Europarecht

Überstellung eines alleinstehenden jungen Mannes nach Italien rechtmäßig

Aktenzeichen  W 2 K 17.50660

Datum:
13.6.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 19751
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Art. 3 Abs. 2 UAbs. 1, Art. 29 Abs. 1, Abs. 2
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34 Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

1 Unter dem Begriff „flüchtig“ ist jede Form eines unbekannten Aufenthalts zu verstehen, mit der sich der Betroffene vorsätzlich und unentschuldigt seiner Abschiebung entzieht. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 Das Gericht geht auf der Grundlage der in das Verfahren einbezogenen Erkenntnismittel davon aus, dass in Italien keine generellen systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen mit der Folge gegeben sind, dass Asylbewerber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
3 Im Hinblick auf das parallel zum staatlichen Unterbringungssystem bestehende Netzwerk an kirchlich oder sonst gemeinnützig betriebenen Unterbringungseinrichtungen erreicht das Risiko für den Kläger, bei einer Wiederaufnahme seines Asylverfahrens auch mittelfristig keine Unterkunft zu finden und ohne jede Anlaufstelle auf der Straße zu verelenden, deshalb nicht das für die Annahme von systemischen Mängeln ausreichende Maß. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
4 Wenn sich der Kläger dem Asylsystem in Italien unterwirft, hat er im Falle einer Überstellung nach Italien als Asylbewerber Anspruch auf Unterbringung und Verpflegung, dessen Erfüllung zur Überzeugung des Gerichts hinreichend gesichert ist. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig, jedoch unbegründet.
Der angefochtene Bescheid des Bundesamts vom 9. Oktober 2017 ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) insgesamt rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
1. Die in Ziffer 1 des Bescheides ausgesprochene Unzulässigkeit des klägerischen Asylantrag findet ihre Rechtsgrundlage in § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG. Italien ist aufgrund des dort erstmalig gestellten Asylantrags jedenfalls gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO für den Asylantrag des Klägers zuständig. Italien hat auf das innerhalb der Fristen des Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1 und 2 Dublin III-VO gestellte Aufnahmegesuch der Beklagten nicht reagiert, was gemäß Art. 22 Abs. 7 i.V.m. Abs. 1 Dublin III-VO zu einem Zuständigkeitsübergang für die Bearbeitung des Asylantrags führt. Damit ist Italien gemäß Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO verpflichtet, den Antragsteller innerhalb einer Frist von sechs Monaten nach der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs wieder aufzunehmen.
1.1 Diese Frist ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch nicht verstrichen. Italien ist für den Asylantrag des Klägers aktuell zuständig.
Die Frist wurde durch das vom Kläger zugleich mit der Klage anhängig gemachte Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz gemäß Art. 29 Abs. 1 Satz 1 i.V.m Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO i.V.m. § 34 Abs. 2 Satz 2 AsylG unterbrochen und endete somit zunächst sechs Monate nach Wirksamwerden des Beschlusses im Sofortverfahren vom 24. Oktober 2017. Da dieser mit der Zustellung an die Parteien am 30. Oktober 2017 wirksam wurde, endete die Überstellungsfrist am 30. April 2018.
Allerdings konnte die Beklagte die Überstellungsfrist mit Schreiben an die italienischen Behörden vom 18. April 2018 zumindest um weitere sechs Monate verlängern. Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO kann die Überstellungsfrist auf höchstens 18 Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Diese Voraussetzung ist hier gegeben. Überwiegend wird in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten, dass unter „flüchtig“ ein planvolles und vorsätzliches unentschuldigtes Vorgehen zu verstehen ist, wenn auch ein Untertauchen im engeren Sinne nicht erforderlich ist (vgl. Funke-Kaiser, GK-AsylG, Stand April 2017, § 29 Rn. 251 m.w.N.). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof definiert in seinem Beschluss vom 29. April 2016 – 11 ZB 16.50024 – juris, den Begriff „flüchtig“ als jede Form eines unbekannten Aufenthalts, mit der sich der Betroffene vorsätzlich und unentschuldigt seiner Abschiebung entzieht. Im vorliegenden Fall wurde dem Kläger am 10. April 2018 ein Schreiben vom 29. März 2018 übergeben, das ihn darüber informiert, dass er am 17. April 2018 nach Italien überstellt werden soll und er sich aus diesem Grund ab dem 16. April 2018, 23.30 Uhr, in seiner Unterkunft aufhalten soll. Der Kläger hat sich bewusst der Überstellung nach Italien durch die Deutschen Behörden entzogen, indem er zu der ihm angekündigten Zeit nicht in seiner Unterkunft angetroffen werden konnte. Dabei ist es unerheblich, an welchem anderen Ort er sich zu dieser Zeit aufgehalten hat.
Diesem Ergebnis steht auch die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (B.v. 16.5.2018 – 20 ZB 18.50011 – juris) nicht entgegen, die zu einem Fall ergangen ist, bei dem der Überstellungstermin dem Betroffenen nicht angekündigt worden war. Entgegen der Ansicht der Klägervertreterin ist auch zu dem Urteil des Verwaltungsgerichts Würzburg vom 29. Januar 2018 – W 1 K 17.50166 – juris, kein Widerspruch erkennbar. Dieser Entscheidung kann in diesem Zusammenhang nur entnommen werden, dass im Rahmen der Ermessensausübung die Überstellungsfrist zunächst nur auf weitere sechs Monate verlängert werden darf, aber nicht, dass jegliche Gewährung von Kirchenasyl eine Verlängerung der Überstellungsfrist verhindern würde. Da bis zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung noch keine sechs Monate seit der Entscheidung über die Verlängerung der Überstellungsfrist verstrichen sind, muss darauf nicht weiter eingegangen werden.
1.2 Es liegt auch kein Übergang der Zuständigkeit auf die Beklagte nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-VO vor.
Die Überstellung an Italien ist nicht rechtlich unmöglich im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Diese Vorschrift entspricht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (z.B. EuGH, U.v. 21.12.2011 – C 411/10 u.a. – juris). Danach ist die Überstellung eines Asylsuchenden an einen anderen Mitgliedsstaat nur dann zu unterlassen, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende im zuständigen Mitgliedsstaat systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der rücküberstellten Asylsuchenden im Sinne von Art. 4 GK-Charta zur Folge hätten.
Das Gericht geht auf der Grundlage der in das Verfahren einbezogenen Erkenntnismitteln davon aus, dass in Italien keine generellen systemischen Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen mit der Folge gegeben sind, dass Asylbewerber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt werden.
Das Gericht folgt der zutreffenden Begründung des angefochtenen Bescheides (§ 77 Abs. 2 AsylG) und führt ergänzend aus: In Italien existiert ein rechtstaatliches Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten. So können laut AIDA (Country Report Italy, Update 2016, S. 40) auch Dublin-Rückkehrer, deren Asylbegehren – wie mutmaßlich das des Klägers – nach dem Fernbleiben zum Befragungstermin bereits abgelehnt worden war, nach einer Überstellung im Dublin-Verfahren ohne weiteres die Wiederaufnahme ihres Asylverfahrens betreiben und einen neuen Anhörungstermin beantragen.
Die größten Probleme, denen sich Dublin-Rückkehrer nach einer Überstellung gegenübersehen, sind im Bereich der Aufnahmebedingungen zu verorten. Italien ist nach wie vor von einem starken Zustrom an Flüchtlingen betroffen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass sich der Kläger als Dublin-Rückkehrer in einer anderen Situation befindet als die auf dem Seeweg ankommenden Flüchtlinge in den sog. Hotspots an der italienischen Küste. Die von der Klägerbevollmächtigten zitierte Berichterstattung von Pro Asyl zu der Situation in diesen Hotspots ist für die individuelle Gefahrenprognose bezüglich der dem Kläger mutmaßlich in Italien drohenden Rechtsverletzungen schon nicht aussagekräftig.
Laut Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich geht aus einer Statistik des UNHCR hervor, dass 2017 bis zum 16. Juli 93.213 Bootsflüchtlinge in Italien gelandet seien, was zu einem Anstieg von 13.373 Personen im Vergleich zum Vorjahreszeitraum geführt habe (Länderinformationsblatt Italien, Stand: 30.11.2017, S. 5). Mit Stand Juni 2017 waren 194.809 Migranten in staatlichen italienischen Unterbringungseinrichtungen untergebracht (a.a.O.). Italien hat seine Unterbringungskapazitäten in den letzten drei Jahren massiv gesteigert (a.a.O., S. 14). Es kam jedoch in der Vergangenheit mehrfach vor, dass Dublin-Rückkehrer nach ihrer Überstellung mehrere Tage am Flughafen (ohne Schlafplätze) verbringen mussten, bis sie in einer Unterkunft untergebracht werden konnten (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 14). Auch aktuell konstatiert AIDA (a.a.O., 64), dass Dublin-Rückkehrer bei einer Wiedereinreise nicht ausreichend über die Möglichkeiten zur Wiederaufnahme des Asylverfahrens und den Zugang zu Unterbringungsmöglichkeiten informiert werden. Während das österreichische Bundesamt auf der Grundlage der Erfahrungen eines Verbindungsbeamte bei der Überstellung einer Familie keine Defizite bei den Informations- und Übersetzungsangeboten bei der Ankunft am Flughafen feststellen konnte (a.a.O., S. 22), führt AIDA aus, dass die Dauer bis zu einer Unterbringung von Dublin-Rückkehrern nach ihrer Ankunft am Flughafen oft zu lang sei, jedoch nicht einheitlich beurteilt werden könne. Grund seien Engpässen bei den Aufnahmeeinrichtungen und die Fragmentierung des Unterbringungssystems (a.a.O.). Für Dublin-Rückkehrer, die wie der Kläger vor ihrer Ausreise in Italien bereits in einer Aufnahmeeinrichtung untergebracht waren, komme erschwerend hinzu, dass ihnen der Auszug aus der Unterkunft vor ihrer Ausreise als Verzicht auf die Unterbringung ausgelegt werden könne und ihnen der erneute Zugang zu Unterbringungseinrichtungen verweigert würde (AIDA, a.a.O., S. 65). Dabei müssten jedoch die konkreten Bedingungen des Einzelfalls geprüft werden. Gegen eine solche Ablehnung stehe den Betroffenen der Rechtsweg offen, wobei sie kostenlose Rechtsberatung in Anspruch nehmen könnten (AIDA, a.a.O., S. 67). In der Praxis sei die (weiteren) Unterbringung vorwiegend bei Asylbewerbern abgelehnt worden, die sich im Vorfeld an Protesten gegen die Unterbringungsbedingungen beteiligt hätten. Auch im Hinblick auf das parallel zum staatlichen Unterbringungssystem bestehende Netzwerk an kirchlich oder sonst gemeinnützig betriebenen Unterbringungseinrichtungen (dazu: AIDA, a.a.O., S. 72) erreicht das Risiko für den Beklagten, bei einer Wiederaufnahme seines Asylverfahrens auch mittelfristig keine Unterkunft zu finden und ohne jede Anlaufstelle auf der Straße zu verelenden, deshalb nicht das für die Annahme von systemischen Mängeln ausreichende Maß. Grundsätzlich erhalten Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft, medizinische Behandlung und sonstige Versorgung. Sofern es nach wie vor dazu kommt, dass vulnerable Personen wie Familien mit kleinen Kindern oder andere der Personen mit besonderen Bedürfnissen nach einer Überstellung nicht angemessen untergebracht werden (vgl. die Fallbeispiele in: Danish Refugee Council/Schweizer Flüchtlingshilfe, Is mutual trust enough? The situation of persons with special reception need upon return to Italy, 9. Februar 2017) gehört der Kläger als alleinstehender junger Mann ohne ärztlich nachgewiesene Einschränkungen gerade nicht zum betroffenen Kreis der vulnerable Personen.
Ausgehend von diesen rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten ist nicht erkennbar, dass die italienische Asylverfahrenspraxis bzw. die dortigen Aufnahmebedingungen regelhaft die Grenzen des europäischen Rechts überschreiten würden.
Zudem ist weder substantiiert dargelegt worden noch sonst erkennbar, dass gerade der Kläger bei einer Rückkehr nach Italien mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung unterworfen würde. Dies gilt auch im Hinblick darauf, dass der Kläger in Italien weder auf verwandtschaftliche Hilfe noch auf ein soziales Netzwerk zurückgreifen kann. Jedenfalls wenn er sich dem Asylsystem in Italien unterwirft, hat er im Falle einer Überstellung nach Italien als Asylbewerber Anspruch auf Unterbringung und Verpflegung, dessen Erfüllung – wie bereits ausgeführt – auch zur Überzeugung des Gerichts hinreichend gesichert ist.
Mithin bleibt es bei der Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers, so dass der Asylantrag des Klägers gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit.a) Dublin III-VO unzulässig ist.
2. Auch die in Ziffer 2 enthaltene Feststellung, dass keine Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen, ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Gemäß § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist in Entscheidungen über unzulässige Asylanträge festzustellen, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen. Anhaltspunkte für das Vorliegen besonderer – in der Person des Klägers liegender – rechtlicher Abschiebungshindernisse sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
3. Ferner bestehen auch gegen die Abschiebungsanordnung in Ziffer 3 des verfahrensgegenständlichen Bescheides keine rechtlichen Bedenken. Zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung sind keine Gründe ersichtlich, die rechtlich oder tatsächlich gegen die Durchführbarkeit der Abschiebung sprechen.
4. Ermessensfehler bei der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots in Ziffer 4 des Bescheides sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
5. Damit erweist sich der verfahrensgegenständliche Bescheid vom 5. September 2017 insgesamt als rechtmäßig. Die Klage war damit vollständig abzuweisen.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen