren (vgl. nur BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Tschechische Republik vom 16.8.2016, S. 6 und 7 m.w.N.).
Ferner ist nicht ersichtlich, dass die Antragsgegnerin sonst ermessensfehlerhaft keinen Gebrauch von ihrem Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO gemacht hat.
Konkret sind keine gewichtigen Erkrankungen ersichtlich, die in der Tschechischen Republik nicht behandelt bzw. weiterbehandelt werden könnten.
Schließlich bestehen auch keine inlandsbezogenen Abschiebungshindernisse, die die Antragsgegnerin selbst zu berücksichtigen hätte. Insbesondere eine Reise- oder Transportunfähigkeit wurde von Antragstellerseite nicht substanziiert geltend gemacht und ist auch sonst nicht ersichtlich.
Auch der Umstand, dass der Antragsteller zusammen mit seiner Mutter eingereist ist, die er unterstützt, führt, nicht zu einem anderen Ergebnis. Denn der Antragsteller ist volljährig, so dass ihm die Vorschrift des § 43 Abs. 3 i.V.m. § 26 Abs. 1 bis 3 AsylG nicht zugutekommt. Eine (vorübergehende) Trennung von der Mutter und volljährigem Sohn ist zumutbar und von Rechts wegen nicht ausgeschlossen. Auch Art. 2 Buchst. g Dublin III-VO definiert volljährige Kinder nicht als Familienangehörige; eine schützenswerte Familieneinheit liegt demnach nicht vor.
Des Weiteren besteht auch kein Anspruch auf Selbsteintritt gemäß Art. 16 Dublin III-VO. Zweck des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO ist es wegen einer aktuellen Hilfsbedürftigkeit Hilfeleistung, Unterstützung und familiäre Fürsorge, etwa auch durch ein volljährigen Kindes, zu ermöglichen; eine Trennung soll vermieden werden. Voraussetzung für die Anwendung des § 16 Abs. 1 Dublin III-VO ist, dass anhand von Attesten glaubhaft ist, dass der Betreffende an einer schweren Krankheit leidet, aufgrund der er zwingend auf die Unterstützung angewiesen wäre. Dabei ist das die Zuständigkeit begründete Abhängigkeitsverhältnis auf Ausnahmesituationen besonderer Hilfsbedürftigkeit beschränkt. Allein das Vorhandensein – auch einer schweren Erkrankung – begründet noch keinen Anspruch auf die Ausübung des Selbsteintrittsrechts, wenn diese wie hier regelmäßig auch im zuständigen Mitgliedsstaat behandelbar ist (VG München, U.v. 6.5.2016 – M 12 K 15.50793 – juris).
Die Voraussetzungen des Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO liegen danach nicht vor. Erforderlich ist nämlich eine besondere Hilfsbedürftigkeit der Mutter, die sich zum gegenwärtigen Entscheidungszeitpunkt nicht feststellen lässt. Es fehlen qualifizierte Atteste, denen entnommen werden könnte, dass insofern eine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Gefahr des Eintritts gravierender gesundheitliche Folgen im Fall der Trennung besteht, denen nicht anders begegnet werden könnte, als mit einer gemeinsamen Anwesenheit in Deutschland.
Denn nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 muss eine Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft gemacht werden, die insbesondere auch Aussagen zu den die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten. Daran fehlt es. Der Antragsteller hat zwar unter Vorlage eines Krankenberichtes der Uniklinik Würzburg vom 9.September 2017 ausgeführt, dass die Mutter des Antragstellers lebensbedrohlich an einem fortgeschrittenen Unterleibskrebs behandelt wird. Eine Chemotherapie sei am 21. Juni 2017 begonnen worden. Jedoch enthält das ärztliche Attest keinerlei Aussagen zu den Folgen der Krankheit bzw. der Therapie, insbesondere nicht dazu, inwieweit die Mutter des Antragstellers auf dessen Unterstützung und Hilfeleistung angewiesen wäre. Des Weiteren enthält die ärztliche Bescheinigung auch keine Aussage zu einer möglichen Reisefähigkeit bzw. Reiseunfähigkeit der Mutter des Antragstellers sowie zur Frage, ob eine Behandlung, bzw. Weiterbehandlung der Krankheit nicht auch in Tschechien möglich wäre.
Des Weiteren befindet sich die Mutter des Antragstellers selbst im Dublin-Verfahren und hält sich nicht rechtmäßig in Deutschland auf. Denn die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Sinne von Art. 16 Abs. 1 Dublin III-VO setzt voraus, dass dieser durch einer exekutiven oder legislativen Akt legalisiert wurde. Eine Gestattung nach § 55 Abs. 1 AsylG stellt keine derartige Legalisierung dar (vgl. VG München, B.v. 30.12.2015 – M 12 S. 15.50773 – juris). § 55 Abs. 1 AsylG vermittelt nur ein vorübergehendes verfahrensbe-gleitendes Aufenthaltsrecht, aber keinen dauerhaft rechtmäßigen Aufenthalt im Sinne des Art. 16 Dublin III-VO (VG Berlin, B.v. 20.8.2015 – 33 L 244.15 A – juris). Außerdem wurde der Antrag der Mutter des Antragstellers von der Antragsgegnerin ebenfalls mit Bescheid vom 14. Juni 2017 als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung auch der Mutter nach Tschechien angeordnet. Ein dagegen gestellter Sofortantrag wurde abgelehnt (vgl. VG Würzburg, B.v. 28. Juni – W 8 S. 17.50346).
Abgesehen davon, dass selbst bei einer getrennten Überstellung des Antragstellers von seiner Mutter eine (vorübergehende) Trennung zumutbar erscheint, ist weiter nicht ersichtlich, dass die von der Mutter des Antragstellers benötigte Hilfe in Tschechien bzw. in Deutschland nicht auch anderweitig gewährt werden könnte.
Im Ergebnis hat der Antragsteller keinen Anspruch, dass die Vollziehbarkeit der Abschiebungsanordnung mit Rücksicht auf seine Mutter vorläufig ausgesetzt wird.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage war daher abzulehnen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.