Europarecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens in Polen

Aktenzeichen  M 1 S 16.51278

Datum:
2.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 34a Abs. 1, Abs. 2
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
Dublin-III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 18 Abs. 1
GRCh GRCh Art. 4

 

Leitsatz

1 Das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Polen weisen keine systemischen Schwachstellen auf. Es besteht dort nicht die Gefahr unmenschlicher oder entwürdigender Behandlung. (redaktioneller Leitsatz)
2 Wurden die Asylanträge in Polen erstmals geprüft und abgelehnt, bleibt es bei der Zuständigkeit Polens auch für die weitere Durchführung von Asylverfahren. (redaktioneller Leitsatz)
3 Liegen weder Abschiebungshindernisse noch persönliche Vollstreckungshindernisse vor, kann die angeordnete Abschiebung durchgeführt werden. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Anträge werden abgelehnt.
II.
Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner.

Gründe

I.
Die am … geborene Antragstellerin zu 1) und ihr Sohn, der am … 2011 geborene Antragsteller zu 2), sind ukrainische Staatsangehörige. Sie reisten spätestens am 19. September 2016 in das Bundesgebiet ein und beantragten dort am 26. September 2016 Asyl.
In Befragungen durch Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 26. September und 13. Oktober 2016 erklärte die Antragstellerin zu 1) u. a., sie habe sich auf dem Weg nach Deutschland für ein Jahr und einen Monat in …/Polen aufgehalten. Dort habe man ihr die Fingerabdrücke abgenommen und sie habe dort am 5. Juli 2015 einen Antrag auf Zuerkennung von internationalem Schutz gestellt. Ihr Antrag sei mit polnischem Bescheid vom 4. März 2016 abgelehnt worden. Daraufhin richtete das Bundesamt am 14. November 2016 ein Übernahmeersuchen an Polen, dem am 18. November 2016 von Seiten der polnischen Behörden zugestimmt wurde.
Mit Bescheid vom 19. Dezember 2016 lehnte das Bundesamt die Asylanträge als unzulässig ab (Nr. 1 d. Bescheids), stellte fest, dass Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2), und ordnete die Abschiebung der Antragsteller nach Polen an (Nr. 3). In Nr. 4 des Bescheids wurde das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet. Auf die Begründung des Bescheids wird im Übrigen Bezug genommen.
Die Antragsteller erhoben gegen diesen Bescheid am … Dezember 2016 beim Bayer. Verwaltungsgericht München Klage (M 1 K 16.51277). Sie beantragen zugleich,
hinsichtlich der Abschiebungsanordnung nach Polen die aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen.
Zur Begründung trägt die Antragstellerin zu 1) im Wesentlichen vor, sie habe im Juli 2015 in Polen um Asyl gebeten, was dort jedoch abgelehnt worden sei. Dieser Ablehnungsbescheid sei nicht an sie, sondern an eine fremde Person übergeben worden. Ihre Rechtsmittel gegen den ersten Bescheid in Polen seien wegen Fristversäumnis abgelehnt worden, obwohl sie den ablehnenden Bescheid erst am 26. Januar 2016 erhalten und fristgerecht am 8. Februar 2016 die erste Berufung hiergegen eingelegt habe. Zudem habe sie dagegen eine Petition geschickt, hierauf jedoch keine Antwort erhalten. Polnische Behörden hätten in ihrem Verfahren gegen das polnische Gesetz verstoßen. Über das derzeitige Stadium ihres Asylantrags in Polen habe sie keine Information.
Die Antragsgegnerin hat die Akten in elektronischer Form vorgelegt, sich jedoch zum Antrag der Antragsteller nicht geäußert.
Zum weiteren Sach- und Rechtsstand wird auf die Behörden- und Gerichtsakten Bezug genommen.
II.
Die nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO zulässigen Anträge sind unbegründet.
Die von den Antragstellern eingelegte Klage entfaltet von Gesetzes wegen keine aufschiebende Wirkung, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 Abs. 1 AsylG. Das Gericht der Hauptsache kann nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO auf Antrag die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Grundlage der Entscheidung ist eine eigene Interessenabwägung zwischen dem Aussetzungsinteresse der Antragsteller und dem Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Ein gewichtiges Indiz sind dabei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Vorliegend überwiegt das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin das Aussetzungsinteresse der Antragsteller, da die Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG rechtmäßig ist. Nach § 34a Abs. 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen sind gegeben.
Das Bundesamt hat zu Recht seine Zuständigkeit für die Durchführung der Asylverfahren abgelehnt (1.) und das Vorliegen von Abschiebungshindernissen verneint (2.).
1. Polen ist gem. Art. 18 Abs. 1 Buchst. d) Dublin III-VO für die Behandlung der Asylanträge zuständig, da dort Asylanträge der Antragsteller erstmals geprüft und abgelehnt wurden. Selbst wenn aufgrund der von der Antragstellerin zu 1) behaupteten Einlegung von Rechtsmitteln und einer Petition die Asylverfahren in Polen noch nicht abgeschlossen wären, änderte das an der Zuständigkeit Polens für eine dann weitere Durchführung der eingeleiteten Asylverfahren der Antragsteller nichts (vgl. Art. 18 Abs. 1 Buchst. a) Dublin III-VO). Auch die von der Antragstellerin zu 1) behaupteten Verstöße polnischer Behörden gegen polnisches Recht lässt die Zuständigkeit Polens für die Verfahren der Antragsteller unberührt. Die polnischen Behörden haben diese Zuständigkeit auch gegenüber dem Bundesamt mit Schreiben vom 18. November 2016 bestätigt.
Besondere Umstände, die die ausnahmsweise Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO begründen oder nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO rechtfertigen bzw. bedingen würden, sind nicht ersichtlich. Insbesondere können die Antragsteller ihrer Überstellung nach Polen nicht mit dem Einwand entgegentreten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Polen systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 der Grundrechtecharta (GRCh) mit sich bringen, so dass eine Überstellung nach Polen unmöglich wäre (Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 und 3 Dublin III-VO).
Nach dem Konzept der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93 u. a. – juris) und dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 – C-411/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechtecharta, der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) steht. Diese Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Den nationalen Gerichten obliegt im Einzelfall die Prüfung, ob ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesem Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber implizieren (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 a. a. O. Rn. 86). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber aufgrund größerer Funktionsstörungen in dem zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B. v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris, Rn. 5 f. m. w. N.). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten – nicht rein quantitativen – Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss diesen ein größeres Gewicht als den dagegen sprechenden Tatsachen zukommen, d. h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es immer wieder zu den genannten Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH BW, U. v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris).
Nach aktuellem Kenntnisstand nicht davon auszugehen, dass den Antragstellern im Falle ihrer Rücküberstellung in Polen eine menschenunwürdige Behandlung im eben beschriebenen Sinn droht. Es ist nicht hinreichend ersichtlich, dass in Polen systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber vorliegen. Das Gericht schließt sich insoweit der Bewertung des aktuellen Erkenntnismaterials durch verschiedene Gerichte an. Die überwiegende Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit geht davon aus, dass systemische Mängel des Asylverfahrens in Polen nicht vorliegen (vgl. BayVGH, U. v.19.1.2016 – 11 B 15.50130 – juris; B. v. 10.2.2016 – 11 ZB 16.50002 – juris Rn. 3; SächsOVG, B. v. 12.10.2015 – 5 B 259/15.A – juris).
2. Die Klagen gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheids bleiben voraussichtlich auch ohne Erfolg, soweit Abschiebungshindernisse zu prüfen sind. Persönliche Vollstreckungshindernisse der Antragsteller sind weder vorgetragen noch sonst erkennbar. Deshalb steht fest, dass gem. § 34a Abs. 1 AsylG die angeordnete Abschiebung auch durchgeführt werden kann.
Die Anträge waren daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1, § 159 Satz 1 VwGO abzulehnen; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG)

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