Europarecht

Pflicht zum Selbsteintritt wegen eines erheblichen Eingriffs in das Familienleben

Aktenzeichen  M 18 K 18.50522

Datum:
10.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 41060
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1a
VO (EG) Nr. 604/2013, Art. 12 Abs. 4, Art. 17 Abs. 1
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. Systemische Mängel in Spanien sind nicht ersichtlich. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die starren Zuständigkeitsregelungen in Art. 9 bis 11 Dublin-III-Verordnung, die die Schutzwürdigkeit von Familieneinheiten an wenige faktische Voraussetzungen knüpft, sind zur Wahrung der auch in der Dublin-III-Verordnung in den Erwägungsgründen 13 bis 17 genannten Konventionsrechte der Schutzsuchenden in Einzelfällen durch die direkte Anwendung der EMRK zu durchbrechen.  (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Art. 8 EMRK gibt kein Recht darauf, dass Ausländer ihren Wohnort im Gastland bestimmen dürfen, ausländischen Ehepartnern auch grds. nicht das Recht, zusammenzuleben. Wenn aber das Asylverfahren über Jahre dauert und die Eheleute dazu gezwungen werden, an unterschiedlichen Orten zu leben, kann das Art. 8 EMRK verletzen  (Rn. 42) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Februar 2018 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 13. Februar 2018 ist rechtswidrig und daher aufzuheben, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Der Antrag des Klägers ist nicht wie in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheid angenommen nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG unzulässig, da die Bundesrepublik Deutschland nach einer Ermessensreduzierung auf Null nach Art. 17 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin-III-Verordnung) für den Asylantrag des Klägers zuständig ist. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Prüfung der Rechtmäßigkeit des Bescheides ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 2 AsylG ist ein Asylantrag als unzulässig abzulehnen, wenn sich aus den Regelungen der Dublin-III-Verordnung ergibt, dass ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union für die Prüfung des Asylantrages zuständig ist.
Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedsstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III (Art. 7 bis 15) der Dublin-III-Verordnung als zuständiger Mitgliedsstaat bestimmt wird und das es hierbei nach Art. 7 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung auf die Situation zu dem Zeitpunkt ankommt, zu dem der Antragsteller zum ersten Mal einen Antrag auf internationalen Schutz in einem Mitgliedstaat stellt, d.h. vorliegend zum 17. Januar 2018. Wäre der Kläger alleinstehend, bestünden keine Bedenken gegen die im Bescheid angenommene Zuständigkeit Spaniens nach Maßgabe des § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG i.V.m. Art. 18 Abs. 1a, 12 Abs. 4 Dublin-III-Verordnung. Systemische Mängel in Spanien sind nicht ersichtlich.
Wegen der vom Gericht bezüglich der Kinder anzunehmenden familiären Bindungen sind vorrangig vor Art. 12 Dublin-III-Verordnung die Zuständigkeitskriterien nach Art. 9 bis 11 Dublin-III-Verordnung zu prüfen, Art. 7 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung. Eine Zuständigkeit Deutschlands nach den Artikeln 9, 10 und 11 der Dublin-III-Verordnung ist nicht anzunehmen. Zwar ist jedenfalls das Kind A. des Klägers – nach Überzeugung des Gerichts jedenfalls auch die anderen drei Kinder – Familienangehörige nach Maßgabe des Art. 2 lit. g, 1. und 2. Spiegelstrich der Dublin-III-Verordnung. Jedoch wurde diesen weder internationaler Schutz zugesprochen (Art. 9 Dublin-III-Verordnung), noch wurden die Asylanträge der Kinder und des Klägers in großer zeitlicher Nähe zueinander gestellt (Art. 11 Dublin-III-Verordnung). Art. 10 Dublin-III-Verordnung scheitert daran, dass zum Zeitpunkt der Asylantragstellung durch den Kläger (17. Januar 2018) bereits eine Erstentscheidung in der Sache der Kinder ergangen ist, nämlich mit Bescheid vom 18. Oktober 2016.
Vorliegend ist jedoch eine Ermessensreduzierung auf Null des im Art. 17 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung der Bundesrepublik Deutschland eingeräumten Ermessens anzunehmen. Die starren Zuständigkeitsregelungen in Art. 9 bis 11 Dublin-III-Verordnung, die die Schutzwürdigkeit von Familieneinheiten an wenige faktische Voraussetzungen knüpft, sind zur Wahrung der auch in der Dublin-III-Verordnung in den Erwägungsgründen 13 bis 17 genannten Konventionsrechte der Schutzsuchenden in Einzelfällen durch die direkte Anwendung der EMRK zu durchbrechen. Aufgrund der tatsächlich vorliegenden, familiären Bindungen des Klägers zumindest zu seinen Kindern und der zum aktuellen Zeitpunkt fehlenden Möglichkeit einer gemeinsamen Lebens und Erziehungsgemeinschaft in einem anderen Staat ist die Einheit der Familie im vorliegenden Einzelfall trotz der fehlenden Anwendbarkeit einer Vorschrift aus dem III. Kapitel der Dublin-III-Verordnung aus grundrechtlichen Erwägungen und Kindeswohlgesichtspunkten vorliegend zu wahren.
Nach Art. 17 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin-III-Verordnung kann jeder Mitgliedsstaat abweichend von Art. 3 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung beschließen, einen von ihm von einem Drittstaatsangehörigen gestellten Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist. Der übernehmende Mitgliedsstaat wird dann nach Art. 17 Abs. 1 Unterabsatz 2 S. 1 Dublin-III-Verordnung zum zuständigen Mitgliedsstaat und übernimmt die mit dieser Zuständigkeit einhergehenden Verpflichtungen.
Der Kläger kann sich im Hauptsacheverfahren auch auf ein subjektives Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung des Bundesamtes berufen (BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22, 25).
Die Ausübung der Befugnis des Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung ist hierbei an keine besondere Bedingung geknüpft und soll den Mitgliedsstaaten ermöglichen, sich aus politischen, humanitären oder praktischen Erwägungen bereit zu erklären, einen Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen, auch wenn er hierfür nach den in dieser Verordnung definierten Kriterien nicht zuständig ist. Angesichts des Umfangs des den Mitgliedsstaaten auf diese Weise gewährten Ermessens ist es Sache des betreffenden Mitgliedsstaats, die Umstände zu bestimmen, unter denen er von der Befugnis Gebrauch machen möchte. Den Mitgliedsstaaten wird durch diese fakultative Bestimmung ein sehr weites Ermessen eingeräumt. Damit soll unter anderem das Ziel erreicht werden, die Prärogative des Mitgliedsstaaten bei der Ausübung des Rechts auf Gewährung internationalen Schutzes zu wahren (Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 23.1.2019, Az. C-661/17 – juris Rn. 58ff. m.w.N.). Das Ermessen verdichtet sich aber dann zu einer Pflicht zum Selbsteintritt, wenn jede andere Entscheidung unvertretbar wäre. Eine solche Fallkonstellation ist anzunehmen, wenn in einer Situation, in der Grundrechte des Antragstellers im Falle der Überstellung an den an sich zuständigen Mitgliedstaat wegen systemischer Mängel verletzt würden, sich die Lage des Antragstellers durch eine unangemessen lange Verfahrensdauer noch verschlimmert würde. Darüber hinaus besteht eine Pflicht zum Selbsteintritt, wenn im Fall der Überstellung eine in den persönlichen Umständen des Betroffenen wurzelnde Grundrechtsverletzung gegeben wäre (BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22 mit Verweis auf Rechtsprechung des EUGH, EGMR und BVerwG).
Im vorliegenden Fall wäre bei der Überstellung des Klägers nach Spanien nach obigen Grundsätzen eine in den persönlichen Umständen des Klägers wurzelnde, nicht gerechtfertigte, da unverhältnismäßige Grundrechtsverletzung gegeben, die das auszuübende Ermessen im Rahmen des Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-Verordnung auf Null reduziert.
Dem steht das Urteil des EuGH vom 23. Januar 2019 (Az. C-661/17) nicht entgegen. Selbst Erwägungen des Kindswohls können nach diesem Urteil einen Mitgliedsstaat nicht dazu verpflichten, von der Befugnis des Art. 17 Dublin-III-Verordnung Gebrauch zu machen und einen Asylantrag zu prüfen, für den er nicht zuständig ist (Urteil des Europäischen Gerichtshofs, a.a.O. – juris Rn.71). Der im dortigen Verfahren vorliegende Sachverhalt betraf die Frage, ob eine Familie (Mutter, Vater und Kind) trotz des bevorstehenden Austritts des Vereinigten Königsreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union gemeinsam dorthin überstellt werden könne. Wie der EUGH in dem Urteil weiter ausführt, sind die Mitgliedsstaaten bei der Ausführung der Dublin-III-Verordnung an die EMRK gebunden (Urteil des Europäischen Gerichtshofs, a.a.O. – juris Rn.84).
Die Voraussetzungen für die Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 8 EMRK liegen beim Kläger vor. Demnach hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Art. 8 schützt hierbei bestehende Familien, wobei das Konzept einer durch soziale Verbindungen begründete Familie zu Grunde gelegt wird. Biologische oder rechtliche Beziehungen alleine sind nicht maßgeblich (HK-EMRK/Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim, 4. Aufl. 2017, EMRK Art. 8 Rn. 54, 57). Wenn die (auch nicht verheirateten) Partner nicht zusammen leben, können andere Umstände ergeben, dass eine Beziehung so eng ist, dass eine de facto-Familie begründet ist. Wenn Umstände auf eine ausreichend konstante Beziehung hinweisen und enge persönliche Bindungen vorliegen, kann Art. 8 EMRK Anwendung finden. Art. 8 begründet ein Recht auf Zusammenleben oder auf persönliche Kontakte unter den Familienmitgliedern, zwischen dem Kind und Elternteilen auch dann, wenn die Beziehung zwischen den Eltern beendet ist, die Eltern nicht mehr zusammenleben oder geschieden sind (HK-EMRK/Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim, 4. Aufl. 2017, EMRK Art. 8 Rn. 54, 57 f.). Entscheidend ist jedoch nicht die formelle biologische/rechtliche Vaterschaft, sondern vielmehr auch die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern. Abzustellen ist auf eine gemeinsame Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Antragsteller und der mutmaßlichen Ehefrau mit den Kindern. Zudem muss diese gemeinsame Lebens- und Erziehungsgemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland zu verwirklichen sein (BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris, Rn. 17 ff.).
Unter Berücksichtigung der oben ausgeführten Maßstäbe ist der Schutzbereich von Art. 8 EMRK im Fall des Klägers durch den streitgegenständlichen Bescheid betroffen, da der Kläger durch diesen Bescheid von seiner traditionell verheirateten Ehefrau und seinen vier Kindern auf längere Dauer getrennt würde und damit ein erheblicher Eingriff in sein Familienleben verbunden ist. Ob die Zeugin als Ehefrau im Sinne des Art. 2 lit. g, erster Spiegelstrich der Dublin-III-Verordnung anzusehen ist, obwohl keine staatliche, sondern lediglich eine traditionelle Heirat nach nigerianischem Recht vorliegt, kann dahinstehen. Jedenfalls wies der Kläger seine biologische Vaterschaft zu dem minderjährigen Kind A., das mit der Zeugin und drei Geschwistern einreiste, nach. Das Gericht geht angesichts der glaubhaft vorgetragenen Biografien des Klägers und des Zeugens, insbesondere der von beiden Seiten in der mündlichen Verhandlung angegebenen gemeinsamen Zusammenlebens als Familie bereits in Nigeria davon aus, dass die drei weiteren Kinder ebenfalls vom Kläger abstammen.
Das Gericht ist durch die Angaben in der mündlichen Verhandlung auch von einer tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern und dem Vorliegen einer gemeinsamen Lebens- und Erziehungsgemeinschaft zwischen dem Kläger und der Zeugin mit den Kindern überzeugt. Der Kläger und die Zeugin trugen übereinstimmend vor, dass sie mit ihrer Familie gemeinsam in Nigeria gelebt hätten. Nachdem die Zeugin mit den Kindern in Italien vor der Beschneidung der ältesten Tochter floh, suchte der Kläger seine Familie und versuchte später Kontakt mit ihr aufzunehmen. Als er ihren Aufenthaltsort in Erfahrung brachte, reiste er mit einem Visum nach Deutschland zu seiner Familie. Dort verbrachte er circa drei Wochen im Monat bei seiner Familie und pendelte die Strecke zwischen den Unterkünften mehrfach monatlich hin und her. Er kümmert sich nach den übereinstimmenden Angaben um die Kinder und führt mit der Zeugin und den Kindern ein Familienleben. Als der Kläger unter der Woche an Sprachkursen und an einer sozialen Arbeit teilnahm, pendelte er zumeist von Freitag bis Sonntagabend zu seiner Familie. Inzwischen lebt die fünfköpfige Familie in einer Dreizimmerwohnung. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung kam das Gericht zum Eindruck, dass der Kläger mit dem anwesenden jüngsten Kind, das noch nicht der Schulpflicht unterliegt, sehr vertraut ist und von dieser als Vaterfigur angesehen wird.
Die Lebensgemeinschaft kann zum Zeitpunkt der maßgeblichen Gemeinschaft nur in der Bundesrepublik Deutschland verwirklich werden. Im Fall des Klägers ist offensichtlich, dass die Vollstreckung des streitgegenständlichen Bescheids dazu führt, dass der klägerische Asylantrag in Spanien bearbeitet werden würde. Diese – bei Einlegung eines Rechtsmittels – mehrjährige Prozedur führt zu einer Jahre andauernden Trennung des Klägers von seiner Familie. Die Zeugin und ihre Kinder können nach aktuellem Stand nicht nach Spanien reisen, da sie aufgrund des abgelehnten Asylbescheids keine Freizügigkeit innerhalb der EU genießen. Würden sie nach Spanien reisen, würden sie in Spanien nach Maßgabe der Dublin-III-Verordnung wieder in den für sie zuständigen Mitgliedstaat Deutschland überstellt werden. Bei einer Abschiebung der Zeugin mit ihren Kindern nach Nigeria ist eine Reise nach Spanien ohne Visum nicht möglich. Ein solches wird voraussichtlich aufgrund der vorhergehenden Asylantragstellung in Deutschland nicht ausgestellt werden. Der Kläger selbst kann Spanien nicht verlassen, ohne dass sein Asylverfahren eingestellt werden würde. Eine Rückkehr des Klägers nach Nigeria ist ohne vorherige Prüfung seiner Asylberechtigung bzw. der Notwendigkeit, internationalen Schutz zu erhalten, nicht zumutbar, da bis zur bestandskräftigen Verneinung diesen Anspruchs von einer Gefahrlage in seinem Heimatland für den Kläger ausgegangen werden muss. Eine Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids führt daher zu einer weder vom Kläger, noch von der Zeugin in zumutbarer Weise zu beeinflussenden, (weiteren) jahrelangen Trennung der Familie, die ihren Ausgangspunkt in einem Missverständnis über die Absichten des Klägers bezüglich der Beschneidung der Tochter nahm.
Der streitgegenständliche Bescheid ist auch nicht als gerechtfertigter Eingriff der Beklagten anzusehen. Staatliche Maßnahmen, die in das Recht auf Zusammenleben eingreifen, bedürfen der Rechtfertigung nach Art. 8 Abs. 2 EMRK (HK-EMRK/Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim, 4. Aufl. 2017, EMRK Art. 8 Rn. 67). Die Abschiebung von Ausländern und Staatenlosen ist nicht grundsätzlich verboten. Staatliche Maßnahmen sind ein Eingriff in Art. 8, wenn der Betroffene im Aufenthaltsstaat persönliche Bindungen oder Familienbindungen hat, die ausreichend stark sind und durch eine Abschiebung beeinträchtigt würden. Solche Maßnahmen müssen also nach Abs. 2 gerechtfertigt, insbesondere verhältnismäßig sein (HK-EMRK/Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim, 4. Aufl. 2017, EMRK Art. 8 Rn. 77). Der Eingriff in das Recht auf Familienleben verstößt gegen die EMRK, es sei denn, er ist gesetzlich vorgesehen, verfolgt eines oder mehrere der in Abs. 2 genannten berechtigten Ziele und ist in einer demokratischen Gesellschaft notwendig, um diese Ziele zu erreichen (HK-EMRK/Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim, 4. Aufl. 2017, EMRK Art. 8 Rn. 109). Ein Eingriff ist hierbei notwendig, wenn er einem “dringendem sozialen Bedürfnis” entspricht, um das berechtigte Ziel zu erreichen und die angewandten Mittel verhältnismäßig sind. Der EGMR prüft, ob die von den Behörden zur Rechtfertigung angegebenen Gründe stichhaltig und ausreichend sind (HK-EMRK/Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim, 4. Aufl. 2017, EMRK Art. 8 Rn. 110).
§ 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG und die Bestimmungen der Dublin-III-Verordnung stellen eine ausreichende gesetzliche Grundlage für den streitgegenständlichen Bescheid dar. Auch dienen diese Vorschriften einem berechtigten Ziel nach Art. 8 Abs. 2 EMRK, indem sie innerhalb der Union für die Aufrechterhaltung der Ordnung und das wirtschaftliche Wohl erforderlich sind. Die Dublin-III-Verordnung und die nationalen Umsetzungsvorschriften im deutschen Asylgesetz dienen dem Aufbau eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems und sind damit ein wesentlicher Zielbestandteil des schrittweisen Aufbaus eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts für Schutzsuchende in der Europäischen Union (vgl. Erwägungsgrund 2 der Dublin-III-Verordnung). Dieses Ziel wird von den Mitgliedsstaaten bzw. Vertragsstaaten versucht zu erreichen, indem die vor der Unterzeichnung des Dubliner Übereinkommens vom 15. Juni 1990 gängige Problematik der Binnenmigration von Asylbewerbern zum Zwecke mehrfacher Asylantragsstellungen nicht zu mehrfachen materiellen Prüfung in verschiedenen Staaten führt. Gleichzeitig wird garantiert, dass jeder Asylantrag von einem Mitglieds- bzw. Unterzeichnungsstaats in materieller Hinsicht geprüft wird.
Vorliegend ist der streitgegenständliche Bescheid zwar notwendig, um dieses Ziel zu erreichen. Jedoch ist er im hier vorliegenden Einzelfall nicht verhältnismäßig.
Art. 8 EMRK gibt kein Recht darauf, dass Ausländer ihren Wohnort im Gastland bestimmen dürfen, ausländischen Ehepartnern auch grundsätzlich nicht das Recht, zusammenzuleben. Wenn aber das Asylverfahren über Jahre dauert und die Eheleute dazu gezwungen werden, an unterschiedlichen Orten zu leben, kann das Art. 8 EMRK verletzen (EGMR, U.v. 29.7.2010 – 24404/05: deutsche Zusammenfassung abrufbar unter https://www.humanrights.ch/de/menschenrechte-schweiz/egmr/ch-faelle/mengesha-kimfe).Art. 8 EMRK gibt auch nicht das Recht, den Ort zu wählen, der am besten geeignet ist, ein Familienleben aufzubauen. Der Staat muss nicht die von einem Ehepaar getroffene Wahl akzeptieren, wo es seinen Wohnsitz nehmen möchte und zulassen, dass sich nicht inländische Partner dort aufhalten. (HK-EMRK/Jens Meyer-Ladewig/Martin Nettesheim, 4. Aufl. 2017, EMRK Art. 8 Rn. 76, 80).
Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ist festzuhalten, dass das Recht des Klägers auf die Aufrechterhaltung seiner Familieneinheit mit den Kindern höher zu bewerten ist, als das Interesse des Staates an der Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids.
Durch die Vollstreckung des Bescheids würde eine jahrelange Trennung des Klägers von der Zeugin und den gemeinsamen Kindern ohne die Möglichkeit einzelner Treffen bewirkt werden (s.o.). Diese Trennung ist durch das junge Alter zumindest der jüngsten Geschwister (sechs und elf Jahre) von erheblicher Intensität, insbesondere vor dem Hintergrund der bereits erfolgten Flucht aus Nigeria und der bereits erlebten Trennung vom Kindsvater vom … … … bis zum November 2017. Diese Trennung wurde durch die Zeugin zwar im Zeitpunkt der Flucht in Italien willentlich herbeigeführt. Allerdings führte die Zeugin in der mündlichen Verhandlung ausführlich aus, dass sie das Gefühl hatte, zwischen dem Wohlergehen ihrer Töchter und des gemeinsamen Ehe- bzw. Familienlebens in Nigeria entscheiden zu müssen. Dass ein Missverständnis zwischen Kläger und Zeugin bezüglich den Absichten des Klägers vorlag, kann nicht zu Lasten der Kläger-Kindern-Beziehung im vorliegenden Verfahren gehen. Die Erklärung bei der Anhörung beim Bundesamt, dass die Zeugin dem Kläger misstraue, stellt nach Ansicht des Gerichts die Erklärung dar, warum die Zeugin auf eigene Faust geflohen ist; nicht jedoch die Äußerung einer dauerhaften, tatsächlichen Trennungsabsicht, wenn gesichert ist, dass die Beschneidung der Töchter nicht durchgeführt werden wird. Die Zeugin nahm nach einiger Zeit in Deutschland von sich aus über Bekannte Kontakt mit dem Kläger auf, dem es jedoch nach dessen Angaben zunächst nicht gelang, ein Visum für die Einreise nach Europa zu besorgen. Im Fortgang ist glaubhaft vorgetragen, dass die Zeugin den Kläger in dessen Abschiebehaft besuchte, ihm einen Anwalt besorgte und nach Entlassung aus der Abschiebehaft das Familienleben trotz der verschiedenen Wohnorte sofort wieder aufnahm. Als weiterer Aspekt zu Gunsten des Klägers ist im Rahmen der Interessenabwägung weiterhin Art. 3 der UN-Kinderrechtskonvention zu berücksichtigen, wonach bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl des Kindes als vorrangiger Gesichtspunkt zu berücksichtigten ist.
Das Interesse der Beklagten an einer sofortigen Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids ist demgegenüber weniger sicherheitsrechtlicher, sondern in vorliegendem Fall eher finanzieller Natur. Die Identität des Klägers ist durch die Einreise mit Reisepass, den er der Polizei und den Behörden freiwillig vorlegte, gesichert und somit für den Fall einer ablehnenden Antragsprüfung beim Kläger auch die maßgebliche Abschiebungsproblematik nach Nigeria, nämlich das Vorliegen ausreichender Identifikationsdokumente für eine Abschiebung, ausgeräumt. Anderweitige sicherheitsrechtlich relevante Informationen über den Kläger sind zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht ersichtlich. Dem Kläger wird durch die Überführung in ein nationales Prüfverfahren beim Bundesamt auch kein dauerhaftes Aufenthaltsrecht gewährt, sondern lediglich eine Aufenthaltsgestattung. Bei bestands-/rechtskräftigen Ablehnungen der Anträge des Klägers sowie der Zeugin und der Kinder bestünden gegen eine Abschiebung nach Nigeria als Familieneinheit zum aktuellen Zeitpunkt keine Bedenken. Die oben zitierten entschiedenen Fallkonstellationen, die von einem fehlenden Recht, den Ort zu wählen, der am besten geeignet ist, ein Familienleben aufzubauen, betrafen Ausweisungen bzw. Abschiebungen nach Ablauf eines bereits erfolglos durchlaufenen Asyl(folge) verfahrens und sind somit mit dem vorliegendem Sachverhalt nicht vergleichbar. Die vom Beklagtenvertreter zitierte Gerichtsentscheidung M 12 K 15.… behandelt den Fall einer von einem Asylbewerber in Deutschland schwangeren Asylbewerberin, die nach Spanien zurückgeführt werden soll. Eine tatsächliche familiäre Verbundenheit wurde dort verneint, ist jedoch im vorliegenden, erheblich anders gelagerten Fall – wie oben geprüft – gegeben.
Aufgrund der Verletzung des Klägers in Art. 8 Abs. 1 EMRK durch den streitgegenständlichen Bescheid ist im vorliegenden Einzelfall eine Überstellung des Klägers nach Spanien nicht möglich. Der weite Ermessensspielraum bezüglich eines Selbsteintrittsrechts der Bundesrepublik Deutschland ist daher aufgrund einer beim Kläger festgestellten Verletzung von Art. 8 Abs. 1 EMRK auf Null reduziert. Die Beklagte ist somit entgegen der Regelung in Ziffer 1. des streitgegenständlichen Bescheids für die Prüfung des Antrags des Klägers der zuständige Mitgliedstaat.
Eine sonstige Unzulässigkeit des Asylantrages des Klägers nach § 29 Abs. 1 AsylG ist nicht ersichtlich.
Da die Voraussetzungen für die Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig nach § 29 Abs. 1 Nr. 1a AsylG nicht vorlagen, ist auch Ziffer 2 des Bescheids rechtswidrig (§ 31 Abs. 3 Satz 1 Var. 2 AsylG). Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 34a Abs. 1 Satz 1 Var. 2 AsylG lagen wegen der Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland auch nicht vor, sodass Ziffer 3 des Bescheids rechtswidrig war. Auch Ziffer 4 war mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 11 Abs. 1 AufenthG rechtswidrig. Der gesamte streitgegenständliche Bescheid war mithin aufzuheben.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei nach § 83 b AsylG.
Die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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