Europarecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien für alleinstehenden Mann

Aktenzeichen  M 7 K 15.50378

Datum:
30.6.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG aF § 27a, § 31 Abs. 1 S. 4, Abs. 6
AsylVfG AsylVfG § 27a, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 1 S. 2, Abs. 2, Art. 13 Abs. 1, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 49 UAbs. 2 S. 1
VwGO VwGO § 80 Abs. 5, § 113 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien, die der Rückführung einer alleinstehenden männlichen Person entgegenstehen könnten, liegen weiterhin nicht vor.  (redaktioneller Leitsatz)
Die Tatsache, dass es in Italien kein staatliches Sozialhilfesystem gibt und Personen nach Abschluss des Asylverfahrens ebenso wie italienische Staatsangehörige im Fall der Mittellosigkeit auf sich selbst gestellt sind, führt nicht zur Annahme von systemischen Mängeln im Asylverfahren. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Mit dem Einverständnis der Beteiligten konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 101 Abs. 2 VwGO). Die Beklagte hat ihr Einverständnis zur Entscheidung ohne mündliche Verhandlung dem Verwaltungsgericht gegenüber allgemein erklärt.
Die Klage hat keinen Erfolg.
Die Abschiebungsanordnung in Nr. 2 des Bescheides des Bundesamts vom 26. März 2015 hat sich durch die freiwillige Ausreise des Klägers und den Zeitablauf mittlerweile erledigt. Sie ist nicht mehr Rechtsgrundlage für eine Überstellung des Klägers nach Italien. Die Klage ist insoweit unzulässig. Im Übrigen ist der Bescheid des Bundesamtes im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat zu Recht den im Bundesgebiet gestellten Asylantrag des Klägers als unzulässig abgelehnt.
Nach § 27a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 4, Abs. 6 AsylG ist in diesen Fällen der Asylantrag als unzulässig abzulehnen.
Nach den Regelungen der vorliegend anzuwendenden Dublin-III-Verordnung (vgl. Art. 49 Unterabs. 2 Satz 1 der VO (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, sog. Dublin-III-VO) ist grundsätzlich nur ein einziger Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung eines Asylantrags zuständig (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO). Dies ist hier Italien. Der Kläger hat aus einem Drittstaat kommend als erstes die Seegrenze des Mitgliedstaats Italien überschritten und dort einen Asylantrag gestellt (Art. 13 Abs. 1 Dublin-III-VO).
Die Beklagte ist auch nicht nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Italien systemische Schwachstellen aufwiesen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen würden.
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist. Es gilt grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Allerdings hat nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat zur Folge, dass der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag eingereicht wurde, daran gehindert ist, den Antragsteller an diesen Mitgliedstaat zu überstellen. Nur wenn ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigenden Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar (vgl. EUGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u. a. – juris Rn. 75, 80, 82, 85 und 86). Diese vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Grundsätze sind nunmehr auch ausdrücklich in die Dublin-Verordnung aufgenommen worden. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asylbewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9). Für die Frage, ob dem Kläger in Italien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht, ist insbesondere auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Auslieferungs-, Ausweisungs- und Abschiebungsfällen zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 15, 17; BVerfG, B.v. 18.8.2013 – 2 BvR 1380/08 – juris Rn. 28).
Ausgehend von diesen Maßstäben liegen systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien, die einer Rückführung des Klägers entgegenstehen, nicht vor.
Das Gericht schließt sich hier der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an (vgl. zunächst Beschlüsse des EGMR v. 2.4.2013, Nr. 27725/10, und v. 18.6.2013, Nr. 53852/11, ZAR 2013, 336, 338; s. auch BayVGH, U.v. 28.2.2014 – 13a B13.30295 – juris Rn. 42). Unter Berücksichtigung der Berichte von Regierungs- und Nichtregierungsinstitutionen und -organisationen über die Aufnahmeprogramme für Asylbewerber in Italien kam der Gerichtshof zu dem Schluss, dass die allgemeine Situation und die Lebensbedingungen in Italien für Asylbewerber, anerkannte Flüchtlinge und Ausländer, die aus Gründen des internationalen Schutzes oder zu humanitären Zwecken eine Aufenthaltserlaubnis erhalten hätten, zwar einige Mängel ausweisen mögen, dass die vorliegenden Materialien jedoch kein systemisches Versagen der Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen für Asylbewerber als Mitglieder einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe aufzeigen würden. Berichte des UNHCR und des Menschenrechtskommissars wiesen auf jüngste Verbesserungen der Situation hin mit dem Ziel der Mängelbeseitigung; alle Berichte zeigten übereinstimmend und ausführlich die Existenz ausgearbeiteter Strukturen von Einrichtungen und Hilfsmaßnahmen, die auf die Bedürfnisse der Asylbewerber zugeschnitten seien. In dem Verfahren der Familie Tarakhel gegen die Schweiz (Nr. 29217/12) hatte die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Gelegenheit, sich mit den Verhältnissen in Italien erneut auseinanderzusetzen. Sie nahm die offenkundige Diskrepanz zwischen der im Jahr 2013 gestellten Asylanträge und der in den Einrichtungen verfügbaren Plätze zur Kenntnis sowie die Tatsache, dass der UNHCR in seinen Empfehlungen von 2013 tatsächlich eine Reihe von Problemen beschrieben hat, die sich auf die unterschiedliche Qualität der zur Verfügung stehenden Dienstleistungen – abhängig von der Größe der Einrichtungen – und auf einen Mangel an Koordinierung auf nationaler Ebene bezogen (vgl. U.v. 4.11.2014, abrufbar auf der Internetseite des EGMR, Rn. 110, 112, s. auch NVwZ 2015, 127 ff.). Sie stellte aber fest, dass die Struktur und die Gesamtsituation der Ausgestaltung der Aufnahmebedingungen in Italien allein nicht jegliches Überstellen von Asylbewerbern in dieses Land verhindert (Rn. 115). Diesen Grundsatz betonte der EGMR erneut in seiner Entscheidung vom 13. Januar 2015 (Nr. 51428/10, A.M.E./.Niederlande, abrufbar auf der Internetseite des EGMR) und wies die Beschwerde des Antragstellers gegen eine Überstellung nach Italien als unzulässig ab.
Soweit der EGMR in der Entscheidung Tarakhel die individuelle Lage der Beschwerdeführer im Lichte der Gesamtsituation untersucht und hierbei aufgrund der besonderen Schutzbedürftigkeit der Personen individuelle Garantien von den italienischen Behörden bei der Wiederaufnahme verlangt hat, liegt hier eine vergleichbare Situation nicht vor. Das Gericht hat die besondere Schutzbedürftigkeit insbesondere asylsuchender Kinder betont, da sie spezifische Bedürfnisse hätten und extrem verletzlich seien. Dies gelte auch dann, wenn die Kinder von ihren Eltern begleitet würden (EGMR, U.v. 4.11.2014, a. a. O., Rn. 119). Diesen Unterschied zu einem – wie hier – gesunden jungen Mann, hat der Europäische Gerichtshof auch in seiner Entscheidung vom 13. Januar 2015 (Nr. 51428/10, a. a. O., Rn. 34) herausgestellt und ausgeführt, dass dem Beschwerdeführer keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung bei einer Rückführung droht.
Es ist mittlerweile gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung, dass ein alleinstehender Mann im Falle seiner Rückkehr nach Italien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr läuft, wegen systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Zuletzt haben dies das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen und das Oberverwaltungsgericht Niedersachsen bestätigt (OVG NRW, U.v. 24.4.2015 – 14 A 2356/12.A – juris Rn. 20 ff. m. w. N., U.v. 19.5.2016 – 13 A 516/14.A – juris Rn. 65 ff. m. w. N.; NdsOVG, U.v. 25.6.2015 – 11 LB 248/14 – juris Rn. 47 ff. m. w. N.). In diesen Entscheidungen wird ausgeführt, dass die vorliegenden Erkenntnisse nicht den Schluss rechtfertigten, dass der Asylbewerber während des Asylverfahrens die elementaren Grundbedürfnisse (wie Unterkunft, Nahrungsaufnahme, Hygienebedürfnis, medizinische Grundversorgung) nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen könne. Die Unterbringung in den staatlichen Einrichtungen werde grundsätzlich für die Zeit des Asylverfahrens und eines etwaigen Rechtsmittelverfahrens gewährleistet. Die bestehenden Mängel seien nicht so gravierend, dass damit ein grundlegendes systemisches Versagen des Mitgliedstaates vorliege. Eine andere Beurteilung sei auch nicht im Hinblick auf die derzeit besonders hohe Zahl von über das Mittelmeer in Italien ankommenden Flüchtlingen geboten. Die Schwelle zur unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung würde erst dann überschritten, wenn auf die erhöhte Zahl von Einwanderern keinerlei Maßnahmen zur Bewältigung des Problems ergriffen würden. Italien reagiere flexibel auf den Zustrom. Ein alleinstehender Mann gehöre grundsätzlich nicht zu den besonders schutzbedürftigen Personen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, deren Rücküberstellung eine individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden hinsichtlich der Unterbringung erfordere (vgl. OVG NRW, U.v. 19.5.2016, a. a. O., Rn. 99 ff.; NdsOVG, U.v. 25.6.2015, a. a. O., Rn. 51, 56). Den in diesen Entscheidungen getroffenen tatsächlichen Feststellungen und Rechtsauffassungen schließt sich das Gericht an.
Auch aus dem Vortrag des Klägers ergibt sich keine besondere Schutzbedürftigkeit. Er hat sich neun Monate in Italien aufgehalten und selbst nicht vorgetragen, dass seine Lebensbedingungen unzumutbar gewesen seien. Als Gründe, die dagegen sprechen, dass sein Antrag auf internationalen Schutz nicht in Deutschland, sondern in einem anderen Dublin-Mitgliedstaat geprüft werde, gab er lediglich an, dass er Deutschland möge und hier besser leben und arbeiten könne. Soweit die Prozessbevollmächtigte bei der Übermittlung einer Anschrift, unter der der Kläger erreichbar sei, mitgeteilt hat, dass der Kläger in Italien keine eigene Wohnadresse oder Unterkunft in einem staatlichen oder öffentlich geförderten Heim habe, sondern – wie viele afrikanische Flüchtlinge – ohne jegliche staatliche Unterstützung der Verwahrlosung ausgesetzt sei und nur gelegentlich Hilfe von privater Seite bekomme, sind damit keine systemischen Mängel der Aufnahmebedingungen im Asylverfahren belegt. Denn es wird damit nicht vorgetragen und es ist aufgrund der gesamten Aufenthaltsdauer in Italien nicht ersichtlich, dass sich der Kläger noch im Asylverfahren befindet. Der Anspruch auf Gewährleistung der Grundbedürfnisse endet in der Regel mit dem Abschluss des Asylverfahrens. Da es in Italien kein staatliches Sozialhilfesystem gibt, sind diese Personen – ebenso wie italienische Staatsangehörige – im Fall der Mittellosigkeit auf sich allein gestellt. Diese Tatsache führt aber nicht zu der Annahme von systemischen Mängeln im Asylverfahren (vgl. BayVGH, U.v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 44). Im Übrigen hat der Kläger bei seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland seine wirtschaftliche Situation nicht als schlecht, sondern als durchschnittlich angegeben.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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