Europarecht

Unzulässigkeit eines Asylantrags wegen Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Bulgarien

Aktenzeichen  1 C 35/19

Datum:
17.6.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2020:170620U1C35.19.0
Normen:
§ 26a AsylVfG 1992
§ 29 Abs 1 Nr 3 AsylVfG 1992
§ 29 Abs 1 Nr 2 AsylVfG 1992
§ 29 Abs 2 AsylVfG 1992
§ 34a AsylVfG 1992
§ 35 AsylVfG 1992
§ 37 Abs 1 AsylVfG 1992
§ 77 Abs 1 S 1 AsylVfG 1992
§ 60 Abs 1 AufenthG
§ 60a Abs 2c AufenthG
Art 33 EURL 32/2013
Art 34 EURL 32/2013
Art 20ff EURL 95/2011
Art 20 EURL 95/2011
Art 4 EUGrdRCh
§ 108 VwGO
§ 28 VwVfG
§ 47 VwVfG
Spruchkörper:
1. Senat

Leitsatz

1. Sicherer Drittstaat im Sinne des § 29 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 26a AsylG kann bei der gebotenen unionsrechtskonformen Auslegung dieser Regelung nur ein Staat sein, der nicht Mitgliedstaat der Europäischen Union ist (wie BVerwG, Vorlagebeschluss vom 23. März 2017 – 1 C 17.16 – BVerwGE 158, 271 und Urteil vom 21. April 2020 – 1 C 4.19 -).
2. Die Rechtmäßigkeit einer Unzulässigkeitsentscheidung wegen bereits erfolgter Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat setzt in unionsrechtskonformer Einschränkung des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG voraus, dass den Antragsteller in dem Mitgliedstaat, der den Schutz gewährt hat, keine Lebensumstände erwarten, die einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC gleichkommen (wie BVerwG, Urteil vom 21. April 2020 – 1 C 4.19 – im Anschluss an EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a. – und Beschluss vom 13. November 2019 – C-540/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:964], Hamed u.a.).
3. Systemische Mängel des Asylverfahrens im Mitgliedstaat der (Erst-)Anerkennung und der Umstand, dass die Lebensverhältnisse für anerkannte Schutzberechtigte dort nicht den Bestimmungen der Art. 20 ff. der (Anerkennungs-)Richtlinie 2011/95/EU gerecht werden, ohne dass dies zu einer Verletzung von Art. 4 GRC führt, stehen einer Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht entgegen (wie BVerwG, Urteil vom 20. Mai 2020 – 1 C 34.19 -).

Verfahrensgang

vorgehend Hessischer Verwaltungsgerichtshof, 4. November 2016, Az: 3 A 1322/16.A, Urteilvorgehend VG Wiesbaden, 21. Juli 2015, Az: 2 K 1757/14.WI.A, Urteil

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 4. November 2016 aufgehoben, soweit es Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides vom 24. November 2014 betrifft.
Insoweit wird die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein 1978 geborener syrischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen die Feststellung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt), dass ihm aufgrund seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht.
2
Dem Kläger wurde im April 2014 in Bulgarien die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Mitte 2014 reiste er nach Deutschland weiter und stellte hier im Juli 2014 beim Bundesamt erneut einen Asylantrag. Ein Wiederaufnahmegesuch lehnte die bulgarische Flüchtlingsbehörde im Oktober 2014 unter Hinweis auf die dem Kläger in Bulgarien zuerkannte Flüchtlingseigenschaft ab. Mit Bescheid vom 24. November 2014 stellte das Bundesamt ohne inhaltliche Prüfung des Asylantrags fest, dass dem Kläger aufgrund seiner Einreise aus Bulgarien als einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht (Ziffer 1), und ordnete dessen Abschiebung nach Bulgarien an (Ziffer 2).
3
Ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hatte beim Verwaltungsgericht keinen Erfolg. Im Mai 2015 wurde der Kläger nach Bulgarien abgeschoben. Die gegen den Bescheid erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 21. Juli 2015 ab. Nach Wiedereinreise des Klägers ordnete der Verwaltungsgerichtshof Kassel mit Beschluss vom 10. März 2016 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung an und begründete dies u.a. mit Zugangsschwierigkeiten im Hinblick auf eine erforderliche medizinische Behandlung des Klägers in Bulgarien. Mit Urteil vom 4. November 2016 hob es den Bescheid der Beklagten vom 24. November 2014 auf. Zur Begründung wurde ausgeführt, bei unions- und menschenrechtskonformer Auslegung stünden § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG und die Unzulässigkeitsregelungen in § 29 Abs. 1 AsylG der Durchführung eines weiteren Asylverfahrens im Bundesgebiet nicht entgegen, wenn im Mitgliedstaat der (Erst-)Anerkennung aufgrund systemischer Mängel im Asylsystem elementare Rechte der Schutzberechtigten nicht gewährleistet würden, die sich insbesondere aus Kapitel VII der (Anerkennungs-)Richtlinie 2011/95/EU ergäben. Könne ein Flüchtling nicht in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat zurückkehren, weil dort die Lebensbedingungen für Flüchtlinge gegen die Mindeststandards des gemeinsamen europäischen Asylsystems sowie von Art. 4 GRC verstießen, müsse ihm die erneute Durchführung eines Verfahrens auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Bundesgebiet ermöglicht werden, da er nur so die ihm als Flüchtling zustehenden Aufenthalts- und Teilhaberechte erhalten könne. Bulgarien verletze in fundamentaler Weise seine Verpflichtungen aus Art. 20 ff. Richtlinie 2011/95/EU. Es fehle nach wie vor an einem funktionierenden und ausreichend finanzierten Integrationsprogramm für anerkannte Schutzberechtigte. Da der Kläger weder nach Syrien noch nach Bulgarien abgeschoben werden könne, sei ihm die Durchführung eines Asylverfahrens in Deutschland zu ermöglichen. Die prekäre Situation anerkannter Flüchtlinge in Bulgarien werde durch den Vortrag des Klägers bestätigt, der nach seiner Abschiebung in Bulgarien keinerlei humanitäre Hilfe erhalten habe. Auch die Abschiebungsanordnung sei rechtswidrig, weil eine (nochmalige) Abschiebung sowohl wegen der ungeklärten Übernahmebereitschaft Bulgariens als auch wegen der dargelegten systemischen Mängel unmöglich sei. Letzteres gelte im Falle des Klägers insbesondere im Hinblick auf den fehlenden Zugang zu erforderlicher medizinischer Behandlung. In diesem Zusammenhang wurde auf die Ausführungen im Eilverfahren verwiesen.
4
Die Beklagte wendet sich mit der Revision gegen die Aufhebung der Entscheidung in Ziffer 1 ihres Bescheids.
5
Mit Beschlüssen vom 2. August 2017 und 17. April 2019 – BVerwG 1 C 2.17 – hat der Senat das Verfahren ausgesetzt und eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) zur Auslegung der Ermächtigung in Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2013/32/EU bzw. der Vorgängerregelung in Art. 25 Abs. 2 Buchst. a Richtlinie 2005/85/EG und zu Art. 4 GRC eingeholt. Der EuGH hat zu diesen Fragen mit Urteil vom 19. März 2019 – C-297/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:219], Ibrahim u.a. – sowie dem im vorliegenden Verfahren ergangenen Beschluss vom 13. November 2019 – C-540/17 u.a. [ECLI:EU:C:2019:964], Hamed u.a. – entschieden.
6
Die Beklagte trägt im fortgesetzten Revisionsverfahren im Wesentlichen vor: Nach Klärung durch den EuGH begründe allein das Fehlen eines Integrationsprogramms in dem Mitgliedstaat, der internationalen Schutz zuerkannt habe, keine mit Art. 4 GRC unvereinbare Lage für Schutzberechtigte. Schwachstellen verstießen nur dann gegen das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung, wenn sie eine “besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit” erreichten. Dies hänge von sämtlichen Umständen des Falles ab einschließlich der persönlichen Möglichkeiten des Schutzberechtigten. Da das Berufungsgericht hierzu keine konkreten Feststellungen getroffen habe, sei der Rechtsstreit an dieses zurückzuverweisen. Soweit das Berufungsgericht ergänzend anmerke, dass die prekäre Situation in Bulgarien durch den klägerischen Vortrag bestätigt werde, leite es hieraus nicht entscheidungstragend ab, dass der Kläger aufgrund in seiner Person liegender Gründe gehindert wäre, durch eigene Bemühungen einer drohenden Obdachlosigkeit zu entgehen. Die Eilrechtsschutzgewährung beruhe auf einer summarischen Prüfung, und die vom Kläger im Berufungsverfahren vorgelegte psychologische Bescheinigung genüge nicht zum Nachweis einer relevanten Gesundheitsbeeinträchtigung.
7
Der Kläger verteidigt die Entscheidung des Berufungsgerichts.

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