Europarecht

Keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Polen

Aktenzeichen  M 7 S 16.50425

Datum:
13.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylVfG AsylVfG § 27a, § 34a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 2 lit. g, Art. 9, Art. 10, Art. 11

 

Leitsatz

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht davon auszugehen, dass Asylbewerber in Polen aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr laufen, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Die aktuell vorliegenden Erkenntnisse über die Situation von Asylbewerbern in Polen belegen vielmehr, dass die Aufnahmebedingungen dort den grund- und menschenrechtlichen Standards genügen. (red. LS Clemens Kurzidem)
Die in Art. 7 ff Dublin III-VO genannten Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats unter Berücksichtigung von familiären Belangen sind auf volljährige Kinder eines Asylbewerbers nicht anwendbar. Deren Anwendung ist vielmehr auf Familienangehörige im Sinne von Art. 2 lit. g Dublin III-VO beschränkt und schließt erwachsene Kinder nicht mit ein. (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Der Antrag wird abgelehnt.
II.
Die Antragsteller haben die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Die Antragsteller, ukrainische Eheleute und ihr am … geborener Sohn …, reisten am 1. März 2016 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 11. April 2016 Asylanträge. Zu ihrem Reiseweg konnten sie bei den Gesprächen beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) am 11. April 2016 keine Angaben machen, außer, dass sie etwa 30 Stunden unterwegs waren und mit einem Mini-Bus gereist sind. Sie seien im Besitz eines Schengen-Visums. Weiter erklärten sie, ihr Sohn …, geboren am …, sei in der Nähe von Nürnberg und betreibe dort ein Asylverfahren.
Aufgrund der bei den Antragstellern gefundenen Einreisevisa für Polen, ausgestellt am 11. Februar 2016 und gültig bis 15. April 2016, stellte das Bundesamt am 31. Mai 2016 ein Übernahmeersuchen an Polen, das mit Schreiben vom 10. Juni 2016 seine Zuständigkeit für die Bearbeitung der Asylanträge nach der Dublin-III-Verordnung erklärte.
Mit Bescheid vom 16. Juni 2016 lehnte das Bundesamt die Asylanträge nach § 27 a AsylG als unzulässig ab (Nummer 1) und ordnete gemäß § 34 a Abs. 1 AsylG die Abschiebung nach Polen an (Nummer 2), da Polen aufgrund der erteilten Visa nach Art. 12 Abs. 2 Dublin-III-VO für die Behandlung der Asylanträge zuständig sei. Ferner wurde das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nummer 3). Außergewöhnlich humanitäre Gründe, die die Antragsgegnerin veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht auszuüben, seien nicht ersichtlich.
Gegen den am 21. Juni 2016 zugestellten Bescheid erhoben die Antragsteller durch einen Bevollmächtigten am 23. Juni 2016 Klage und beantragten zugleich,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im Bescheid vom 16. Juni 2016 enthaltene Abschiebeanordnung anzuordnen.
Zur Begründung wurde unter Heranziehung von Rechtsprechung und Berichten vorgetragen, dass das Asylverfahren in Polen an systemischen Mängeln leide, ferner hätte das Bundesamt im Rahmen der Familienzusammenführung berücksichtigen müssen, dass der Sohn … in Deutschland ebenfalls ein Asylverfahren betreibe.
Mit Schreiben vom 24. Juni 2016 übersandte das Bundesamt die Behördenakten.
Wegen weiterer Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichts- und Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der statthafte Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid vom 16. Juni 2016 verfügte Abschiebungsanordnung nach Polen ist zulässig. Er wurde insbesondere gem. § 34 a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG, § 222 Abs. 2 ZPO fristgerecht innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheids gestellt.
Der Antrag ist jedoch unbegründet.
Entfaltet ein Rechtsbehelf wie hier von Gesetzes wegen (§ 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO i. V. m. § 75 Abs. 1 AsylVfG) keine aufschiebende Wirkung, kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO anordnen. Bei der vom Gericht im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu treffenden Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Bescheides und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs sind auch die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen, die ein wesentliches, wenn auch nicht das alleinige Indiz für und gegen die Begründetheit des einstweiligen Rechtsschutzbegehrens sind.
Vorliegend überwiegt das öffentliche Interesse an der Vollziehung der Anordnung gegenüber dem Aussetzungsinteresse der Antragsteller. Denn nach der gebotenen summarischen Prüfung auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG) ist davon auszugehen, dass die Antragsteller durch die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung nach Polen nicht in subjektiven Rechten verletzt werden.
Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 4, Abs. 6 AsylVfG ist in diesen Fällen der Asylantrag als unzulässig abzulehnen.
Nach den Regelungen der vorliegend anzuwendenden Dublin-III-Verordnung (vgl. Art. 49 Unterabs. 2 Satz 1 der VO (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.6.2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, sog. Dublin-III-VO) ist grundsätzlich nur ein einziger Mitglied-staat der Europäischen Union für die Prüfung eines Asylantrags zuständig (Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin-III-VO). Dies ist hier Polen, da die Antragsteller im Besitz von Einreisevisa für Polen sind, die am 11. Februar 2016 ausgestellt wurden und bis 15. April 2016 gültig waren.
Die Zuständigkeit Polens ergibt sich aus Art. 12 Abs. 2 und Abs. 4 Unterabs. 1 Dublin-III-VO. Nach diesen einschlägigen Normen zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gilt, dass für die Prüfung des Asylantrags eines Antragstellers mit gültigem Visum der Mitgliedstaat zuständig ist, der das Visum erteilt hat. Besitzt der Asylbewerber ein Visum, das seit weniger als sechs Monaten abgelaufen ist, aufgrund dessen er in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einreisen konnte, so bleibt der Mitgliedstaat, der das Visum erteilt hat, für die Prüfung des Asylantrags zuständig, solange der Antragsteller das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat (Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 1 i. V. m. Abs. 2 Dublin III-VO). So liegt der Fall hier.
Die Antragsgegnerin ist auch nicht nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin-III-VO für die Prüfung des Asylantrags des Klägers zuständig geworden, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gäbe, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in Polen systemische Schwachstellen aufwiesen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen würden.
Das Gemeinsame Europäische Asylsystem stützt sich auf die uneingeschränkte und umfassende Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention und die Versicherung, dass niemand dorthin zurückgeschickt wird, wo er Verfolgung ausgesetzt ist. Es gilt grundsätzlich die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Allerdings hat nicht jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedstaat zur Folge, dass der Mitgliedstaat, in dem ein Asylantrag eingereicht wurde, daran gehindert ist, den Antragsteller an diesen Mitgliedstaat zu überstellen. Nur wenn ernsthaft zu befürchten wäre, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigenden Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren, so wäre die Überstellung mit dieser Bestimmung unvereinbar (vgl. EUGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 u. a. – juris Rn. 75, 80, 82, 85 und 86). Diese vom Europäischen Gerichtshof aufgestellten Grundsätze sind nunmehr auch ausdrücklich in die Dublin-Verordnung aufgenommen worden. Der Tatrichter muss sich zur Widerlegung der auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens unter den Mitgliedstaaten gründenden Vermutung, die Behandlung der Asyl-bewerber stehe in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK, die Überzeugungsgewissheit (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) verschaffen, dass der Asylbewerber wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen in dem eigentlich zuständigen Mitgliedstaat mit beachtlicher, d. h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wird (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9).
Ausgehend von diesen Maßstäben und im Einklang mit der bislang ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung (vgl. aus der Vielzahl einschlägiger Entscheidungen nur OVG Lüneburg, B.v. 1.4.2014 – 13 LA 22/1 – juris; VG München, B.v. 15. 12.2014 – M 11 S 14.50690 – juris; VG Ansbach, B.v. 11.1.2016 – AN 14 S 15.50496 – juris; VG Karlsruhe, U.v. 29.10.2013 – A 1 K 1565/13 – juris, das sich mit dem von den Antragstellern zitierten Bericht „Migration is not a crime“ der Helsinki Foundation for Human Rights vom 29.8.2013 auseinandersetzt; VG Gelsenkirchen, U.v.10.3.2015 – 6a K 3687/14.A – juris) ist im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht davon auszugehen, dass die Antragsteller in Polen aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber tatsächlich Gefahr laufen, dort einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Die aktuell vorliegenden Erkenntnisse über die Situation von Asylbewerbern in Polen belegen vielmehr, dass die Aufnahmebedingungen dort den grund- und menschenrechtlichen Standards genügen. Die Asylverfahren werden geordnet geführt und im jeweiligen Einzelfall entschieden; während der Dauer des Asylverfahrens werden dem Asylbewerber in ausreichendem Umfang Unterkunft und Verpflegung gewährt. Soweit der Bevollmächtigte der Antragsteller rügt, dass Asylbewerber in bewachten Zentren untergebracht und überwacht würden, ist diese Art der Regulierung des Aufenthalts zwar im Vergleich zu Deutschland restriktiver, erreicht aber nicht die Qualität einer Inhaftierung (vgl. VG Karlsruhe, U.v. 29.10.2013 – A 1 K 1565/13 – juris Rn. 35).
Soweit der Bevollmächtigte der Antragsteller vorträgt, das Bundesamt hätte im Rahmen der Familienzusammenführung berücksichtigen müssen, dass der Sohn … in Deutschland ein Asylverfahren betreibe, ist dem nicht zu folgen. In Art. 7 ff Dublin-III-VO sind Kriterien zur Bestimmung des … Mitgliedstaats unter Berücksichtigung von familiären Belangen aufgestellt. Der Sohn … ist volljährig (geb. …), so dass der in der Dublin-III-VO enthaltene Minderjährigenschutz nicht greift. Die Voraussetzungen für eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 9 und 10 Dublin-III-VO oder nach Art. 11 Dublin-III-VO zur Durchführung eines Familienverfahrens liegen nicht vor. Die Anwendung der Zuständigkeitsbestimmungen der zitierten Artikel der Dublin-III-VO ist auf Familienangehörige im Sinne von Art. 2 lit. g Dublin-III-VO beschränkt und sie schließen erwachsene Kinder nicht mit ein.
Die Abschiebungsanordnung ist ebenfalls rechtmäßig. Gem. § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27 a AsylVfG) an, sobald feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Diese Voraussetzungen liegen vor. Es bestehen weder zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote hinsichtlich Polens noch inlandsbezogene Abschiebungshindernisse bzw. Duldungsgründe, die im Rahmen des § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG vom Bundesamt zu prüfen sind (BayVGH, B. v. 12. März 2014 – 10 CE 14.427- juris Ls).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylVfG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylVfG).

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