Europarecht

Pflicht zum Selbsteintritt wegen Vater-Kind-Beziehung

Aktenzeichen  W 10 S 19.50225

Datum:
16.7.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 18887
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 3 Abs. 2, Art. 18 Abs. 1 lit. d
GG Art. 6 Abs. 1
VwGO § 80 Abs. 5 S. 1
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a, § 34 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Das Asylverfahren in Frankreich widerspricht weder unionsrechtlichen Maßstäben noch herrschen dort unzureichende Aufnahmebedingungen, die zu einer Verletzung der durch Art. 4 GRCh gewährleisteten Rechte führen. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ziffer 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 11. März 2019, Az.: … wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtkosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die Antragstellerinnen wenden sich im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gegen den Sofortvollzug einer Abschiebungsanordnung nach Frankreich.
1. Die Antragstellerin zu 1), nach eigenen Angaben eine am … … 1998 geborene nigerianische Staatsangehörige, wurde am 28. Januar 2019 im Bundesgebiet erkennungsdienstlich behandelt. Aufgrund von Erkenntnissen aus der Eurodac-Datenbank hat die Antragstellerin zu 1) am 1. Juni 2018 in Frankreich internationalen Schutz beantragt. Die Antragstellerin zu 2) ist die am … … 2017 geborene Tochter der Antragstellerin zu 1).
Die Antragstellerinnen beantragten am 6. Februar 2019 gemeinsam mit dem traditionellen Ehemann der Antragstellerin zu 1) und Vater der Antragstellerin zu 2) beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) Asyl. Dabei gab die Antragstellerin zu 1) im Wesentlichen an, ihr Ehegatte und ihre Kinder hielten sich ebenfalls im Bundesgebiet auf. Ihr Ehemann habe in Italien internationalen Schutz zuerkannt bekommen. Sie habe ihr Herkunftsland Nigeria Mitte 2016 verlassen und sei über Niger und Libyen zunächst nach Italien eingereist. Dort sei sie am 21. November 2016 eingetroffen. Zu einem späteren Zeitpunkt habe sie sich neun Monate lang in Frankreich aufgehalten, sei dann nach Italien zurückgekehrt und schließlich durch ein ihr unbekanntes Land in das Bundesgebiet eingereist. Hier sei sie am 27. Januar 2019 eingetroffen. Sie habe in Frankreich internationalen Schutz beantragt. Fingerabdrücke seien ihr in Italien und Frankreich abgenommen worden.
Laut Aktenvermerk vom 6. Februar 2019 (Bl. 60 der Bundesamtsakte) gaben die Antragstellerin zu 1) sowie ihr Ehemann an, dass sie am 27. Dezember 2016 in Nigeria durch ihre Familien verheiratet worden seien. Zu dieser Zeit hätten sie sich in Italien befunden.
Am 21. Februar 2019 wurde die Antragstellerin zu 1) zur Zulässigkeit des Asylantrages angehört. Sie bestätigte, am 1. Juni 2018 in Frankreich einen Asylantrag gestellt zu haben. Sie habe jedoch in Frankreich keine Dokumente erhalten, lediglich einen Zettel in der Größe eines DIN A4-Blattes für den Fall einer polizeilichen Kontrolle. Sie habe in Frankreich einen Aufenthaltstitel gehabt. Dieser sei zwei Monate lang gültig gewesen. Es habe dort auch eine Anhörung stattgefunden, sie habe jedoch keine Entscheidung über ihren Asylantrag erhalten. Weshalb sie keine Entscheidung erhalten habe, wisse sie nicht. Frankreich habe sie im Januar 2019 verlassen. An das genaue Datum könne sie sich nicht erinnern. Sie habe sich neun Monate in Frankreich aufgehalten. Sie habe dort teilweise um Geld gebettelt, um sich und ihre Tochter versorgen zu können. Manchmal habe sie auch Unterstützung von Landsleuten erhalten. Ab und zu habe sie bei Freunden übernachten können. In Frankreich könne man außerdem als Obdachlose eine Telefonnummer anrufen, die einem eine Unterkunft vermittle. Manchmal habe sie dort angerufen, es sei aber niemand rangegangen. Deshalb habe sie manchmal in der Kälte auf der Straße schlafen müssen. Sie sei auch noch in Italien gewesen, wo auch ihre Tochter geboren worden sei. Bei der Einreise in Lampedusa habe sie Fingerabdrücke abgegeben. Sie sei in einem Flüchtlingslager in Caltagirone gewesen. Sie habe sich ein Jahr und einige Monate in Italien aufgehalten. In Italien habe sie weniger als ein Jahr in diesem Lager gelebt. Als sie schwanger geworden sei, habe sie das Lager verlassen und sei zu ihrem Mann gegangen. Sie habe monatlich 10,00 EUR Unterstützung erhalten. Vom Flüchtlingslager in Caltagirone sei sie an einen anderen Ort in Italien zugewiesen worden. Sie sei in ein Hotel gebracht worden. Dort habe es keine Unterstützung gegeben, niemand habe sich um sie gekümmert. Sie hätten auch kein Essen erhalten. Zu diesem Zeitpunkt sei sie schwanger gewesen und es sei sehr schwierig für sie gewesen, dort zu überleben. Deshalb habe sie sich entschieden, zu ihrem Mann zu gehen. Nur ihr Mann habe eine Aufenthaltsgestattung gehabt. Sie selbst habe dort keinen Titel oder Aufenthaltserlaubnis gehabt. Für ihre Tochter habe sie lediglich eine Geburtsurkunde erhalten. Ihr Mann habe jedoch Dokumente gehabt. Er habe einen Aufenthaltstitel für fünf Jahre gehabt. In Frankreich sei sie mehrmals zu den Behörden gegangen und habe nach dem Stand ihres Asylverfahrens gefragt, aber keine Antwort erhalten. Sie hätten immer gesagt, dass sie ihr nicht helfen könnten. In Frankreich sei es sehr schwierig für sie zu arbeiten, da ihre Sprachkenntnisse nicht besonders gut seien. In Italien sei sie erst in Lampedusa gewesen. Von dort sei sie in ein Flüchtlingslager in Caltagirone gebracht worden. Danach sei sie nach Noto transferiert worden. Von dort aus sei sie mit dem Bus nach Frankreich gefahren, wo sie sich neun Monate lang aufgehalten habe. Von Frankreich aus sei sie noch einmal zu ihrem Mann mit dem Zug gefahren und habe sich etwa eine Woche bei ihm aufgehalten. Von dort aus sei sie dann mit dem Bus nach Deutschland gefahren, wo sie am 27. Januar 2019 eingetroffen sei. Die Reise nach Deutschland sei nicht von Anfang an geplant gewesen. Sie hätten jedoch finanzielle Schwierigkeiten in Italien gehabt. Ihr Mann sei ausgereist, weil er keine Arbeit mehr gehabt habe. Der Vermieter habe ihnen gekündigt und sie seien auf der Straße gestanden. Sie hätten eine Lösung gebraucht. Um für ihr Überleben zu sorgen, hätten sie von dort weggehen müssen. Sie wolle nicht nach Frankreich zurückkehren. Wenn man dorthin gehe, sehe man viele Frauen mit Kindern auf der Straße oder als Prostituierte. Deshalb habe sie Frankreich verlassen und sei nach Italien zu ihrem Mann zurückgekehrt. In Italien hätten sie auch keine Unterstützung erhalten. Ihre Tochter sei per Kaiserschnitt geboren worden. Seit dieser Operation habe sie Probleme im hinteren Beckenbereich. Ansonsten sei sie ok. Ihre Tochter sei gesund, habe nur ab und zu einen Schnupfen. In Italien habe sie nach der Operation keinen Arzt besucht. In Frankreich auch nicht, weil sie keinen Arzt habe bezahlen können. Sie nehme Schmerzmittel, müsse diese jedoch nicht sehr oft einnehmen. Sie habe die Medikamente in Frankreich erhalten. Sie habe dort andere Personen aus Nigeria gekannt, die einen Aufenthaltstitel gehabt hätten. Diese seien krankenversichert gewesen und hätten zum Arzt gehen können. Deshalb hätten sie ihr die Medikamente besorgen können. Sie lebe im Bundesgebiet mit ihrem Mann und ihrer Tochter.
In der am gleichen Tag stattgefundenen informatorischen Anhörung gab die Antragstellerin u.a. an, sie hätten traditionell geheiratet. Die Ehe sei nicht staatlich registriert worden. Die Dokumente über die Eheschließung befänden sich in Nigeria.
Am 25. Februar 2019 ersuchte das Bundesamt die französischen Behörden um Wiederaufnahme der Antragstellerinnen. Nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vom 26. Juni 2013 (Dublin III-VO). Mit Schreiben vom 1. März 2019 stimmte das französische Innenministerium der Wiederaufnahme der Antragstellerinnen unter Bezugnahme auf Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO zu.
2. Mit Bescheid vom 11. März 2019 lehnte das Bundesamt die Anträge als unzulässig ab (Ziffer 1 des Bescheides), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 2), ordnete die Abschiebung nach Frankreich an (Ziffer 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf neun Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 4). Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt, die Asylanträge seien gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG unzulässig, da Frankreich aufgrund der bereits dort gestellten und abgelehnten Asylanträge gemäß Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1d Dublin III-VO zuständig sei. Für den Fall, dass den Antragstellerinnen in einem anderen Mitgliedstaat bereits ein Schutzstatus zuerkannt bzw. ihr Asylverfahren dort unanfechtbar abgeschlossen worden sei, könne die Unzulässigkeit auch auf § 29 Abs. 1 Nr. 2 bzw. Nr. 5 AsylG gestützt werden. Auf die weiteren Gründe des Bescheides wird Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Der Bescheid wurde den Antragstellerinnen am 18. März 2019 persönlich übergeben (Bl. 40 der Behördenakte).
3. Am 20. März 2019 erhoben die Antragstellerinnen zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle beim Bayerischen Verwaltungsgericht Würzburg Klage (Az.: W 10 K 19.50224), über die noch nicht entschieden ist.
Zugleich beantragen sie im vorliegenden Verfahren (sinngemäß),
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung nehmen die Antragstellerinnen auf die zeitgleich erhobene Klage sowie den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO des Ehemannes der Antragstellerin zu 1) Bezug und erklären ergänzend, die vom Ehemann der Antragstellerin zu 1) vorgetragenen Gründe würden auch für sie und ihre Tochter gelten. Wegen der schlechten Lebensbedingungen in Italien sei sie zunächst nach Frankreich gereist. Dort habe man ihr Geld für ein bis zwei Monate gegeben und sie dann aufgefordert, das Land zu verlassen. Da sie mit ihrer Tochter in dieser Zeit auf der Straße gelebt habe, sei sie zu ihrem Ehemann nach Italien zurückgekehrt. Von dort aus sei dann die gesamte Familie nach Deutschland weitergezogen. Bei einer Rückkehr nach Frankreich befürchte sie, dort wieder dieselben Verhältnisse vorzufinden. Außerdem wollten sie und ihre Tochter bei ihrem Ehemann in Deutschland bleiben. Von Anker-Zentrum seien sie aufgefordert worden, am 27. Mai 2019 um 11:00 Uhr beim Jugendamt Schweinfurt vorzusprechen, um eine gemeinsame elterliche Sorgeerklärung und Vaterschaftsanerkennung beurkunden zu lassen.
4. Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtssowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des Bescheides der Antragsgegnerin vom 11. März 2019 hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der Antrag ist zulässig.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ist statthaft, soweit er sich gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheids richtet. Insoweit war der Antrag der nicht anwaltlich vertretenen Antragstellerinnen dem erkennbaren Rechtsschutzziel entsprechend auszulegen (§§ 122 Abs. 1, 88 VwGO). Das Gericht kann gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alternative 1 VwGO u.a. in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs anordnen. Eine Klage gegen die Abschiebungsanordnung entfaltet von Gesetzes wegen nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 75 Abs. 1 AsylG keine aufschiebende Wirkung. Der Antrag wurde auch innerhalb der Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG gestellt.
2. Der Antrag ist auch begründet.
Das Gericht trifft im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO eine eigene, originäre Entscheidung über die Anordnung bzw. die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung auf Grund der sich ihm im Zeitpunkt seiner Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG) darbietenden Sach- und Rechtslage. Das Gericht hat dabei das Aussetzungsinteresse der Antragstellerinnen und das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung unter Berücksichtigung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gegeneinander abzuwägen (Kopp/Schenke, VwGO, 24. Auflage 2018, § 80 Rn. 152; Eyermann/Hoppe, VwGO, 15. Auflage 2019, § 80 Rn. 89). Die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ist in der Regel abzulehnen, wenn der Rechtsbehelf in der Hauptsache nach summarischer Prüfung voraussichtlich erfolglos bleiben wird; ergibt eine vorläufige Überprüfung der Klage in der Hauptsache dagegen, dass diese offensichtlich erfolgreich sein wird, so überwiegt regelmäßig das Aussetzungsinteresse der Antragstellerinnen. Sind die Erfolgsaussichten offen, so ist eine reine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl. Eyermann/Hoppe a.a.O., Rn. 90 ff.).
Gemessen an diesen Grundsätzen fällt die vom Gericht anzustellende Interessenabwägung zugunsten der Antragstellerinnen aus. Nach der im vorliegenden Verfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung wird die Klage gegen die Ziffer 3 des angegriffenen Bescheides voraussichtlich Erfolg haben. Bei der nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmenden Abwägung überwiegt daher das Interesse der Antragstellerinnen an der Aussetzung der Vollziehung gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse.
a) Rechtsgrundlage für die streitgegenständliche Abschiebungsanordnung ist § 34a Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG. Danach ordnet das Bundesamt die Abschiebung des Ausländers in einen für die Durchführung des Asylverfahrens nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG zuständigen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedstaat für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist. Art. 3 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO sieht vor, dass Anträge auf internationalen Schutz von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft werden, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Lässt sich anhand dieser Kriterien der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.
Die Antragstellerin hat ausweislich des in der Behördenakte befindlichen Eurodac-Treffers am 1. Juni 2018 in Frankreich internationalen Schutz beantragt und nach eigenen Angaben einen Ablehnungsbescheid erhalten, so dass die französischen Behörden für die Prüfung des Antrags nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO zuständig sind. Diese haben dem fristgerecht gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO Dublin III-VO gestellten Wiederaufnahmegesuch der Antragsgegnerin auch innerhalb der Frist nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 Dublin III-VO zugestimmt, weshalb sie verpflichtet sind, die Antragstellerinnen wiederaufzunehmen. Die Zuständigkeit ist auch nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen, weil die dort geregelte Überstellungsfrist noch nicht abgelaufen ist.
b) Ein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin ergibt sich auch nicht aus der rechtlichen Unmöglichkeit der Überstellung nach Frankreich. Das Gericht geht auf der Basis einer Gesamtwürdigung nach dem aktuellen Erkenntnisstand und im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht davon aus, dass das Asylverfahren in Frankreich unionsrechtlichen Maßstäben widerspricht bzw. dass dort unzureichende Aufnahmebedingungen herrschen, die zu einer Verletzung der durch Art. 4 EU-GR-Charta gewährleisteten Rechte führen (ebenso die weit überwiegende Meinung in der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, vgl. aus jüngerer Zeit z.B. VG Würzburg, B.v. 2.1.2019 – W 8 S 18.50584 – juris; B.v. 7.12.2018 – W 10 S 18.50560 – juris; B.v. 15.11.2018 – W 10 S 18.50501 – juris; VG München, B.v. 14.8.2018 – M 9 S 18.52509 – juris; VG Augsburg, U.v. 24.7.2018 – Au 6 K 18.50603 – juris; VG Düsseldorf, B.v. 8.6.2018 – 12 L 4747/17.A – juris; jeweils m.w.N.).
c) Des Weiteren liegen auch keine außergewöhnlichen Umstände vor, die möglicherweise für eine Pflicht der Antragsgegnerin zum Selbsteintritt bzw. für Ermessensfehler bei der Entscheidung über die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechtes der Antragsgegnerin nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO sprechen könnten. Die Ausübung des Selbsteintrittsrechts steht grundsätzlich im Ermessen der Mitgliedstaaten (sog. Ermessensklausel, vgl. EuGH, U.v. 16.2.2017 – C.K., C-578/16 PPU – juris Rn. 88; U.v. 30.5.2013 – Halaf, C-528/11 – juris Rn. 35 ff.). Zwar kann sich nach der Rechtsprechung des EGMR ein Mitgliedstaat, wie bereits ausgeführt, seiner Verantwortlichkeit für eine Grundrechtsverletzung infolge der Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat nicht unter Verweis auf dessen Zuständigkeit entziehen, wenn er die Befugnis zum Selbsteintritt – hier nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO – besitzt, von dieser Möglichkeit aber trotz der ernsthaften Gefahr einer Grundrechtsverletzung keinen Gebrauch macht (EGMR, U.v. 21.1.2011 – M.S.S., 30696/09, NVwZ 2011, 413 Rn. 340 m.V.a. U.v. 30.6.2005 – Bosphorus, Nr. 45036/98 – NJW 2006, 197). Eine Pflicht zum Selbsteintritt kann aber nur dann angenommen werden, wenn sich das dem Mitgliedstaat eingeräumte Ermessen derart verdichtet hat, dass jede andere Entscheidung unvertretbar wäre (sog. Ermessensreduktion auf Null), weil außergewöhnliche humanitäre, familiäre oder krankheitsbedingte Gründe vorliegen, die nach Maßgabe der Werteordnung der Grundrechte einen Selbsteintritt erfordern (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22 ff.; VG München, GB v. 29.2.2016 – M 12 K 15.50784 – juris Rn. 43 f.; einschränkend aber EuGH, U.v. 16.2.2017 – C.K., C-578/16 PPU – juris Rn. 88).
Aus der vorgetragenen rituellen Ehe ergeben sich keine solch außergewöhnlichen Umstände. Die Wahrung der ehelichen Lebensgemeinschaft und der Familieneinheit unterfällt zwar dem Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK. Bei der vorgetragenen Ehe der Antragstellerin zu 1) mit dem Antragsteller im Verfahren W 10 S 19.50223 handelt es sich allerdings um eine traditionell geschlossene Ehe, die nicht vom Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG erfasst ist, da es sich hierbei mangels staatlicher Anerkennung nicht um eine rechtswirksame Eheschließung handelt (vgl. Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 6. Aufl. 2017, § 6 Rn. 7 ff.). Zum aktuellen Zeitpunkt kann zwischen der Antragstellerin zu 1) und ihrem traditionellen Ehemann auch (noch) kein tatsächlich bestehendes und schutzwürdiges Familienleben im Sinne des Art. 8 EMRK angenommen werden (vgl. Hofmann in BeckOK, AuslR, 21. Ed. 1.2.2019, EMRK, Art. 8 Rn. 16 ff.). Entsprechendes gilt für die Beziehung der Antragstellerin zu 2) zu ihrem angeblichen Vater.
d) Offen sind jedoch bei summarischer Prüfung die Erfolgsaussichten der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des streitgegenständlichen Bescheides im Hinblick auf das Bestehen eines inlandsbezogenen Vollstreckungshindernisses im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, welches im Rahmen einer Abschiebungsanordnung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ebenfalls zum Prüfungsumfang des Bundesamts gehört (BayVGH, B.v. 28.10.2013 – 10 CE 13.2257 – juris m.w.N.). Denn unter der – gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren weiter aufzuklärenden – Voraussetzung, dass die Antragstellerinnen mit ihrem Ehemann bzw. Vater eine familiäre Schutz- und Beistandsgemeinschaft im Sinne des Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK bilden, wäre die Abschiebung der Antragstellerinnen nach Frankreich und damit die Trennung von ihrem Ehemann bzw. Vater, der nach Italien abgeschoben werden soll, rechtswidrig, was sich im Übrigen dann auch auf die Befristungsentscheidung in Ziffer 4 des streitgegenständlichen Bescheides auswirken würde.
Zwar sind die Antragstellerin zu 1) und ihr Ehemann nur rituell verheiratet, weshalb die eheliche Lebensgemeinschaft nicht unter den Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG fällt (vgl. die Nachweise oben unter c)). Es erscheint aber nach den Angaben der Antragstellerin zu 1) und ihres rituellen Ehemannes, die gemeinsam in das Bundesgebiet eingereist sind, plausibel, dass der rituelle Ehemann auch der Vater der Antragstellerin zu 2) ist und dass der Familienverband bereits in Italien bestand, wo sich die Antragstellerinnen ebenfalls von etwa November 2016 (Ankunft in Italien nach Überfahrt von Libyen aus über das Mittelmeer) bis etwa Juni 2018 (Asylantragstellung in Frankreich) aufgehalten haben. Vor diesem Hintergrund erscheint es zumindest ebenso wahrscheinlich wie unwahrscheinlich, dass die Antragstellerin zu 2) und ihr Vater eine schutzwürdige Vater-Kind-Beziehung tatsächlich leben, sodass es der Antragstellerin zu 2) unter Berücksichtigung der Wertung des Art. 6 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 8 EMRK nicht zumutbar wäre, das Bundesgebiet ohne ihren Vater zu verlassen. Dieses inlandsbezogene Vollstreckungshindernis würde dann auch auf die Antragstellerin zu 1) als Mutter der Antragstellerin zu 2) durchschlagen, weil die Antragstellerin zu 2) als Kleinkind auf ihre Mutter ständig angewiesen ist und deshalb nicht ohne sie ausreisen könnte.
3. Da somit die Klage in der Hauptsache hinsichtlich der Abschiebungsanordnung voraussichtlich Erfolg haben wird, überwiegt das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der sofortigen Vollziehung gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse. Der Antrag hat daher Erfolg.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen