Europarecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien

Aktenzeichen  M 1 S 16.50368

Datum:
1.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2, Art. 17 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1b
AsylG AsylG § 34a Abs. 1 S. 2, § 80b

 

Leitsatz

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt und in Einklang mit der obergerichtlichen Rechtsprechung ist davon auszugehen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien keine systemischen Mängel aufweisen, die einen Asylantragsteller der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GR-Charta aussetzen (wie VGH München BeckRS 2014, 52068).  (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller ist eigenen Angaben zufolge nigerianischer Staatsangehöriger. Er wurde am 28. Januar 2016 in … ohne gültigen Aufenthaltstitel von der Bundespolizei aufgegriffen. Einen förmlichen Asylantrag stellte er bislang nicht.
Bei seiner Befragung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens am 17. März 2016 machte der Antragsteller keine Angaben zu Voraufenthalten oder der Stellung von Asylanträgen, erklärte aber, seine Ehefrau und sein Kind lebten in …. Laut einer Eurodac-Treffermeldung hat er in Italien einen Asylantrag gestellt. Das Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) vom 9. März 2016 wurde durch die italienischen Behörden nicht beantwortet.
Mit Bescheid vom 1. Juni 2016, zugestellt am 8. Juni 2016, wurde die Abschiebung des Antragstellers nach Italien angeordnet (Nr. 1) und das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 2). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Abschiebung nach Italien sei gemäß § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG anzuordnen, weil Italien gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO für die Behandlung des Asylantrags zuständig sei. Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Bundesrepublik Deutschland veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO auszuüben, seien nicht ersichtlich. Weder die Heirat noch die Vaterschaft des Antragstellers hätten bestätigt werden können.
Am …. Juni 2016 erhob der Antragsteller Klage gegen den Bescheid des Bundesamts (M 1 K 16.50367) und beantragte dessen Aufhebung. Gleichzeitig beantragte er,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Das Bundesamt legte mit Schreiben vom 17. Juni 2016 die Behördenakte vor. Ein Antrag wurde nicht gestellt.
Zu den weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten und die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der gemäß § 34a Abs. 2 S. 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO zulässige Antrag ist unbegründet, denn die Hauptsacheklage hat voraussichtlich keine Erfolgsaussicht.
Der Bescheid der Beklagten vom 1. Juni 2016 erweist sich voraussichtlich als rechtmäßig.
Gemäß § 34a Abs. 1 Satz 2 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, wenn der Ausländer einen Asylantrag in einem anderen aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt hat.
1. Italien ist als Mitgliedstaat, in dem der Antragsteller einen Asylantrag gestellt hat, für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Aufgrund der fehlenden fristgerechten Reaktion Italiens auf das Wiederaufnahmegesuch ist nach Art. 25 Abs. 2 i. V. m. Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) Dublin III-VO davon auszugehen, dass Italien als Mitgliedstaat der Europäischen Union seiner Verpflichtung, den Antragsteller wieder aufzunehmen, nachkommen und ihm tatsächlich Zugang zum italienischen Asylverfahren verschaffen wird.
2. Die Abschiebung nach Italien kann gemäß § 34a Abs. 1 AsylG auch durchgeführt werden. Es liegen keine Gründe i. S. d. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO vor, die der Überstellung des Antragstellers nach Italien entgegenstünden.
Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtscharta) entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i. S.v. Art. 4 Grundrechtscharta ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 a. a. O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris).
Ausgehend von diesen Maßstäben und im Einklang mit der aktuellen obergerichtlichen Rechtsprechung ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass der Antragsteller in Italien aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr läuft, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein (vgl. BayVGH, U.v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris m. w. N.). Dabei begründet auch die Lage der Personen, die in Italien einen internationalen Schutzstatus zuerkannt bekommen haben, noch keine systemischen Mängel. Dies gilt auch in Ansehung des Umstands, dass Italien kein mit dem in der Bundesrepublik bestehenden Sozialleistungssystem vergleichbares landesweites Recht auf Fürsorgeleistungen kennt und hier nur im originären Kompetenzbereich der Regionen und Kommunen ein sehr unterschiedliches und in weiten Teilen von der jeweiligen Finanzkraft abhängiges Leistungsniveau besteht (VGH BW, U.v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris). Der abweichenden Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte folgt das entscheidende Gericht nicht (ebenso VG Ansbach, U.v. 11.12.2015 – AN 14 K 15.50316; VG Gelsenkirchen, B.v. 16.11.2015 – 7a L 2055/15.A; VG München, U.v. 3.11.2015 – M 12 K 15.50799).
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Verfahren Tarakhel ./. Schweiz, in dem am 4. November 2014 ein Urteil des EGMR ergangen ist (Az. 29217/12). Der EGMR hat hier lediglich entschieden, dass die Schweizer Behörden die Abschiebung einer Familie nach Italien nicht vornehmen dürfen, ohne vorher individuelle Garantien von den italienischen Behörden erhalten zu haben, dass die Antragsteller in Italien in einer dem Alter der Kinder adäquaten Art und Weise behandelt werden und die Familie zusammen bleiben darf. Das Urteil beinhaltet damit keine Aussage zu eventuellen systemischen Mängeln in Italien, sondern lediglich eine Einschränkung für die Abschiebung von Familien nach Italien, wohingegen der Antragsteller eine volljährige Einzelperson ohne körperliche oder geistige Einschränkungen ist.
Individuelle, außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts notwendig machen, sind ebenfalls nicht ersichtlich. Der Vortrag des Antragstellers, seine Ehefrau und sein Kind lebten im Bundesgebiet, konnte nicht verifiziert werden; entsprechende Dokumente hat er nicht vorgelegt.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80b AsylG).

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