Europarecht

Pflicht zum Selbsteintritt der Bundesrepublik trotz Gewähr subsidiären Schutzes in Bulgarien wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens

Aktenzeichen  W 2 K 15.30118

Datum:
15.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 I 2, 3, II 2
AsylG AsylG §§ 26a, 27a, 34a
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 II UAbs. 2, Art. 17 I
Dublin II-Verordnung Dublin II-Verordnung Art. 2 lit. c, Art. 16 I lit. e

 

Leitsatz

Die Zubilligung subsidiären Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union aufgrund eines vor dem 20. Juli 2015 gestellten Asylantrags führt aufgrund der Anwendbarkeit der RL 2005/85/EG (Asylverfahrensrichtlinie a.F.)nicht zur Unzulässigkeit eines im Bundesgebiet gestellten Asylantrags nach § 60 II 2 AufenthG iVm § 60 I 3 AufenthG (wie BVerwG BeckRS 2015, 54736). Die vorzeitige Anwendung von Art. 33 I lit. a RL 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie n.F.) kommt wegen der belastenden Wirkung für den betroffenen Antragsteller nicht in Betracht, sodass § 60 II 2 AufenthG europarechtskonform dahingehend auszulegen ist, dass die Verweisung auf § 60 I 3 AufenthG nicht auch zur Anwendung der Ausnahmebestimmung des § 60 I 2 AufenthG führt. (red. LS Clemens Kurzidem)
§ 26a I 1 AsylG findet keine Anwendung, wenn das vorrangige Zuständigkeits- und Rückführungsregime des Dublin-Verfahrens eingreift. Mit der Zuerkennung subsidiären Schutzes durch einen anderen Mitgliedstaat kommt ein Dublin-Verfahren dann nicht zum Abschluss, wenn der erstmalige Schutzantrag vor dem 1. Januar 2014 gestellt wurde, weil der Antrag damit noch in den Anwendungsbereich der Dublin II-VO fällt, die die Gewähr subsidiären Schutzes und damit verbundene Ablehnung des Flüchtlingsschutzes für den Verfahrensabschluss nicht ausreichen lässt.    (red. LS Clemens Kurzidem)
Besitzt ein Asylbewerber einen Anspruch, dass die Bundesrepublik Deutschland ermessensfehlerfrei über einen Selbsteintritt aus humanitären Gründen nach Art. 17 I Dublin III-VO entscheidet, kann der Asylantrag nicht nach § 27a AsylG als unzulässig abgelehnt werden. Die grundsätzlich nur organisatorischen Regelungen der Dublin III-VO sind dabei nur dann als individualschützend anzusehen, wenn sie zugleich dem Grundrechtsschutz des Antragstellers dienen (wie BVerwG, U.v. 16.11.2015, BeckRS 2015, 55772). (red. LS Clemens Kurzidem)
Der Anspruch aus Art. 17 I Dublin III-VO auf ermessensfehlerfreie Entscheidung verdichtet sich dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre. (red. LS Clemens Kurzidem)
Systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, die nach Art. 3 II UAbs. 2 Dublin III-VO einer Überstellung nach Bulgarien entgegenstehen, sind für eine Familie mit zwei Kleinkindern im Alter von vier und sechs Jahren und einem 2015 geborenen Säugling gegeben. (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Januar 2015 (GZ: 5844393 – 475) wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
III.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Höhe in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Gem. § 101 Abs. 2 VwGO kann das Gericht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden. Entsprechende Einverständniserklärungen liegen mit dem Schreiben des Klägervertreters vom 26. November 2015 und der allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 25. Februar 2016 mit Ergänzung vom 24. März 2016 vor.
Die Klage ist zulässig und begründet.
Der angefochtene Bescheid vom 16. Januar 2015 ist insgesamt rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 Asylgesetz (AsylG) i. d. F. d Bek. vom 2. September 2008 (BGBl. I 2008, 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 2. Februar 2016, ist für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage der Zeitpunkt der Entscheidungsfindung maßgeblich.
Der formell rechtmäßige Bescheid ist sowohl in Ziffer 1) als auch in Ziffer 2) materiell rechtswidrig.
Die Ablehnung des Asylantrags des Klägers als unzulässig findet weder eine Rechtsgrundlage in § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, noch lässt sie sich im Wege der Umdeutung auf eine andere Rechtsgrundlage stützen.
Wie das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 23. Oktober 2015, Az. 1 B 41/15 – juris, ausgeführt hat, dürfen vor dem 20. Juli 2015 gestellte Asylanträge nicht allein aufgrund von § 60 Abs. 2 Satz 2 i. V. m. Abs. 1 Satz 3 AufenthG als unzulässig abgelehnt werden. Dies ergibt sich aus der Übergangsregelung in Art. 52 Unterabsatz 1 der Richtlinie 2013/32/EU (Asylverfahrensrichtlinie n. F.), der für Asylanträge, die vor diesem Datum gestellt wurden, die Anwendung der Rechts- und Verfahrensvorschriften nach Maßgabe der Richtlinie 2005/85/EG (Asylverfahrensrichtlinie a. F.) vorsieht. Denn gem. Art. 25 Abs. 2 lit. a) RL 2005/85/EG müssen die Mitgliedstaaten – zusätzlich zu den Fällen, in denen ein Asylantrag nach Maßgabe der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (sog. Dublin II-VO) nicht geprüft wird -, nur dann nicht prüfen, ob der Antragsteller als Flüchtling i. S. d. Qualifikationsrichtlinie anzuerkennen ist, wenn ein anderer Mitgliedstaat die Flüchtlingseigenschaft bereits zuerkannt hat. Im Fall der Kläger wurde lediglich subsidiärer Schutz nicht jedoch die Flüchtlingseigenschaft gewährt. Eine vorzeitige Anwendung von Art. 33 Abs. 1 lit. a) der RL 2013/32/EU, der die Möglichkeit einräumt, einen Antrag auf internationalen Schutz, also Flüchtlingsanerkennung und subsidiären Schutz, als unzulässig abzuweisen, wenn ein anderer Mitgliedstaat internationalen Schutz bereits in Form von subsidiärem Schutz gewährt hat, kommt wegen seiner belastenden Wirkung für den betroffenen Antragsteller auch gem. Art. 5 RL 2013/32/EG nicht in Betracht. In diesem Sinne ist § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG europarechtskonform dahingehend auszulegen, dass die Verweisung auf § 60 Abs.1 Satz 3 AufenthG nicht auch zur entsprechenden Anwendung der Ausnahmen für Fälle nach § 60 Abs.1 Satz 2 AufenthG führt, auf die § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG Bezug nimmt. Zur weiteren Begründung wird auf die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 23. Oktober 2015, Az. 1 B 41/15 – juris, verwiesen. Die Kläger stellte am 7. November 2014 in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag, mit dem sie gem. § 13 Abs. 2 Satz 1 AsylG zugleich internationalen Schutz, d. h. die Flüchtlingsanerkennung und subsidiären Schutz beantragten. Da der Antrag vor dem 20. Juli 2015, dem Anwendungsstichtag für die Asylverfahrensrichtlinie n. F., datiert, muss § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG jedenfalls im Fall der Kläger europarechtskonform dahingehend ausgelegt werden, dass die Verweisungskette nicht dazu führt, dass ein Antrag auf Flüchtlingsanerkennung nur deswegen als unzulässig abgelehnt werden darf. Ob dies – bei unverändertem Inhalt der nationalen Norm – auch für Anträge gilt, die nach dem 20. Juli 2014 gestellt wurden, kann offen bleiben.
Die Ablehnung des klägerischen Asylantrags lässt sich auch nicht im Wege der Umdeutung auf einer anderen Rechtsgrundlage aufrechterhalten.
Zwar kann ein fehlerhafter Verwaltungsakt gem. § 47 Abs. 1 VwVfG in einen anderen Verwaltungsakt umgedeutet werden, wenn er auf das gleiche Ziel gerichtet ist, von der erlassenden Behörde in der geschehenen Verfahrensweise und Form rechtmäßig hätte erlassen werden können, und wenn die Voraussetzungen für dessen Erlass erfüllt sind. Jedoch kommt eine Umdeutung in einen Ablehnungsbescheid auf einer anderen Rechtsgrundlage hier nicht in Betracht. Insbesondere lässt sich die Ablehnung als unzulässig nicht auf § 26a oder § 27a.
So findet § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG wegen der Vorrangigkeit des durch das Dublin-Verfahren geregelte Zuständigkeits- und Rückführungsregime schon keine Anwendung. Denn die Zuständigkeitsbestimmung auf der Grundlage des sog. Dublin-Verfahrens scheidet nicht schon deshalb aus, weil den Kläger von einem Mitgliedstaat bereits subsidiärer Schutz zugesprochen wurde. Zwar endet nach der aktuell gültigen Dublin III-VO (Verordnung (EU) Nr. 604/2013) die Anwendbarkeit des dort etablierten Systems zur Bestimmung des für den Asylantrag zuständigen Mitgliedstaates in zeitlicher Hinsicht mit dem Erlass einer Entscheidung, die dem Antragsteller internationalen Schutz i. S.v. Art. 2 lit. a) der Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie n. F.) gewährt. Dies umfasst die Flüchtlingsanerkennung genauso wie die „bloße“ Gewährung subsidiären Schutzes. Gem. Art. 2 lit. f) der Dublin III-VO ist derjenige dann als „Begünstigter internationalen Schutzes“ anzusehen und das Dublin-Verfahren damit beendet. Dies gilt gemäß der Überleitungsbestimmung in Art. 49 Abs. 2 Satz 1 der Dublin III-VO jedoch nur für Anträge, die nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurden.
Der von den Klägern in Bulgarien am 28. November 2013 gestellte Asylantrag fällt zeitlich also noch in den Anwendungsbereich der Verordnung (EG) Nr. 343/2003 (sog. Dublin II-VO). So ordnet auch Art. 49 Abs. 1 Unterabs. 2 Satz 2 Dublin III-VO für die Zuständigkeitsbestimmung ausdrücklich die Fortgeltung der Dublin II-VO an. Nichts anderes kann für die rechtliche Reichweite des beantragten Schutzes gelten. Denn anders als Art. 2 lit. f) Dublin III-VO, definiert Art. 2 lit. c) Dublin II-VO einen Asylantrag als „Ersuchen um internationalen Schutz eines Mitgliedstaates im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention“, so dass die Gewährung bloßen subsidiären Schutzes zugleich die Ablehnung des Antrags auf Flüchtlingsanerkennung beinhaltet, an die sich gem. Art. 16 Abs. 1 lit. e) Dublin II-VO für den ablehnenden Mitgliedstaat die Verpflichtung knüpft, den Drittstaatsangehörigen, der sich unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, nach Maßgabe des Art. 20 Dublin II-VO wieder aufzunehmen (vgl. dazu: VG Magdeburg, U. v. 5.10.2015, Az. 9 A 372/14 MD – juris). Nach den Regelungen der Dublin II-VO führt also nur die Anerkennung als Flüchtling i. S.v. Art 1 lit. g) der Dublin II-VO dazu, dass das Dublin-Verfahren danach keine Anwendung mehr findet. Im Unterschied zur neueren Dublin III-VO, die auf die im Jahr 2013 in Bulgarien gestellten Anträge der Kläger jedoch gerade nicht anwendbar ist, lässt die – für die nachwirkenden Rechtsfolgen des Antrags maßgebliche – Dublin II-VO die Zuerkennung subsidiären Schutzes für die Beendigung des Dublin-Regimes noch nicht genügen. Parallel zu den im Rahmen von § 60 Abs. 2 Satz 2 AufenthG dargestellten Änderungen bei den Asylverfahrensrichtlinien wird mit der Umstellung von Dublin II-VO auf Dublin III-VO also eine Angleichung der Rechtsfolgen bei der Zuerkennung von subsidiärem Schutz an die Rechtsfolgen der Flüchtlingsanerkennung vollzogen. Aufgrund der jeweiligen Überleitungsvorschriften kommt diese Gleichstellung bei den Klägern jedoch zeitlich weder bei der Asylverfahrensrichtlinie noch im Dublin-Verfahren zum Tragen. So zieht die Zuerkennung des subsidiären Schutzes in Bulgarien am 10. März 2014 bzw. 20. Mai 2014 auch nicht die Beendigung des Dublin-Verfahrens nach sich, sondern ist bei der Rechtsfolgenbestimmung als Ablehnung eines Antrags auf Flüchtlingsanerkennung zu behandeln. Unerheblich ist dabei, dass die Verbescheidung der Anträge zeitlich bereits in den Anwendungsbereich der Dublin III-VO fällt. Denn die Fortgeltung des Dublin-Regimes ist allein an die Antragstellung geknüpft. Die Verpflichtung zur Wiederaufnahme gem. Art. 16 Abs. 1 lit. e) Dublin II-VO ist deshalb auch nicht durch das In-Kraft-Treten der Dublin III-VO erloschen. Sie wirkt vielmehr in das Dublin-Verfahren zur Bestimmung der Zuständigkeit für die am 7. November 2014 in Deutschland gestellten Asylanträge hinein. Im Rahmen der Zuständigkeitsbestimmung der Dublin III-VO für einen Antrag nach dem 1. Januar 2014 sind die Regelungen der Dublin II-VO nämlich auch noch dann – implizit – beachtlich, wenn die Zuständigkeit sich aus der Prüfung und ggf. Verbescheidung eines Asylantrags ableitet, der zeitlich unter das Regelungsregime der Dublin II-VO fällt (vgl. VG Magdeburg, a. a. O.). So sieht auch Art. 41 Dublin III-VO ausdrücklich vor, dass – wenn ein Antrag nach dem 1. Januar 2014 gestellt wurde – Sachverhalte, die die Zuständigkeit eines Mitgliedsstaats gemäß dieser Verordnung nach sich ziehen können, auch berücksichtigt werden, wenn sie aus der Zeit davor datieren. Da die Zuständigkeit für die Asylanträge der Kläger auf der Grundlage des europarechtlichen Dublin-Regime zu bestimmen ist, findet die Drittstaatsregelung des § 26a AsylG gem. § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylG keine Anwendung.
Die Ablehnung der Anträge als unzulässig kann auch nicht auf § 27a AsylG gestützt werden. Dies ergibt sich zwar nicht bereits daraus, dass Bulgarien die Anwendbarkeit des Dublin-Regimes verneint und die Wiederaufnahme der Kläger im Dublin-Verfahren ablehnt. Denn das europäische Regelwerk zur Bestimmung der Mitgliedstaaten ist unmittelbar geltendes Recht, dessen Anwendbarkeit nicht im Belieben der ebenfalls daran gebundenen Mitgliedstaaten steht. Jedoch haben die Kläger einen Anspruch darauf, dass die Beklagte in einer ermessensfehlerfreien Entscheidung über einen Selbsteintritt der Bundesrepublik Deutschland gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO aus humanitären Gründen entscheidet. Mit ihrem Vortrag, dass sie in Bulgarien keine Leistungen, keine Unterkunft und keine medizinische Versorgung bekommen hätten und die Kinder dort nicht zur Schule gehen könnten, haben sie bereits im Anhörungsverfahren Anhaltspunkte für die Prüfung eines solchen Selbsteintritts geltend gemacht. Die Beklagte hat sich damit im Rahmen des bei § 26a AsylG zu prüfenden Konzepts der normativen Vergewisserung zwar befasst, jedoch lediglich auf eine vermeintliche Darlegungslast der Kläger verwiesen. Eine inhaltliche Auseinandersetzung, wie sie für eine Ermessensentscheidung gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO notwendig gewesen wäre, hat nicht stattgefunden.
Die Vorschriften in der Dublin III-VO für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaates dienen zwar prinzipiell allein der zügigen Bearbeitung von Asylanträgen und sind als organisatorische Regelungen nicht individualschützend. Wenn sie aber nicht nur die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regeln, sondern auch dem Grundrechtsschutz dienen, hat der Asylsuchende ein subjektives Recht auf Prüfung seines Asylantrags durch den zuständigen Mitgliedstaat (vgl. BVerwG, U.v. 16.11.2015 – 1 C 4.15 – juris). Im Hinblick auf den Charakter von Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO als fakultative Bestimmung kommt zwar grundsätzlich nur ein Anspruch auf eine ermessensfehlerfrei Entscheidung des Bundesamts gem. § 40 VwVfG in Betracht. Das Ermessen verdichtet sich aber dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre. Zwar gelten auch für den Anspruch auf einen Selbsteintritt gem. Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ähnlich strenge Maßstäbe wie im Rahmen des „Konzepts der normativen Vergewisserung“. Denn das gemeinsame Europäische Asylsystem gründet sich auf das „Prinzip gegenseitigen Vertrauens“, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) finden. Daraus ist die Vermutung abzuleiten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (EuGH, U.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris). Die diesem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens zugrunde liegende Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. So kann ein Asylbewerber nach höchstrichterlicher Rechtsprechung der Überstellung im Dublin-Verfahren jedenfalls mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen entgegentreten (BVerwG, B.v. 6.6.2014 – 10 B 35/14 – juris). Denn in Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO geht die europäische Rechtsgrundlage selbst davon aus, dass eine Überstellung unmöglich ist, wenn es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Zwar sind an die Feststellung solcher „systemischen Mängel“ hohe Anforderungen zu stellen. So liegen sie nur dann vor, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber aufgrund größerer Funktionsstörungen in dem zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris). Für die Kläger ist dies im Falle einer Überstellung nach Bulgarien jedoch zu bejahen. Denn als Familie mit zwei Kleinkindern im Alter von vier und sechs Jahren, sowie dem 2015 geborenen Säugling gehören sie zu einem Personenkreis, der typischerweise besonders verwundbar und deswegen in einem erhöhten Maße schutzbedürftig ist. Das Gericht geht angesichts der aktuellen Erkenntnislage davon aus, dass die Lebensumstände, denen Asylbewerber bzw. subsidiär Schutzberechtigte nach einer Rücküberstellung nach Bulgarien ausgesetzt sind, im Fall einer Familie mit drei Kleinkindern typischer so ausgestaltet sind, dass mit einer Menschenrechtsverletzung zu rechnen ist. Denn nach den neuesten Auskünften über die Lebensbedingungen für Schutzsuchende in Bulgarien, an deren Richtigkeit keine Zweifel bestehen, haben Rückkehrer, die in Bulgarien als Flüchtlinge anerkannt worden sind oder subsidiären Schutz erhalten haben, bei einer Rückkehr keine reale Chance, dort Arbeit, eine Wohnung, eine finanzielle Unterstützung (Sozialhilfe) oder eine notwendige medizinische Versorgung zu erhalten (vgl. Auswärtiges Amt, Stellungnahme an das VG Stuttgart vom 23.7.2015; UNHCR, Aktualisierte Antworten auf Fragen im Zusammenhang mit der Überstellung nach dem Dublin-Verfahren vom Juni 2015; im Ergebnis ebenso: VG Oldenburg (U. v. 4.11.2015, Az. 12A49815 12 A 498/15 – juris). Es ist deshalb ernsthaft zu befürchten, dass die Kläger bei einer Rückkehr bzw. Abschiebung nach Bulgarien unter den dort gegenwärtig herrschenden Verhältnissen nicht in der Lage wären, das zum Leben notwendige Existenzminimum zu sichern. Es gibt keinen nationalen Integrationsplan, der es diesem Personenkreis ermöglicht, eine Existenz aufzubauen. Die EU-Qualifikationsrichtlinie 2011/95/EU wurde noch nicht umgesetzt. Es gibt keine Unterstützung bei der Wohnungssuche. Zwar haben die Schutzberechtigten Anspruch auf Sozialhilfe – allerdings in geringerer Höhe als bulgarische Staatsangehörige. Tatsächlich erhalten sie diese Unterstützung jedoch nicht. So führt das Auswärtige Amt (a. a. O.) aus, dass der Erhalt eines Schutzstatus in der Regel Obdachlosigkeit bedeutet. Es besteht faktisch kein Zugang zur gesundheitlichen Versorgung. Ein ausgeweitetes Angebot an Sprachkursen existiert nicht. Faktisch haben rückkehrende Asylbewerber selbst im Fall ihrer Anerkennung keinen Zugang zum Arbeitsmarkt. Selbst die Möglichkeiten auf dem Schwarzmarkt sind beschränkt, da dieser überwiegend von Roma eingenommen wird. Weder der Kläger zu 1) noch die Klägerin zu 2) verfügen über eine berufliche Qualifikation, die ihnen – im Vergleich zu anderen Rückkehren – größere Chancen auf ein geregeltes Erwerbseinkommen ermöglichen würde. Im Gegenteil, durch die notwendige Betreuung ihrer drei Kleinkinder sowie den durch die Kinder gesteigerten Familienbedarf sind sie gegenüber anderen Rückkehrern noch zusätzlich benachteiligt. Hinzukommt, dass für die Kläger zu 3) und 4) ein angemessener Zugang zu Betreuungseinrichtungen und Schulen nicht gewährleistet erscheint. Geht man also unter Berücksichtigung der neueren Erkenntnismittel sowie der individuelle Verwundbarkeit der Kläger davon aus, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Bulgarien derzeit keine reale Chance hätte, sich eine tragfähige eigene Lebensgrundlage zu schaffen, die es der Familie erlauben würde, das zum Leben notwenige Existenzminimum zu erwirtschaften, begründet dies mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, die in den regelhaft auftretenden Defiziten der in Bulgarien herrschenden Aufnahmebedingungen angelegt ist. Damit liegt im spezifischen Fall der Kläger als einer Familie mit kleinen und Kleinstkindern eine rechtliche Unmöglichkeit der Überstellung nach Bulgarien. Gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO führt dies zwar zunächst nur dazu, dass das Verfahren der Zuständigkeitsprüfung fortgesetzt wird, um festzustellen, ob ein anderer Staat als zuständig bestimmt werden kann. Kommt eine Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat aber nicht in Betracht, so wird der das Dublin-Verfahren durchführende Staat gem. Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 zuständig. Ist die Fortsetzung des Dublin-Verfahrens zur Feststellung eines anderen zuständigen Staates aussichtslos oder führt zu einer unangemessen langen Verfahrensdauer, ist dies im Rahmen von Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu berücksichtigen und kann zu einem subjektiven Anspruch auf Selbsteintritt der Bundesrepublik führen (vgl. VGH München, B.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris). Zwar liegen mit den Eurodac-Treffern vom 11. November 2014 für die Kläger zu 1) und 2) Anhaltspunkte für eine weitere Zuständigkeit Ungarns vor. Da die daran anknüpfenden Fristen zur Stellung eines Wiederaufnahmegesuches gem. Art 23 Abs. 2 Dublin III-VO jedoch seit langem verstrichen sind, ist auch im Lichte der Verfahrensdauer und unter Berücksichtigung eines Zuständigkeitswechsels gem. Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO von einem gebunden Anspruch der Kläger auf Selbsteintritt der Bunderepublik Deutschland auszugehen. Damit ist die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens der Kläger zuständig. Die Ablehnung der Asylanträge als unzulässig in Ziffer 1) des angegriffenen Bescheids ist damit rechtswidrig.
Nichts anderes kann für die an die Ziffer 1) anknüpfenden Ziffern 2) und 3) des Bescheides gelten. Es kann damit dahinstehen, ob eine Abschiebungsandrohung als milderes Mittel auf § 34a AsylG gestützt werden kann.
Die Klage ist somit insgesamt begründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Das Gerichtsverfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11 und 711 ZPO.

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