Europarecht

Keine systemischen Mängel im Asylverfahren in der Schweiz

Aktenzeichen  Au 6 K 17.50138

Datum:
31.7.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34a Abs. 1 S. 1, § 77 Abs. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 23 Abs. 2, Art. 25 Abs. 2
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5
GRCh GRCh Art. 4

 

Leitsatz

In der Schweiz besteht für einen Asylantragsteller nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr, wegen systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen einer unmenschlichen oder erniedrigen Behandlung iSv Art. 4 GRCh ausgesetzt zu sein. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die wegen des übereinstimmenden Verzichts der Beteiligten nach § 101 Abs. 2 VwGO ohne die Durchführung einer mündlichen Verhandlung entschieden werden konnte, bleibt in der Sache ohne Erfolg. Der mit der Klage angegriffene Bescheid des Bundesamtes ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer einen Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft zuständigen Staat gestellt hat. Solche Rechtsvorschriften finden sich aktuell in der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (sog. Dublin-III-VO, ABl. L 180 vom 29.6.2013, S. 31). Demnach ist im auch für die Anwendung der Dublin III-VO maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG, vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2016 – 1 C 24.15 – juris Rn. 8) die Schweiz zuständig.
1. Vorliegend ist davon auszugehen, dass die Schweiz für die Prüfung des dort gestellten Asylantrags des Klägers zuständig ist.
Gemäß Art. 3 Abs. 1 VO 604/2013/EU prüft der Mitgliedstaat den Asylantrag, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin-III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Wird auf der Grundlage von Beweismitteln oder Indizien festgestellt, dass ein Asylbewerber aus einem Drittstaat kommend die Land-, See- oder Luftgrenze eines Mitgliedstaats illegal überschritten hat, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig (Art. 13 Abs. 1 Satz 1 VO 604/2013/EU). Dies ist aufgrund der vorliegenden Beweise und Indizien (Art. 22 Abs. 3 VO 604/2013/EU i.V.m. Anhang II Verzeichnis A I Nr. 7, B I Nr. 7 der Durchführungsordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. L 39 vom 8.2.2014, S. 1) hier der Daten aus der Eurodac-Datei (vgl. Art. 8 Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 des Rates vom 11.12.2000 über die Errichtung von „Eurodac“ für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung des Dubliner Übereinkommens, ABl. L 316 vom 15.12.2000, S. 1, i.V.m. Art. 2 Abs. 3 Satz 5 Verordnung (EG) Nr. 407/2002 des Rates vom 28.2.2002 zur Festlegung von Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 2725/2000 über die Errichtung von „Eurodac“ für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung des Dubliner Übereinkommens, ABl. L 62 vom 5.3.2002, S. 1), der Fall.
Der Kläger hat sich nachweislich in der Schweiz aufgehalten und dort erfolglos um Asyl nachgesucht. Bestätigt wird dies durch den dem Bundesamt vorliegenden Eurodac-Treffer. Die Schweiz ist somit gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) i.V.m. Art. 12 Abs. 2 und Abs. 4 Unterabs. 2 Dublin III-VO gehalten, den Kläger wieder aufzunehmen; die Schweiz ließ das Wiederaufnahmegesuch unbeantwortet und ist daher durch Ablauf der Antwortfrist von zwei Wochen nach Versand des Rückübernahmegesuchs am 14. März 2017 seit dem 28. März 2017 zuständig (Art. 25 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III-VO).
Soweit der Kläger nunmehr geltend macht, wegen seiner Einreise mit Visum nach Italien sei nicht die Schweiz sondern Italien nach Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO zuständig, ist auf Art. 12 Abs. 4 Unterabs. 2 Dublin III-VO zu verweisen. Danach ist der Mitgliedstaat zuständig, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wird, wenn der Antragsteller ein Visum besitzt, das seit mehr als sechs Monaten abgelaufen ist und er die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten nicht verlassen hat. Dies ist beim Kläger der Fall.
Der Kläger reiste mit einem vom 2. September 2016 bis 2. Oktober 2016 gültigen Visum (Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 12.1.2017, VG-Akte Bl. 49/52) nach Italien, stellte aber erst in der Schweiz am 21. September 2016 einen Antrag auf internationalen Schutz. Jedenfalls zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt nach § 77 Abs. 1 AsylG ist damit das bis 2. Oktober 2016 gültige Visum seit 3. April 2017 mehr als sechs Monaten abgelaufen. Zwischenzeitlich hat sich der Kläger nach eigenen Angaben nur in Italien, in der Schweiz und in Deutschland aufgehalten und damit die Hoheitsgebiete der Mitgliedstaaten und der damit im Dublin-System assoziierten Staaten (Schweiz) nicht verlassen.
2. Gründe, von einer Überstellung in die Schweiz gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013/EU abzusehen, sind nicht ersichtlich.
Diese Vorschrift setzt voraus, dass es sich als unmöglich erweist, einen Kläger an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GrCH mit sich bringen. In diesem Fall setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der Zuständigkeitskriterien nach Kapitel III der Dublin-III-VO fort, um ggf. die Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festzustellen. Kann keine Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaates festgestellt werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.
Dieser Regelung liegt das Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10, C-493/10 – juris) zugrunde. Danach gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat der EU den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der EU-Grundrechtecharta entspricht. Allerdings ist diese Vermutung widerleglich. Den nationalen Gerichten obliegt die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GrCH ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH v. 21.12.2011 a.a.O.). Die Vermutung ist jedoch nicht bereits bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen in dem jeweils zuständigen Mitgliedstaat widerlegt. An die Feststellung systemischer Schwachstellen im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013/EU sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von derartigen Mängeln ist nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im betreffenden Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris Rn. 9).
a) Der Kläger läuft im Falle seiner Überstellung in die Schweiz nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gefahr, wegen systemischer Schwachstellen des dortigen Asylverfahrens und/oder der Aufnahmebedingungen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 GRCharta ausgesetzt zu werden.
Hiervon kann nach Auffassung des Gerichts in Übereinstimmung mit der insoweit einhelligen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nicht ausgegangen werden (vgl. VG München, B.v. 25.4.2017 – M 1 S. 17.50489 – juris Rn. 15 ff. m.w.N.). Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen; Gegenteiliges hat auch der Kläger nicht substantiiert vorgebracht. Daher steht zur Überzeugung des Gerichts somit fest, dass der Kläger im Falle einer Überstellung in die Schweiz mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keiner solchen Gefahr ausgesetzt wird.
b) Außergewöhnliche humanitäre Gründe, die ein Selbsteintrittsrecht der Beklagten nach Art. 17 Abs. 1 VO 604/2013/EU begründen könnten, sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Besondere persönliche Umstände, die befürchten ließen, dass dem Kläger bei der Durchführung seines Asylverfahrens in Belgien erhebliche Gefahren für Leib und Leben drohen würden, die einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK befürchten ließen, sind nicht ersichtlich. Soweit der volljährige Kläger insoweit auf verwandtschaftliche Kontakte zu sechs im Bundesgebiet lebenden Cousins verweist, ist dies für die hier allein streitgegenständliche Rückführung in die Schweiz irrelevant.
Soweit der Kläger geltend macht, ihm drohe in der Schweiz eine Rücküberstellung nach Italien, ist dies vom Bundesamt nicht zu prüfen, das lediglich die Rückführung in die Schweiz angeordnet hat, welche als Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention hinsichtlich seines Asylrechtsvollzugs auch mit Blick auf Italien keinen schwächeren Rechtsstandards unterliegt als Deutschland. Rückführungshindernisse hinsichtlich Italiens zu prüfen, ist Sache der Schweiz. Es handelt sich dabei auch nicht um einen Verstoß gegen das Refoulement-Verbot, da Italien kein Drittstaat ist, in dem der Kläger Verfolgung geltend machte.
c) Die Abschiebung des Klägers in die Schweiz kann auch durchgeführt werden; sie ist rechtlich bzw. tatsächlich möglich. Ihr stehen weder zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote noch inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse entgegen.
Solche Abschiebungshindernisse sind im Rahmen einer Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 AsylG ausnahmsweise von der sonst allein auf die Prüfung zielstaatsbezogener Abschiebungsverbote beschränkten Beklagten auch noch nach Erlass der Abschiebungsanordnung zu berücksichtigen (vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – AuAS 2014, 244), da die Abschiebung nur durchgeführt werden darf, wenn sie rechtlich und tatsächlich möglich ist.
Nach derzeitiger Sachlage besteht für den Kläger kein tatsächliches Abschiebungshindernis; insbesondere ist er reisefähig und die Rückübernahme durch die Schweiz möglich, so dass sein Einwand, er wolle in der Schweiz bzw. in Deutschland bleiben, irrelevant ist.
d) Auch läuft die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 VO 604/2013/EU von sechs Monaten seit fiktiver Annahme des Überstellungsgesuchs durch die Schweiz noch und ist daher noch nicht abgelaufen, so dass es keiner Entscheidung über die Frage bedarf, ob dem Kläger allein aus dem Fristablauf ein subjektiv-öffentliches Recht erwachsen kann.
Die Rückübernahmefrist hat mit Ablauf des 28. März 2017 (2 Wochen nach Stellung des Rückübernahmegesuchs nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 VO 604/2013/EU) zu laufen begonnen und läuft erst am 28. September 2017 ab (Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1, Abs. 2 VO 604/2013/EU), kann derzeit also noch gewahrt werden. Ob die Frist durch das Eilrechtsgesuch sogar neu angelaufen ist (Art. 29 Abs. 1 VO 604/2013/EU, dazu BVerwG, U.v. 26.5.2016 – 1 C 15.15 – juris Rn. 11), kann daher dahinstehen.
e) Einwände gegen das im streitgegenständlichen Bescheid verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot für neun Monate ab dem Tag der Abschiebung, gestützt auf § 11 AufenthG, sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat der Kläger keine schützenswerten Bindungen an das Bundesgebiet geltend gemacht, die für seine kürzere Fernhaltung sprächen; solche sind auch sonst nicht ersichtlich.
3. Nach allem erweist sich der angefochtene Bescheid des Bundesamtes als rechtmäßig und war die Klage demnach mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG. Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO.

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