Europarecht

Systemische Schwachstellen der Asylhaft in Ungarn für einen schwerstbehinderten Minderjährigen

Aktenzeichen  M 16 K 15.50298

Datum:
28.4.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 27a, § 34a
VO (EU) 604/2013 Art. 3 Abs. 1
EMRK EMRK Art. 3
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2, Art. 18 Abs. 1b
EU-GRCh Art. 4

 

Leitsatz

Die von einem „DUBLIN-Rückkehrer“ in Ungarn im Falle seiner Inhaftierung wegen „Verzögerung des Asylverfahrens“ oder „Fluchtgefahr“ zu erwartenden Asylhaftbedingungen tragen den Bedürfnissen eines schwerstbehinderten, minderjährigen Kindes keinerlei Rechnung und weisen systemische Schwachstellen auf, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. Februar 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.

Gründe

Im Einverständnis der Beteiligten entscheidet das Gericht ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die Anfechtungsklage ist zulässig (vgl. BayVGH, B. v. 29.1.2015 – 13a B 14.50039 – juris) und begründet. Der Bescheid des Bundesamts vom 23. Februar 2015 ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Beklagte hat die Asylanträge der Kläger zu Unrecht als unzulässig abgelehnt. Zwar ergibt sich aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union grundsätzlich eine Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung der Asylanträge der Kläger; im vorliegenden Fall liegen jedoch besondere Umstände vor, die die Zuständigkeit Ungarns entfallen lassen und die Zuständigkeit der Beklagten für die Durchführung der Asylverfahren begründen.
Gemäß § 27a AsylG ist ein Asylantrag in der Bundesrepublik Deutschland unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrags für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das Bundesamt kann in einem solchen Fall die Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG anordnen, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist vorliegend die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO). Diese findet gemäß Art. 49 Abs. 1 und 2 Dublin III-VO auf alle in der Bundesrepublik ab dem 1. Januar 2014 gestellten Anträge auf internationalen Schutz Anwendung, also auch auf die am 25. September 2014 gestellten Schutzgesuche der Kläger.
Art. 3 Abs. 1 Dublin III-VO sieht vor, dass der Asylantrag von dem Mitgliedstaat geprüft wird, der nach den Kriterien des Kapitels III der Dublin III-VO als zuständiger Staat bestimmt wird. Bei Anwendung dieser Kriterien wäre vorliegend grundsätzlich von einer Zuständigkeit Ungarns für die Prüfung der Asylanträge der Kläger gemäß Art. 18 Abs. 1b) Dublin III-VO auszugehen. Dementsprechend haben die ungarischen Behörden ihr Einverständnis mit der Wiederaufnahme der Kläger erklärt.
Hier ist allerdings ausnahmsweise die Zuständigkeit der Beklagten für die Prüfung der Asylanträge gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO gegeben. Denn es liegen wesentliche Gründe für die Annahme vor, dass das ungarische Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Bezug auf den minderjährigen, schwerstbehinderten Kläger zu 2 systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne der Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Die Überstellung des Klägers zu 2 in den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat Ungarn erweist sich damit als unmöglich im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. In einem solchen Fall wird, wenn sich wie vorliegend auch kein anderer zuständiger Mitgliedstaat feststellen lässt, der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylantrags zuständig.
Grundsätzlich gründet sich das gemeinsame Europäische Asylsystem auf das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der Europäischen Menschenrechtskonvention – EMRK – finden (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris). Daraus ist die Vermutung abzuleiten, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der EU-Grundrechtecharta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der EMRK steht (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris Rn. 80).
Die diesem „Prinzip des gegenseitigen Vertrauens“ (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) bzw. dem „Konzept der normativen Vergewisserung“ (vgl. BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) zugrundeliegende Vermutung ist jedoch nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für die Antragsteller führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i. S. v. Art. 4 der EU-Grundrechtecharta ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, U. v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris). Die Vermutung ist zwar nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist aber dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber aufgrund größerer Funktionsstörungen in dem zuständigen Mitgliedstaat regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. BVerwG, B. v. 19.3.2014 – 10 B 6/14 – juris Rn. 8). Bei einer zusammenfassenden, qualifizierten – nicht rein quantitativen – Würdigung aller Umstände, die für das Vorliegen solcher Mängel sprechen, muss diesen ein größeres Gewicht als den dagegensprechenden Tatsachen zukommen, d. h. es müssen hinreichend gesicherte Erkenntnisse dazu vorliegen, dass es nicht nur vereinzelt, sondern immer wieder und regelhaft zu Grundrechtsverletzungen kommt (vgl. VGH BW, U. v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 – juris Rn. 41).
Bei der Bewertung der in Ungarn anzutreffenden Umstände der Durchführung des Asylverfahrens und der Aufnahme von Flüchtlingen sind dabei diejenigen Umstände heranzuziehen, die auf die Situation der jeweiligen Kläger zutreffen (OVG NRW, U. v. 7.3.2014 – 1 A 21/12.A – juris Rn. 130). Damit ist hier in erster Linie auf die Situation von Familien bzw. Alleinerziehenden mit minderjährigen, schwerstbehinderten Kindern, die vor ihrer Ausreise aus Ungarn dort bereits einen Asylantrag gestellt haben und nunmehr im Rahmen des sog. Dublin-Systems überstellt werden sollen, abzustellen. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnismittel ist davon auszugehen, dass die Unterbringungsbedingungen jedenfalls für diesen Personenkreis im Hinblick auf die ihnen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Inhaftierung und die mit der Asylhaft verbundenen Umstände derartige systemische Mängel aufweisen (vgl. VG München, U. v. 29.2.2016 – M 12 K 14.50283 – juris m. w. N.; VG München, U. v. 15.7.2015 – M 12 K 15.50489 – juris; VG München, Gb. v. 12.11.2015 – M 9 K 14.50739 – jeweils zu Familien mit minderjährigen Kindern).
Den Klägern droht im Falle einer Rückkehr nach Ungarn wegen ihrer Weiterreise während des dortigen Asylverfahrens im Hinblick auf die Haftgründe „Verzögerung des Asylverfahrens“ oder „Fluchtgefahr“ mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Inhaftierung. Die in Bezug auf Ungarn vorliegenden Auskünfte rechtfertigen auch die Annahme, dass die Asylhaftbedingungen jedenfalls in Bezug auf den Kläger zu 2, der wegen seiner Minderjährigkeit und seiner Behinderung einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe angehört, systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen. Denn es muss davon ausgegangen werden, dass die Asylhaftbedingungen in Ungarn den Bedürfnissen eines schwerstbehinderten, minderjährigen Kindes keinerlei Rechnung tragen und daher so ungeeignet sind, so dass die von Art. 3 EMRK geforderte Schwelle an Schwere überschritten ist (vgl. zu den Haftbedingungen im Einzelnen VG München, U. v. 29.2.2016 – M 12 K 14.50283 – juris m. w. N.).
Offen bleiben kann, ob auch in Bezug auf den Kläger zu 1 eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Art. 4 der EU-Grundrechtecharta gegeben ist. Denn eine Trennung der Familieneinheit wäre gemäß Art. 20 Abs. 3 Dublin III-VO und gemessen an dem in Art. 6 GG und Art. 8 EMRK verbürgten Schutz der Familie unzulässig (vgl. VG München, U. v. 15.7.2015 – M 12 K 15.50489 – juris).
Ist die Feststellung nach § 27a AsylG rechtswidrig, ist auch kein Raum mehr für die Abschiebungsanordnung gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG nach Ungarn. Die Abschiebungsanordnung des angegriffenen Bescheides war somit ebenfalls aufzuheben.
Das Bundesamt ist in der Folge kraft Gesetzes (vgl. § 31 Abs. 2 AsylG) verpflichtet, das Asylverfahren der Kläger fortzuführen und eine Sachentscheidung zu treffen (vgl. BayVGH, U. v. 28.2.2014 – 13a B 13.30295 – juris Rn. 22).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.

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