Europarecht

Rechtsschutz gegen Ablehnung eines Übernahmeersuchens auf Familienzusammenführung aus humanitären Gründen

Aktenzeichen  AN 18 E 19.50958

Datum:
26.11.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 31321
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 17 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO vermittelt ein einklagbares subjektives Recht, so dass eine hiermit nicht in Einklang stehende Entscheidung gerichtlich überprüft werden kann (Anschluss an VG Ansbach BeckRS 2019, 25458). (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein dauerhafter Rechtsverlust bezüglich eines Anspruchs nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO droht nach einer Sachentscheidung über das Asylbegehren des zuständigen Mitgliedstaats, weil das Verfahren damit nicht mehr dem Anwendungsbereich der Dublin-III-VO unterfällt (Anschluss an VG Berlin BeckRS 2019, 3641). (Rn. 41) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO verpflichtet, sich gegenüber dem griechischen Migrationsministerium, Nationales Dublin-Referat, unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen zum Übernahmegesuch vom 25. April 2019 und zur Wiedervorlage vom 29. Mai 2019 durch das griechische Migrationsministerium, Nationales Dublin-Referat, für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers zu 1) für zuständig zu erklären.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Mit ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung begehren die Antragsteller im Ergebnis die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zu 1) in Deutschland, wo auch die Antragstellerin zu 2) lebt.
Der Antragsteller zu 1) ist der Sohn der Antragstellerin zu 2). Beide sind afghanische Staatsangehörige. Der am … … geborene Antragsteller zu 1) reiste vermutlich im Februar 2017 in Griechenland ein. Er stellte dort am 27. Juni 2017 einen Asylantrag. Die Antragstellerin zu 2), reiste zusammen mit den drei Geschwistern des Antragstellers zu 1) Ende 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte dort am 8. März 2017 Asyl. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 21. März 2017 wurde ihr und den drei Geschwistern des Antragstellers zu 1) ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG zuerkannt. Das vierte Geschwisterkind des Antragstellers zu 1) wurde bereits in Deutschland geboren. Die Antragstellerin zu 2) und die vier Geschwister des Antragstellers zu 1) sind im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 3 AufenthG.
Am 27. Juni 2017 beantragten der Antragsteller zu 1) und sein Vater in Griechenland Asyl. Am 4. August 2017 stellten die griechischen Behörden ein Übernahmeersuchen bezüglich des Antragstellers zu 1) und dessen Vaters an Deutschland, was aber aufgrund der Scheidung der Eltern abgelehnt wurde. Der Vater befindet sich seit dem 1. März 2019 in Griechenland im Gefängnis.
Am 25. April 2019 richtete die griechische Dublin-Einheit auf Grundlage des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO ein den Antragsteller zu 1) betreffendes Übernahmeersuchen an die Antragsgegnerin. Es wurde darauf hingewiesen, dass der Antragsteller zu 1) seit der Inhaftierung seines Vaters unbegleiteter Minderjähriger i.S.d. Art. 2 j) Dublin III-VO sei. Dem per Dublin-Net übersandten Ersuchen beigefügt waren unter anderem die Aufenthaltserlaubnisse der Antragstellerin zu 2) und der vier in Deutschland befindlichen Geschwister, die afghanischen Pässe der Antragsteller, des Vaters sowie der Geschwister (ausgenommen des nachgeborenen Kindes), die Einverständniserklärungen des Antragstellers zu 1) (unterschrieben von Rechtsanwältin … …*) und der Antragstellerin zu 2) betreffend die Familienzusammenführung, weiter ein in griechischer Sprache verfasstes Schreiben vom 9. April 2019, aus dem nach Angaben der griechischen Dublin-Einheit hervorgehe, dass der temporäre Vormund des Antragstellers zu 1) die für die Nichtregierungsorganisation Solidarity Now tätige Anwältin … … bevollmächtigt habe, den Antragsteller zu 1) zu vertreten. Es wurde weiter ein in englischer Sprache verfasstes Schreiben von Solidarity Now vom 16. April 2019 übersandt, in dem unter anderem mitgeteilt wurde, dass der Vater des Antragstellers zu 1) seit März 2019 im Gefängnis sei. Auch wurde erläutert, dass die Anwältin … … als Rechtsbeistand des Antragstellers zu 1) bevollmächtigt worden sei. Ebenso beigefügt war ein „Best Interest Assessment“ vom 16. April 2019 und die Ablehnung Deutschlands vom 8. August 2017 auf ein Übernahmeersuchen betreffend den Antragsteller zu 1) und dessen Vater aus 2017. Aus dem „Best Interest Assessment“-Bericht vom 16. April 2019, unterzeichnet von der Anwältin … …, geht hervor, dass die Antragstellerin zu 2) angab, sie habe den Antragsteller zu 2) bei ihrer eigenen Flucht nicht mitnehmen können, da sich dieser beim Vater befunden habe, von dem sie zu dieser Zeit bereits getrennt gelebt habe. Nach ihren Angaben habe sie, nachdem sie bereits sechs Monate in Deutschland gewesen sei, arrangiert, dass der Antragsteller zu 1) nach Europa flüchten konnte. Der Antragsteller zu 1) wiederum gibt an, dass die gesamte Familie zusammen habe flüchten wollen. An der Grenze Iran/Türkei seien er und sein Vater vom Rest der Familie getrennt worden. Diese hätten erst zwei Jahre später in Griechenland einreisen können.
Mit Schreiben vom 8. Mai 2019 übersandte die Antragstellerseite ein ärztliches Attest des Krankenhauses Piräus, Kinderpsychiatrie, vom 27. Juni 2018 den Antragsteller zu 1) betreffend, wonach dieser an einer posttraumatischen Stressstörung leide (E.43.1) und eine regelmäßige Beobachtung durch einen Kinderpsychiater und ein stabiles familiäres Umfeld empfohlen werde.
Die Antragsgegnerin lehnte das Übernahmeersuchen mit Schreiben vom 8. Mai 2019 ab. Es wurde im Wesentlichen geltend gemacht, dass die Glaubhaftmachung der Familienbande zunächst einmal die Übersetzung der Dokumente erfordere. Dokumente in griechischer Sprache könnten nicht berücksichtigt werden. Weiter sei kein Nachweis gegeben worden, dass der Vater des Antragstellers zu 1) keine elterliche Sorge mehr habe. Die Stellungnahme von „Solidarity now“ werde nicht als Stellungnahme eines Vormundes betrachtet. Ebenso sei das „Best Interest Assessment“ von Avocat unterzeichnet worden. Es sei unklar ob dass der Vormund des Minderjährigen sei. Weiter könnten keine humanitären Gründe identifiziert werden. Der bloße Wunsch des Antragstellers zu 1), dass sein Asylantrag in Deutschland geprüft werde, begründe keinen humanitären Grund. Die Mutter des Minderjährigen sei bereits seit 22. November 2015 in Deutschland. Ebenso sei das Übernahmeersuchen Griechenlands vom 4. August 2017 bereits am 8. August 2017 von Deutschland zurückgewiesen worden. Nun, zwei Jahre später, werde behauptet, die Familienbande wären so eng, dass die Familie zusammengeführt werden müsste.
Hiergegen remonstrierte die griechische Dublin-Einheit mit Schreiben vom 29. Mai 2019. So wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der Nachweis der Familienzugehörigkeit durch die vorgelegten Pässe erfolgt sei. Es sei unklar, warum eine Übersetzung gefordert werde. Ebenso sei nicht nachvollziehbar, warum Dokumente in griechischer Sprache nicht ausreichen würden, zumal man den Inhalt der griechischen Dokumente erklärt habe. Im Gedanken des gegenseitigen Vertrauens, welches dem Dublin-Verfahren zu Grunde liegt, reiche dies aus. Ohnehin könne die Antragsgegnerin die Dokumente selbst übersetzen. Ebenso entspreche es Recht und Gesetz, dass der „Public Prosecutor for Minors“, der als vorübergehender Vormund des Antragstellers zu 1) fungiere, einen Anwalt einer gemeinnützigen Vereinigung bevollmächtigen könne, der dann auch für den Minderjährigen handeln dürfe. Weiter seien die Familienbande eng, denn die Antragsgegnerin verkenne, dass sich die Situation seit dem ersten Übernahmeersuchen verändert habe. Nunmehr sei der Antragsteller zu 1) in Griechenland auf sich allein gestellt. Über dies sei hinzuzufügen, dass man im Jahre 2017 nicht gewusst habe, dass es nicht im besten Interesse des Antragstellers zu 1) gewesen sei, mit seinem Vater in Griechenland zu verbleiben. Im Übrigen sei der Asylantrag des Vaters nicht weiter bearbeitet worden aufgrund stillschweigender Zurücknahme. Dies sei ein weiterer Beweis dafür, dass das Asylverfahren des Antragstellers zu 1) von dem des Vaters getrennt sei. Beigefügt waren unter anderem die Einverständniserklärung des Vaters vom 20. Mai 2019 dahingehend, dass er damit einverstanden sei, dass der Antragsteller zu 1) mit seiner Mutter, der Antragstellerin zu 2), zusammengeführt werde, eine englische Übersetzung des Schreibens des griechischen Gefängnisses vom 27. Mai 2019, wonach der Vater des Antragstellers zu 1) seit dem 1. März 2019 im Gefängnis sei sowie das Original. Weiter wurde insbesondere auch eine englische Übersetzung der Bevollmächtigung der Rechtsanwältin … … vom 9. April 2019 übersandt.
Die Antragsgegnerin lehnte das Ersuchen erneut mit Schreiben vom 31. Mai 2019 ohne Angabe weiterer Gründe ab.
Mit am 16. September 2019 bei dem Verwaltungsgericht Trier eingegangenem Schriftsatz der Verfahrensbevollmächtigten vom 13. September 2019 begehren die Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Der Anordnungsanspruch wird im Wesentlichen damit begründet, dass die Antragsteller unter Zugrundelegung der in Art. 8 EMRK und Art. 7 und 24 GRCh niedergelegten Grundrechtsgarantien zum Schutz des Kindeswohls und zur Wahrung der Familieneinheit gegen die Antragsgegnerin und gegen die Hellenische Republik einen Anspruch auf korrekte Anwendung der Zuständigkeitskriterien der Dublin III-VO und dabei auf die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zu 1) im zuständigen Mitgliedsstaat, nämlich Deutschland, gemäß Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO hätten.
Die Nichteinhaltung von Vorschriften, die der Achtung der Familieneinheit dienen, müssten justiziabel sein. Antragstellende hätten ein subjektives Recht auf Überstellung ihrer Familienangehörigen nach Maßgabe der materiellen- und verfahrensrechtlichen Zuständigkeitsbestimmungen der Dublin III-VO, gerade weil durch sie auch der Schutz von Familien und Minderjährigen bezweckt werde. Die jeweiligen Normen würden die Familieneinheit schützen. Es ergebe sich ein Anspruch aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, da das der Antragsgegnerin eingeräumte Ermessen auf Null reduziert sei. Es lägen humanitäre Gründe vor, welche sich aus dem familiären Kontext ergeben. Angesichts der engen Familienverbundenheit (minderjähriges Kind – Mutter) dem Alter, dem Alter des Antragstellers zu 1) und der bereits mehrjährigen Trennung des minderjährigen Antragstellers zu 1) von seiner Mutter und seinen Geschwistern führe zur Bejahung der humanitären Gründe. Die lediglich aufgrund des gewalttätigen Ex-Ehemanns der Antragstellerin zu 2) und der damit einhergehenden Flucht ohne den Antragsteller zu 1) entstandene Trennung könne unter Beachtung des Kindeswohls und der Familieneinheit nicht länger aufrechterhalten werden. Das im Jahr 2017 übersendete Aufnahmegesuch der griechischen Behörden habe sowohl den Antragsteller zu 1) als auch dessen Vater umfasst. Aufgrund der Scheidung der Eheleute sei das Gesuch von Seiten der Antragsgegnerin abgelehnt worden. Die griechischen Behörden hätten zu dieser Zeit noch keine Kenntnis von den Hintergründen der Familie gehabt, weshalb der Antragsteller zu 1) in der Obhut des Vaters verblieben wäre. Nach Angaben der Antragstellenden habe der Vater immer wieder starke Gewalt gegen die Antragstellenden ausgeübt und den Antragsteller zu 1) nachdrücklich beeinflusst. Der Vater sei im März 2019 wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen verhaftet worden und befinde sich seither in Untersuchungshaft. Die Antragstellenden hätten seit Ankunft des Antragstellers zu 1) in Griechenland engen Kontakt, der sich zusätzlich nach der Inhaftierung des Vaters und der damit schwindenden Einflussnahme auf den Antragsteller zu 1) noch intensiviert habe. Der Antragsteller zu 1) befinde sich seit der Inhaftierung ohne weitere Familienmitglieder in Griechenland. Die Trennung von seiner Mutter und den Geschwistern so wie das in der Vergangenheit Erlebte beeinflusse ihn dabei stark in seinem täglichem Leben und führten dazu, dass er sich zunehmend zurückziehe und mit Depressionen, Hoffnungslosigkeit und Vertrauensverlust zu kämpfen habe. Vorliegend sei wegen der besonderen Umstände des Einzelfalles aus Sicht des Kindeswohls eine Zusammenführung des Antragstellers zu 1) mit seiner Mutter zwingend notwendig, damit der Minderjährige nicht unbegleitet in Griechenland zurückbleibe oder – im Falle einer unwahrscheinlichen Freilassung seines Vaters – erneut dem gewalttätigen Vater ausgesetzt werde. Es bestehe offensichtlich ein gesteigertes Interesse an der Familienzusammenführung, das Ermessen sei in allen denkbaren Maßstäben auf Null reduziert.
Ebenso sei ein Anordnungsgrund gegeben, da es unzumutbar sei, eine rechtskräftige Entscheidung im Hauptsacheverfahren abzuwarten, da jederzeit eine Entscheidung der griechischen Behörde über den Asylantrag des Antragstellers zu 1) in der Sache ergehen könnte, was dann dazu führen würde, dass der Antragsteller zu 1) nicht mehr Asylsuchender und damit nicht mehr im Anwendungsbereich der Dublin III-VO unterfallen würde.
Die Antragsteller beantragen,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu verpflichten, sich unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen des Aufnahmegesuchs sowie der Vorlagen durch das griechische Immigrationsministerium – Nationales Dublin Referat – für den Asylantrag des Antragstellers zu 1) für zuständig zu erklären und auf seine Überstellung hinzuwirken.
Die Antragsgegnerin beantragt mit Schriftsatz vom 18. September 2019, den Antrag gemäß § 123 VwGO abzulehnen und den Rechtsstreit an das örtlich zuständige Verwaltungsgericht Ansbach zu verweisen.
Mit Beschluss vom 24. September 2019 erklärte sich das Verwaltungsgericht Trier gemäß § 52 Nr. 2 Satz 3, Nr. 3 Satz 3, Nr. 5 VwGO für örtlich unzuständig und verwies den Rechtsstreit gemäß § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17a Abs. 2 GVG an das örtlich zuständige Verwaltungsgericht Ansbach. Eine hiergegen gerichtete Anhörungsrüge der Antragstellerseite blieb ohne Erfolg.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die in elektronischer Form vorgelegten Behördenakten des Antragstellers zu 1) (Az.: …*) und der Antragstellerin zu 2) (Az.: …*) verwiesen.
II.
Der Antrag ist nach verständiger Würdigung des Gemeinten, § 122 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 88 VwGO, dahingehend auszulegen, dass in dem letzten Halbsatz kein eigenständiger Antrag zu sehen ist, denn mit der begehrten Verpflichtung der Antragsgegnerin, sich für das Asylverfahren des Antragstellers zu 1) für zuständig zu erklären, ist dem Rechtschutzbedürfnis der Antragsteller bereits Genüge getan.
Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO ist auch begründet.
1) Der Antrag ist zulässig.
Insbesondere verfügt die Antragsteller über die in entsprechender Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO notwendige Antragsbefugnis. Erforderlich ist hierfür die Geltendmachung einer möglichen Verletzung subjektiver Rechte der Antragsteller. Er erscheint möglich, dass die dem Kindeswohl und dem Schutz der Familie dienende Vorschrift des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO sowohl dem in Griechenland befindlichen Antragsteller zu 1) als auch dessen in Deutschland befindlicher Mutter, der Antragstellerin zu 2), ein subjektives Recht auf Überstellung des Antragstellers zu 1) nach Deutschland vermitteln (vgl. BVerwG, B.v. 2.7.2019 – 1 AV 2/19 – juris Rn. 12 sowie VG Ansbach, B.v. 19.7.2019 – AN 18 E 19.50355; B.v. 2.10.2019 – AN 18 E 19.50790, VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 20; VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 21).
2) Der Antrag ist auch begründet.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts der Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (sog. Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO; sog. Regelungsanordnung). Der streitige Anspruch (Anordnungsanspruch) und die Dringlichkeit einer vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) sind jeweils glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich nur vorläufige Regelungen treffen und den Antragstellern nicht schon in vollem Umfang, das gewähren, was sie nur in einem Hauptsacheprozess erreichen könnten. Im Hinblick auf das Gebot eines wirksamen Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gilt dieses Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache dann nicht, wenn die sonst zu erwartenden Nachteile des Antragstellers unzumutbar sowie in einem Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären und ein hoher Wahrscheinlichkeitsgrad für einen Erfolg in der Hauptsache spricht (vgl. BVerwG, B.v. 26.11.2013 – 6 VR 3/13 – juris).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Den Antragstellern ist es sowohl gelungen, einen entsprechenden Anordnungsanspruch als auch die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen. Insbesondere ist hier ausnahmsweise auch die Vorwegnahme der Hauptsache geboten.
a) Der Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht. Ein solcher ergibt sich hier jedenfalls aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO. Die Antragsteller haben einen einklagbaren Anspruch darauf, dass sich die Antragsgegnerin gegenüber dem griechischen Migrationsministerium, Nationales Dublin-Referat – unter Aufhebung der ergangenen Ablehnungen – für die Prüfung des Asylantrages des Antragstellers zu 1) für zuständig erklärt. So sind in der vorliegenden Fallkonstellation nicht nur die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO erfüllt. Es bestehen im Hinblick auf den alleine in Griechenland lebenden Antragsteller zu 2) auch gesteigerte humanitäre Gründe, welche ausnahmsweise zu einer Verdichtung des in der Vorschrift zum Ausdruck kommenden Ermessens der Antragsgegnerin dahingehend führen, dass diese zu einer Übernahme des Antragsteller zu 1) verpflichtet ist.
(1) Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO vermittelt den Antragstellern diesbezüglich ein einklagbares subjektives Recht, so dass eine hiermit nicht in Einklang stehende Entscheidung der Antragsgegnerin auch gerichtlich überprüft werden kann (so auch: VG Ansbach, B.v. 2.7.2019 – AN 18 E 19.50459, B.v. 19.7.2019 – AN 18 E 19.50355, B.v. 2.10.2019 – AN 18 E 19.50790, VG Münster, B.v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A; VG Berlin, B.v. 17. Juni 2019 – 23 K L 293.19.A – juris, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris; VG Frankfurt/Main, B.v. 27.5.2019 – 10 L 34/19.F.A). Nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Dublin III-VO kann derjenige Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt worden ist und der das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates durchführt, oder der zuständige Mitgliedstaat, bevor eine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist, jederzeit einen anderen Mitgliedstaat ersuchen, den Antragsteller aufzunehmen, aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, auch wenn der andere Mitgliedstaat nach den Kriterien in den Art. 8 bis 11 und 16 Dublin III-VO nicht zuständig ist. Die betreffenden Personen müssen dem schriftlich zustimmen, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO.
Der humanitären Klausel des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO kommt nach den Vorstellungen der Kommission gerade die Aufgabe zu, Familienangehörige zusammenzuführen, obwohl sie bei strenger Anwendung der Kriterien getrennt würden (so ausdrücklich Bericht der Kommission zur Bewertung des Dublin-Systems vom 6. Juni 2007, KOM/2007/0299 endg. 2.3.1 – juris). Dieses Ziel hat zugleich als 17. Erwägungsgrund Eingang in die Dublin III-VO gefunden. Es würde nicht erreicht, wäre der Anspruch nicht einklagbar. Mit Blick auf die Erwägungsgründe 13, 14, 15, 16 und 17 der Dublin III-VO, Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) sowie Art. 6 GG wird zudem deutlich, dass sich nicht nur der in Griechenland befindliche Antragsteller zu 1) auf das Recht auf Familienzusammenführung berufen kann, sondern auch die in Deutschland lebende Mutter, die Antragstellerin zu 2). Es handelt sich bei Art.17 Abs. 2 Dublin III-VO ersichtlich um eine Auffangregelung für Familienangehörige im weiteren Sinne, auf die Einhaltung der Art. 8 bis 11 und 16 Dublin III-VO und damit letztlich auch der für die Anwendung dieser Kriterien geltenden Fristen soll es „aus humanitären Gründen“ insbesondere im „familiären oder kulturellen Kontext“ nicht ankommen. Diese Norm ermöglicht somit eine flexible Subsumtion verschiedenster Sachverhalte mit familiärem Bezug (vgl. auch VG Berlin, B.v. 17.6.2019 – 23 K L 293.19 A – juris Rn. 23) und kann ihr Ziel nur erreichen, wenn sie den Betroffenen ein subjektives Recht vermittelt.
Die Rechtsprechung des EuGH (vgl. EuGH, U.v. 23.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 72), wonach Art. 6 Abs. 1 Dublin III-VO dahin auszulegen sei, dass er einen Mitgliedstaat, der nach den in dieser Verordnung genannten Kriterien für die Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz unzuständig ist, nicht dazu verpflichtet, das Wohl des Kindes zu berücksichtigen und diesen Antrag in Anwendung des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO selbst zu prüfen, steht der Annahme eines einklagbaren Rechts aus Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nicht entgegen. Art. 17 Abs. 1 und Abs. 2 Dublin III-VO haben verschiedene Anwendungsbereiche. So sieht Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO in seinem Tatbestand, anders als die Vorschrift des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO, gerade keine humanitären Gründe vor, zu deren Prüfung der ersuchte Mitgliedstaat nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 3 Satz 1 Dublin III-VO auf Ersuchen eines anderen Mitgliedstaates verpflichtet ist. Zudem sieht Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO vor, dass die Ablehnung des Übernahmegesuchs begründet werden muss, während sich der Mitgliedstaat bei Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu einer Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts gerade nicht äußern muss. Bei der Regelung des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO handelt es sich, im Gegensatz zu der Regelung des Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO, gerade nicht um einen Selbsteintritt. Vielmehr bedarf es zunächst eines Übernahmeersuchens eines Mitgliedstaats, welches angenommen werden kann. Dann wird gemäß Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 4 Dublin III-VO dem ersuchten Mitgliedstaat die Zuständigkeit für die Antragsprüfung übertragen. Es ist mithin eine Kooperation zweier Mitgliedstaaten nötig, vgl. VG Ansbach, B.v. 2.7.2019 – AN 18 E 19.50459, B.v. 2.10.2019 – AN 18 E 19.50790, VG Berlin, B.v. 17.6.2019 – 23 K L 293.19.A – juris.
Auch die auf Erwägungsgrund 19 der Dublin III-VO beruhende Regelung des Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO vermag kein anderes Ergebnis zu begründen. Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO gibt zwar wörtlich nur ein Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung. Die Ablehnung des Aufnahmegesuchs Griechenlands durch die deutschen Behörden ist aber gerade keine solche Überstellungsentscheidung, gegen die vorgegangen werden könnte. Auch hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) bezüglich Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO entschieden, dass Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO dahingehend auszulegen sei, dass er nicht dazu verpflichtet, einen Rechtsbehelf gegen die Entscheidung, von der in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehenen Befugnis keinen Gebrauch zu machen, vorzusehen. Zugleich hat der EuGH aber ausgeführt, dass der Mitgliedstaat, der es ablehnt, von der Ermessenklausel in Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, zwangsläufig eine Überstellungsentscheidung erlässt. Die Weigerung des Mitgliedstaates, Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO anzuwenden, könne daher gegebenenfalls im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen die Überstellungsentscheidung angefochten werden. Diese Möglichkeit bleibe unberührt. Der Grundsatz effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes sei ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts (vgl. EuGH, U.v. 23.1.2019 – C-661/17 – juris Rn. 70 – 79, U.v. 10.7.2014 – C-295/12 P – juris Rn. 40). Übertragen auf die hier vorliegende Konstellation des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO bedeutet die Rechtsprechung des EuGH, dass hier gerade ein Rechtsbehelf gegen die Ablehnung des Aufnahmeersuchens gegeben sein muss, denn in den von Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO erfassten Konstellationen befindet sich der Ausländer gerade nicht in dem Mitgliedstaat, welcher das Übernahmeersuchen nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO abgelehnt hat, so dass es auch keine Überstellungsentscheidung geben wird, die angegriffen werden kann. Letztlich wäre der Ausländer rechtschutzlos gestellt, könnte er die Ablehnung des Aufnahmegesuchs nach Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO nicht gerichtlich überprüfen lassen, was mit dem allgemeinen Grundsatz eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes nicht zu vereinbaren ist. Das an die Mitgliedstaaten adressierte Schlichtungsverfahren nach Art. 37 Dublin III-VO kann jedenfalls keinen ausreichenden Rechtsschutz bei möglichen Grundrechtsverletzungen bieten. Diese Rechtschutzlücke muss im Hinblick auf das gewichtige Recht auf Familienzusammenführung und den Schutz des Kindeswohles geschlossen werden.
(2) Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO sind gegeben. Ein entsprechendes Ersuchen der griechischen Behörden an die Bundesrepublik Deutschland, den Antragsteller zu 1) aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus dem familiären oder kulturellen Kontext ergeben, zur Familienzusammenzuführung (Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehungen) aufzunehmen, ist am 25. April 2019 gestellt worden und wurde explizit auf Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO gestützt.
Griechenland war zur Stellung des Übernahmeersuchens auch ermächtigt, denn dort hat der Antragsteller zu 1) am 27. Juni 2017 einen Asylantrag gestellt, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Alt. 1 Dublin III-VO. Offen bleiben kann, ob das Erfordernis dahingehend, dass noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen sein darf, nur bezüglich eines Übernahmeersuchens eines an sich zuständigen Staates gilt, Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 1 Alt. 2 Dublin III-VO (so vertreten von Heusch in: Heusch/Haderlein/Schönenbroicher, Das neue Asylrecht, 1. Auflage 2016, Rn. 271), denn ist es weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass schon eine Erstentscheidung über den Asylantrag des Antragstellers zu 1) in Griechenland ergangen sei, wobei Erstentscheidung die das Erstverfahren bestands- oder rechtskräftig abschließende Entscheidung meint (vgl. NK-AuslR/Bruns, 2. Aufl. 2016, AsylVfG, § 27a, Rn. 63).
Dieses Ersuchen kann „jederzeit“ gestellt werden. Es ist daher unerheblich, dass das Übernahmeersuchen vom 25. April 2019 nicht innerhalb der Frist des Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO an Deutschland übermittelt wurde.
Ebenso liegen die nach Art. 17 Abs. 2 Unterabs. 1 Satz 2 Dublin III-VO erforderlichen schriftlichen Zustimmungserklärungen zur Familienzusammenführung vor. Hier genügt insbesondere die Unterschrift der vom Vormund des Antragstellers zu 1) bevollmächtigten Anwältin auf der Zustimmungserklärung des damals 13-jährigen Antragstellers zu 1). Ebenso geht der Einwand der Antragsgegnerin fehl, es sei nicht nachgewiesen, dass der Vater keine elterliche Sorge mehr habe, den es wurden seitens der griechischen Behörden die entsprechenden Dokumente vorgelegt, wonach der Antragstellers zu 1) einen temporären Vormund habe und die handelnde Anwältin von diesem entsprechend bevollmächtigt wurde. Überdies wurde die Einverständniserklärung des Vaters des Antragstellers zu 1) zur Überstellung nach Deutschland zu der Antragstellerin zu 2) vorgelegt. Wenn die Antragsgegnerin weiter moniert, dass Dokumente nur in griechischer Sprache vorgelegt worden seien bzw. die afghanischen Personaldokumente nicht übersetzt worden seien, so verkennt diese, dass sich weder den Art. 17 Abs. 2, Art. 21 Abs. 3 oder Art. 22 Abs. 2 Dublin III-VO noch dem Anhang II der Dublin-Durchführungsverordnung entnehmen lässt, dass die vorgelegten Beweise übersetzt sein müssten. Weiter bestimmt Art. 15 Abs. 2 Dublin-Durchführungsverordnung, dass die Echtheit aller Gesuche, Antworten und Schriftstücke, die von einer in Artikel 19 bezeichneten nationalen Systemzugangsstelle übermittelt werden, als gegeben gilt. Überdies legt Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO fest, dass das Beweiserfordernis nicht über das für die ordnungsgemäße Anwendung der Vorschrift erforderliche Maß hinausgehen darf, zumal die griechischen Behörden Erklärungen zu den in griechischer Sprache verfassten Dokumente abgegeben haben. Es wäre der Antragsgegnerin zudem möglich und zumutbar gewesen, die eingereichten Belege selbst zu übersetzen. Im Übrigen sind auch erst die mit dem Remonstrationsschreiben vom 29. Mai 2019 vorgelegten Belege zu berücksichtigen, denn die Remonstration erfolgte fristgerecht, Art. 5 Abs. 2 Satz 1, 2 Dublin-Durchführungsverordnung.
Die in Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO geforderten humanitären Gründe, die sich insbesondere aus dem familiären Kontext ergeben, um Personen jeder verwandtschaftlichen Beziehung zusammenzuführen, sind vorliegend gegeben. Zunächst ist festzustellen, dass die geforderten verwandtschaftlichen Beziehungen vorliegen. Die Antragstellerin zu 2) und der Antragsteller zu 1) sind Mutter und Sohn. Auch hier gilt nach oben Gesagtem, dass die vorgelegten afghanischen Personaldokumente, entgegen den Forderungen der Antragsgegnerseite, nicht übersetzt werden mussten. Ohnehin ist unklar, warum die Antragsgegnerin im jetzigen Verfahren die Verwandtschaftsverhältnisse anzweifelt, während sie diese im Verfahren zum ersten Übernahmeersuchen aus 2017 angenommen hatte.
Bei den genannten humanitären Gründen handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der auszulegen ist. Hierbei ist im Kontext der Dublin III-VO eine Auslegung geboten, die bei der Anwendung der Vorschriften zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zu Ergebnissen gelangt, die den Grundgedanken der Einheit der Familie und dem Kindeswohl verpflichtet ist, was sich insbesondere aus den Erwägungsgründen 13 bis 17 der Dublin III-VO entnehmen lässt. Hier handelt es sich bei der Antragstellerin zu 2) und dem Antragsteller zu 1) um Mutter und Sohn. Mit Blick auf dieses Verwandtschaftsverhältnis ist aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Falles vom Vorliegen humanitärer Gründe aus dem familiären Kontext auszugehen. Dieser familiäre Kontext führt jedenfalls angesichts der engen familiären Verbundenheit (minderjähriges Kind – Mutter), dem Alter des Antragstellers zu 1) und der bereits mehr als fünfjährigen Trennung des minderjährigen Antragstellers zu 1) von seiner Mutter und den Geschwistern – bezogen auf diesen Einzelfall – zur Bejahung der humanitären Gründe.
(3) Die Antragsgegnerin hätte somit das ihr zustehende Ermessen pflichtgemäß ausüben müssen. Wie sich sowohl aus den Argumenten der Antragsgegnerin im Ablehnungsschreiben vom 8. Mai 2019 als auch dem weiteren Ablehnungsschreiben vom 31. Mai 2019 ersehen lässt, hat die Antragsgegnerin das ihr eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt, sondern bereits das Vorliegen von humanitären Gründen verneint. Ermessenserwägungen zu dem konkreten Fall sind nicht zu erkennen. Das Gericht konnte dennoch über den Antrag abschließend entscheiden (was im Rahmen des Eilrechtschutzes bei Ermessensentscheidungen jedenfalls strittig ist), denn vorliegend ist eine Ermessensreduktion auf Null gegeben. Es liegen in Bezug auf den minderjährigen Antragsteller über das bloße Interesse an der Familienzusammenführung hinausgehende Umstände vor, welche ausnahmsweise die Annahme eines Härtefalls begründen und jede andere Entscheidung unvertretbar erscheinen lassen. Grundsätzlich kann eine derartige Ermessensreduktion nach der Konzeption der Vorschrift nur in besonders gelagerten Fallkonstellationen in Betracht kommen. Dafür reicht namentlich die bloße Existenz eines humanitären Grundes, der den Anwendungsbereich des Art. 17 Abs. 2 Dublin III-VO überhaupt erst eröffnet, noch nicht aus. Zu fordern ist vielmehr eine besondere Verdichtung von humanitären Umständen, die unter Berücksichtigung der Begebenheiten des konkreten Einzelfalls einen Härtefall begründen können, der jede andere Entscheidung unvertretbar erscheinen lässt (vgl. VG Ansbach, B.v. 2.10.2019 – AN 18 E 19.50459; VG Berlin, B.v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 32; ähnlich zu Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO: BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris Rn. 22).
Selbst unter Zugrundelegung dieses strengen Maßstabs ergibt sich auf der Grundlage einer Gesamtbetrachtung der Besonderheiten des vorliegenden Falls, dass von einer ausnahmsweisen Verdichtung des der Antragsgegnerin zustehenden Ermessens hin zu einer Pflicht zur Übernahme der Asylverfahren des Antragsteller zu 1) auszugehen ist. So liegen in Bezug auf den in Griechenland befindlichen Antragsteller zu 1) solche – über das bloße Interesse an einer Familienzusammenführung hinausgehende – Umstände vor, welche ausnahmsweise die Annahme eines Härtefalls begründen und jede andere Entscheidung unvertretbar erscheinen lassen.
Hier sind zunächst in erheblicher Weise die Aspekte des Kindeswohls des minderjährigen Antragstellers betroffen. Diese sind anhand einer Gesamtschau der jeweiligen Umstände des konkreten Einzelfalls zu ermitteln. Als Prüfungsmaßstab zieht etwa die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte das Alter des Kindes, den Umfang der Bindung des Kindes zu seinen Familienmitgliedern im Herkunftsstaat sowie den Umstand, ob das Kind unabhängig von seiner Familie eingereist ist, heran (vgl. EGMR, U.v. 30.7.2013 – Nr. 948/12 – BeckRS 2014, 80974 Rn. 56 [engl.]). In ähnlicher Weise stellt auch der Europäische Gerichtshof hinsichtlich der Schutzwürdigkeit eines minderjährigen Kindes auf dessen Lebensalter sowie die Frage ab, wie lange dieses in einem anderen Staat als seine Familienangehörigen gelebt hat (vgl. EuGH, U.v. 27.6.2006 – C-540/03 – BeckRS 2006, 80974 Rn. 73-75, wo im Zusammenhang mit dem Familiennachzug eine Altersgrenze von zwölf Jahren gebilligt wurde). Ausgehend von diesen Grundsätzen muss im Hinblick auf den vorliegenden Fall zunächst berücksichtigt werden, dass der alleine in Griechenland lebende Antragsteller erst vierzehn Jahre alt ist und damit auch im Hinblick auf die vom Europäischen Gerichtshof in Betracht gezogene Altersgrenze von zwölf Jahren noch in gewissem Umfang schutzwürdig erscheint. Seit der Flucht der Antragstellerin zu 2) mit den Geschwistern im Sommer 2015 ist der Antragsteller zu 1) von diesen getrennt. Zwar war er seitdem wohl meist mit seinem Vater zusammen, doch auch von diesem ist er bereits seit acht Monaten wegen des Gefängnisaufenthaltes des Vaters getrennt und daher allein lebend. Ohnehin war der Antragsteller zu 1) in der Vergangenheit wiederholt den Gewaltausbrüchen und dem emotional missbräuchlichen Verhalten des Vaters ausgesetzt, was – ebenso wie dessen Verhaftung – nicht für eine Fortsetzung des Zusammenlebens mit dem Vater spricht.
Letztlich unerheblich ist, ob die Antragstellerin zu 2) den Antragsteller zu 1) im Jahr 2015 in Afghanistan zurückgelassen hat oder ob die Familie im Jahr 2015 zunächst zusammen versucht hat, nach Europa zu fliehen und an der Grenze zur Türkei getrennt wurden. Denn in beiden Konstellationen handelt es sich um Entscheidungen der Eltern bzw. unglückliche Umstände, die nicht zum Nachteil des minderjährigen Antragstellers zu 1) gereichen können. Dieser hatte auf die Ereignisse der Vergangenheit und das Verhalten und die Entscheidungen seiner Eltern keinen Einfluss. Spätestens seit seiner Ankunft in Griechenland im Jahre 2017 haben die Antragsteller jedenfalls wieder täglichen Kontakt über das Telefon oder Internet und sind einander emotional sehr verbunden, was beide übereinstimmend bezeugen. Auch verkennt die Antragsgegnerin, dass sich die Situation seit dem ersten Übernahmeersuchen im Jahr 2017 verändert hat, denn seit März diesen Jahres ist der Antragsteller zu 1) in Griechenland auf sich allein gestellt, während man im Jahr 2017 beim ersten Übernahmeersuchen wohl davon ausgegangen ist, dass der Antragsteller zu 1) jedenfalls mit seinem Vater in Griechenland verbleiben kann. Im Ergebnis ist daher festzustellen, dass trotz der seit 2015 bestehenden Trennung der Antragsteller, vom Bestehen einer hinreichend engen Beziehung zwischen den Antragstellern auszugehen ist.
Hinsichtlich der mit dem Attest vom 27. Juni 2018 angeführten Erkrankung des Antragstellers zu 1) ist anzumerken, dass diese nicht substantiiert vorgetragen wurde und daher keine Berücksichtigung finden können. Doch unabhängig von einer Erkrankung des Antragstellers zu 1) wurde glaubhaft dargelegt, dass die Zusammenführung des Antragstellers mit seiner Mutter und den Geschwistern dem Kindeswohl entspricht und zur Verbesserung der emotionalen Stabilität des Antragstellers zu 1) führen wird. Zu Gunsten des Antragstellers wird man in diesem Zusammenhang auch zu berücksichtigen haben, dass die Antragsgegnerin die Anforderungen an den Nachweis der Familienverhältnisse und der humanitären Gründe zu hoch gesteckt hat. So ist insbesondere die Hürde für den Nachweis von Familienbindungen im Dublin-Verfahren geringer als etwa im Verfahren zur Familienzusammenführung nach dem Aufenthaltsgesetz. Ziel des Verfahrens ist eine schnelle Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates, weswegen auch insbesondere Art. 22 Abs. 4 Dublin III-VO bestimmt, dass das Beweiserfordernis nicht überdehnt werden darf.
b) Die Antragsteller haben zudem einen Anordnungsgrund im Sinne einer besonderen Dringlichkeit einschließlich eines drohenden Rechtsverlustes glaubhaft gemacht. Dieser ergibt sich daraus, dass nach den gescheiterten Versuchen des griechischen Dublin-Referats auf Übernahme des Antragstellers zu 1) durch die Antragsgegnerin eine Sachentscheidung über das Asylbegehren des Antragstellers durch die griechischen Asylbehörden zu befürchten ist, womit diese nicht mehr dem Anwendungsbereich der Dublin-III-VO unterfielen (vgl. auch: VG Münster, B. v. 20.12.2018 – 2 L 989/18.A – juris Rn. 69; VG Berlin, B. v. 15.3.2019 – 23 L 706.18 A – juris Rn. 36; VG Wiesbaden, B. v. 25.4.2019 – 4 L 478/19.WI.A).
c) Die mit dieser Anordnung verbundene Vorwegnahme der Hauptsache ist hier vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG ausnahmsweise zulässig, da ansonsten ein nicht umkehrbarer Übergang der Zuständigkeit auf Griechenland zu befürchten ist und die Familieneinheit der Antragstellers – jedenfalls basierend auf der Dublin III-VO – nicht mehr herbeigeführt werden könnte. Dies ist unzumutbar und auch nicht mehr rückgängig zu machen. Zudem besteht, wie bereits ausgeführt, eine hohe Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG.
Die Entscheidung ist nach § 80 AsylG unanfechtbar.

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