Aktenzeichen RN 14 E 20.50264
AsylG § 34a Abs. 1
VO (EU) Nr. 604/2013 Art. 27 Abs. 4, Art. 29 Abs. 1 S. 1
VO (EU) Nr. 118/2014 Art. 9 Abs. 2 S. 1
Leitsatz
1. Bei Personen, die sich ins Kirchenasyl begeben haben, besteht grds. die Möglichkeit zur Überstellung, sodass eine behördliche Aussetzungsentscheidung die 6-monatigen Überstellungsfrist nicht unterbricht. (Rn. 30 – 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Verzichtet der Staat bewusst auf die zwangsweise Durchsetzung von Entscheidungen, obwohl ihm der Vollzug möglich wäre, so ist ein vernünftiger und anerkennenswerter Grund für die Verlängerung der Vollzugsfrist nicht erkennbar. (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung aufgegeben, der für den Antragsteller zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass eine Abschiebung des Antragstellers in die Schweiz aufgrund der Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamtes vom 31.10.2019 (Gesch-Z. …) vorläufig nicht vollzogen werden darf.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des Eilrechtsschutzes gegen die Vollziehbarkeit einer Abschiebungsanordnung in einem bestandskräftigen Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt).
Der Antragsteller, ein Staatsangehöriger Eritreas, reiste nach eigenen Angaben am 14.10.2019 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte am 14.10.2019 ein Asylgesuch, von dem das Bundesamt durch behördliche Mitteilung am 14.10.2019 schriftlich Kenntnis erlangte. Am 25.10.2019 stellte der Antragsteller einen förmlichen Asylantrag.
Nach Erkenntnissen der Antragsgegnerin lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates (die Schweiz) gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 des europäischen Parlaments und des Rates (Dublin-III-VO) vor. Auf ein Übernahmeersuchen vom 29.10.2019 erklärten die Schweizer Behörden mit Schreiben vom 30.10.2020 ihre Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylantrags des Antragstellers gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d der Dublin-III-VO.
Mit Bescheid vom 31.10.2019 lehnte die Antragsgegnerin daraufhin den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab und ordnete die Abschiebung in die Schweiz an. Außerdem wurde in den Bescheid festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen.
Der Antragsteller erhob am 6.11.2019 beim Verwaltungsgericht Regensburg Klage gegen diesen Bescheid, die unter dem Aktenzeichen RN 5 K 19.51016 geführt wurde. Ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz wurde nicht gestellt. Nach einer Mitteilung des Bevollmächtigten des Antragstellers an die Antragsgegnerin begab sich der Antragsteller am 15.1.2020 in der katholischen Kirchengemeinde … in …, …, … in das Kirchenasyl.
Mit Schreiben vom 13.2.2020 wies die Antragsgegnerin den Bevollmächtigten des Antragstellers darauf hin, dass für den Fall, dass sich der Antragsteller ab dem 17.2.2020 weiterhin im Kirchenasyl befinde, die Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach Art. 27 Abs. 4 Alt. 1 der Dublin-III-VO i.V.m. § 80 Abs. 4 VwGO bis zur rechtskräftigen Entscheidung des Verfahrens in der Hauptsache ausgesetzt werde. Die Aussetzung entfalle, sobald der Antragsteller das Kirchenasyl vor einer Entscheidung in der Hauptsache verlasse. Der sachliche Grund für eine Aussetzung liege darin, dass sich der Antragsteller entgegen der ausdrücklichen Vorgaben und dem Geiste der Vereinbarung des Bundesamtes mit den Kirchen weiterhin im Kirchenasyl befinde, obwohl das Bundesamt eine humanitäre Härte nicht habe feststellen können. Im Ergebnis liege daher ein hinreichender, sachlich rechtfertigender Anlass für eine behördliche Aussetzung vor. Gründe, weshalb eine Aussetzung rechtsmissbräuchlich sein könnten, lägen nicht vor. Der Antragsteller habe selbst durch den Gang in das Kirchenasyl und das Durchlaufen des Kirchenasylverfahrens des Bundesamts eine Verfahrensverzögerung in Kauf genommen. Anhaltspunkte für Interessen des zuständigen Mitgliedsstaates an einer zeitnahen Überstellung lägen nicht vor und seien weder von dem Antragsteller noch vom Mitgliedstaat vorgetragen worden.
Mit Schreiben vom 19.2.2020 teilte die Antragsgegnerin dem Verwaltungsgericht Regensburg mit, dass die Vollziehung der Abschiebungsanordnung nach Art. 27 Abs. 4 Alt. 1 der Dublin-III-VO i.V.m. § 80 Abs. 4 VwGO bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache ausgesetzt werde. Die Aussetzung entfalle, sobald der Antragsteller das Kirchenasyl vor einer Entscheidung in der Hauptsache verlasse. Der Antragsteller habe das Kirchenasyl nach der ablehnenden Härtefallentscheidung trotz entsprechender Aufforderung des Bundesamtes nicht bis zum 14.2.2020 verlassen.
Den Schweizer Behörden wurde mit Schreiben vom 19.2.2020 mitgeteilt, dass eine Überstellung derzeit nicht möglich sei, weil ein Rechtsmittel mit aufschiebender Wirkung vom 17.2.2020 existiere. Weitere Mitteilungen an die Schweizer Behörden erfolgten nicht.
Mit der am 26.3.2020 bei Gericht eingegangenen Erklärung wurde die Klage im Verfahren RN 5 K 19.51016 zurückgenommen, das Verfahren wurde mit Beschluss vom 17.4.2020 eingestellt.
Mit Schreiben des Antragstellervertreters vom 5.6.2020 wurde beantragt, das abgeschlossene Verfahren wieder aufzugreifen und im nationalen Verfahren über den Asylantrag des Antragstellers zu entscheiden. Eine Änderung der Sachoder Rechtslage ergebe sich aus der Tatsache, dass die Frist für eine Überstellung in die Schweiz abgelaufen sei. Gemäß Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO erfolge die Überstellung aus dem ersuchenden Mitgliedstaat spätestens innerhalb einer Frist von 6 Monaten nach der Annahme des Aufnahmeoder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Prüfung, wenn diese gemäß Art. 27 Abs. 3 Dublin-III-Verordnung aufschiebende Wirkung habe. Werde die Überstellung nicht binnen dieser Frist durchgeführt, sei der ersuchte Mitgliedstaat gemäß § 29 Abs. 1 S. 1 Dublin-III-Verordnung nicht mehr zur Aufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit gehe auf den ersuchenden Mitgliedstaat über. Hiernach sei die Bundesrepublik Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig geworden. Daran ändere auch die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung unter Berufung auf § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin-III-VO nichts. Die Anwendung von Art. 27 Abs. 4 der Dublin-III-VO widerspräche offenkundig dem der Dublin-III-VO zugrunde liegenden Beschleunigungsgebot.
Am 23.6.2020 stellte der Antragsteller persönlich beim Bundesamt einen Asyl-Folgeantrag.
Mit Bescheid vom 20.7.2020 lehnte die Antragsgegnerin den Antrag auf Abänderung des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 31.10.2019 (Az. …) ab. Die Schweiz sei für die Bearbeitung des Asylantrages aufgrund des dort bereits gestellten und abgelehnten Asylantrages nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin-III-VO zuständig. Es lägen keine Gründe für eine Rücknahme des Bescheides vom 31.10.2019 gemäß § 48 VwVfG vor und auch keine Gründe für die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder 7 Satz 1 AufenthG.
Am 27.7.2020, bei Gericht eingegangen am gleichen Tag, erhob der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten Klage gegen den Bescheid, die bei Gericht unter dem Aktenzeichen RN 14 K 20.50265 geführt wird. Zeitgleich wurde ein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt.
Für den Antragsteller wird sinngemäß beantragt,
die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der für die Überstellung des Antragstellers zuständigen Ausländerbehörde unverzüglich mitzuteilen, dass der Antragsteller bis zu einer Entscheidung im Klageverfahren nicht auf der Grundlage der Abschiebungsanordnung im Bescheid des Bundesamts vom 31.10.2019 (Az. …-224) in die Schweiz überstellt werden darf.
Die Antragsgegnerin hat bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts keinen Antrag gestellt.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten in diesem, im Hauptsacheverfahren (RN 14 K 20.50265) und im Erstverfahren (RN 5 K 19.51016) sowie auf die Akten des Bundesamts im Erst- und im Folgeverfahren, die dem Gericht in elektronischer Form vorgelegen haben, Bezug genommen.
II.
Der Eilrechtsschutzantrag hat Erfolg.
Dem Antragsteller geht es darum, im Wege des Eilrechtsschutzes eine mögliche Abschiebung in die Schweiz zunächst zu verhindern. Dieses Ziel ist nach Auffassung des zur Entscheidung berufenen Einzelrichterin – wie vom Antragsteller beantragt – im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 VwGO zu erreichen. Ein so verstandener Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist zulässig und begründet.
Im streitgegenständlichen Bescheid vom 20.7.2020 wurde aufgrund der Regelung im bestandskräftigen Bescheid vom 31.10.2019 keine erneute Abschiebungsanordnung erlassen. Da die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 31.10.2019 bestandskräftig ist, kann ein Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO zulässigerweise nicht mehr gestellt werden. Vorläufiger Rechtsschutz kann nur durch einen Antrag nach § 123 VwGO auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gewährt werden.
Ist eine Abschiebungsanordnung, die einen belastenden Verwaltungsakt im Sinne des § 35 Satz 1 VwVfG darstellt, bereits unanfechtbar und damit bestandskräftig geworden und will der Betroffene eine nachträgliche Veränderung der Sach- oder Rechtslage – hier den Ablauf der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Dublin-III-VOgeltend machen, muss er in unmittelbarer Anwendung des § 51 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 VwVfG einen Antrag beim Bundesamt auf Wiederaufgreifen des Verfahrens stellen und im Hauptsacheverfahren gegebenenfalls im Wege der Verpflichtungsklage eine Sachentscheidung erzwingen (BayVGH, B. V. 21.4.2015 – VGH 10 CE 15.810 – juris). Zur Sicherung dieses Anspruchs kann der Betroffene im Wege einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO vorläufigen Rechtsschutz beantragen (VG Düsseldorf, B.v. 14.2.2020 – 12 L 3326/19.A – juris; VG Würzburg, B. v. 13.11.2019 – W 10 S 19.50372 – juris).
Der Antrag ist auch begründet. Gemäß § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Gemäß § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung).
Im Hinblick auf die durch Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete Garantie effektiven Rechtsschutzes ist der Antrag begründet, wenn der geltend gemachte Anspruch hinreichend wahrscheinlich ist (Anordnungsanspruch) und es dem Antragsteller schlechthin unzumutbar ist, das Ergebnis des Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund). Diese Voraussetzungen sind gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO glaubhaft zu machen.
Dabei stellt das Gericht in Streitigkeiten nach dem AsylG auf die Sachund Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung ab (§ 77 Abs. 1 S. 1 HS. 2 AsylG).
Die Abschiebungsanordnung in die Schweiz gemäß § 34 a AsylG im Bescheid des Bundesamts vom 31.10.2019 ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts aller Voraussicht nach aufzuheben, weil sie aufgrund geänderter Umstände rechtswidrig geworden ist. Die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sachoder Rechtslage hat sich nachträglich zugunsten des Antragstellers geändert. Deutschland ist inzwischen für die Prüfung des Asylantrags nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO zuständig geworden.
Nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO ist der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der in Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO geregelten Frist von 6 Monaten nach Entstehen der Aufnahmeoder Wiederaufnahmeverpflichtung durchgeführt wird. Dies ist vorliegend der Fall. Die Überstellung wurde nicht innerhalb der Frist von 6 Monaten durchgeführt. Diese Frist, die mit der Zustimmungserklärung der Schweizer Behörden vom 30.10.2019 zu laufen begann, endete am 30.4.2020.
Der Antragsteller kann sich auf diesen Fristablauf auch berufen. Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 Dublin-III-VO schützt subjektive Rechte des Antragstellers.
Die 6- monatige Überstellungsfrist wurde nicht durch einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung unterbrochen. Ein solcher Antrag lag zu keinem Zeitpunkt vor. Die vom Antragsteller rechtzeitig erhobene Klage hat keine aufschiebende Wirkung, sodass sie die laufende Überstellungsfrist nicht unterbrochen hat.
Die Überstellungsfrist wurde auch nicht durch eine vom Bundesamt vorübergehend angeordnete rechtmäßige Aussetzung der Vollziehung auf der Grundlage von § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art: 27 Abs. 4 Dublin-III-VO unterbrochen.
Nach Art. 27 Abs. 4 der Dublin-III-VO können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die zuständigen Behörden beschließen können, von Amts wegen tätig zu werden, um die Durchführung der Überstellung Entscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung auszusetzen. Diese unionsrechtlich vorgesehene Möglichkeit wird im nationalen Recht durch § 80 Abs. 4 VwGO eröffnet. Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO ist zwar grundsätzlich geeignet, die in Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO vorgesehene Überstellungsfrist zu unterbrechen (BVerwG, U.v. 8.1.2019 – 1 C 16.18 – juris; EuGH, U. v. 13.9.2017 – C-60/16 -), im vorliegenden Fall ist die Aussetzung der Vollziehung aber nicht rechtmäßigerweise erfolgt.
Das Bundesverwaltungsgericht hat sich in seinem Urteil vom 8.1.2019 (BVerwG, U. v. 8.1.2019 – 1 C 16/18 – juris, Rn. 26 ff.) damit auseinandergesetzt, welche Voraussetzungen für eine derartige behördliche Aussetzungsentscheidung erfüllt sein müssen. Dort heißt es:
„Mindestvoraussetzung einer behördlichen Aussetzungsentscheidung nach § 80 Abs. 4 VwGO ist, dass der Antragsteller einen Rechtsbehelf gegen die Abschiebungsanordnung eingelegt hat (Art. 27 Abs. 4 und Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO). Weitere Grenzen folgen aus dem von Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO angestrebten Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und andererseits dem Ziel zu verhindern, dass sich Asylbewerber durch Weiterwanderung den für die Prüfung ihres Asylbegehrens zuständigen Mitgliedstaat aussuchen (Verhinderung von Sekundärmigration) (BVerwG, Urteil vom 27. April 2016 – 1 C 24.15 – Buchholz 451.902 Europ. Ausl.- u. Asylrecht Nr. 82 Rn. 13). Der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist soll verhindern, dass Asylanträge monate- oder gar jahrelang nicht geprüft werden, zugleich soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass dem jeweiligen Mitgliedstaat keine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung steht, in der nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln sind (EuGH, Urteil vom 29. Januar 2009 – C-19/08 – Rn. 43 ff.) oder der Beschleunigungsgedanke zulasten eines effektiven Rechtsschutzes verwirklicht wird (vgl. § 27 Abs. 3 und 4 Dublin III-VO).
Eine behördliche Aussetzungsentscheidung darf hiernach auch unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen (so bereits BVerwG, Urteil vom 9. August 2016 – 1 C 6.16 – BVerwGE 156, 9 Rn. 18); dann haben die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes (s.a. Art. 46 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes ) erlaubt eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind. Das vorliegende Verfahren gibt dabei keinen Anlass zur abschließenden Klärung dieser Willkür- oder Missbrauchsschwelle; sie wird aber dann überschritten sein, wenn bei klarer Rechtslage und offenkundig eröffneter Überstellungsmöglichkeit die behördliche Aussetzungsentscheidung allein dazu dient, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte.“
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war im vorliegenden Fall nach Auffassung der zur Entscheidung berufenen Einzelrichterin kein Raum für die Aussetzung der Vollziehung gem. Art. 27 Abs. 4 Alt. 1 Dublin-III-VO iV.m. § 80 Abs. 4 VwGO. Grund für die Aussetzung der Vollziehung war ausweislich der Begründung des Bundesamts in den Schreiben vom 13.2.2020 und vom 19.2.2020 ausschließlich die Tatsache, dass sich der Antragsteller ins Kirchenasyl begeben hat und dieses auch nach der Härtefallentscheidung des Bundesamts nicht verlassen hat. Das Kirchenasyl führt allerdings nicht dazu, dass Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen würden. Auch bei Personen, die sich ins Kirchenasyl begeben haben, besteht die Möglichkeit zur Überstellung. Beim Institut des Kirchenasyl handelt es sich nicht um ein rechtlich vorgesehenes oder sonst anerkennenswert zulässiges Verfahren (VG Ansbach, U. v. 14.4.2016 – AN 6 K 15.31132 – BeckRS 2016, 45664), das eine Abschiebung rechtlich hindern würde. Der Staat begibt sich im Falle des Kirchenasyl vielmehr freiwillig seiner rechtlichen Handlungsinstrumente, indem er auf die grundsätzlich mögliche zwangsweise Durchsetzung einer Rücküberstellung im Falle des Kirchenasyl verzichtet. Diese Praxis geschieht im Respekt vor der gewachsenen Institution Kirche, aber nicht, weil ein Zugriff auf den Asylantragsteller rechtlich nicht möglich wäre (BVerwG, B. v. 8.6.2020 – 1 B 19/20 – juris, Rn. 6; VG Ansbach, U. v. 13.8.2019 – AN 17 K 17.50899 – juris Rn. 26 ff.). Die behördliche Aussetzungsentscheidung diente hier offenbar allein dazu, die Überstellungsfrist zu unterbrechen und so die Überstellung über einen Zeitraum von mehr als 6 Monaten hinaus zu ermöglichen. Dies ist allerdings nicht Sinn und Zweck der Möglichkeit zur Aussetzung der Vollziehung gemäß Art. 27 Abs. 4 Alt. 1 Dublin-III-VO i.V.m. § 80 Abs. 4 VwGO. Verzichtet der Staat bewusst auf die zwangsweise Durchsetzung von Entscheidungen, obwohl ihm der Vollzug möglich wäre, so ist ein vernünftiger und anerkennenswerter Grund für die Verlängerung der Vollzugsfrist nicht erkennbar. Diese im Hinblick auf die Frage, ob ein im Kirchenasyl befindlicher Asylbewerber als flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 Dublin-III-VO anzusehen ist, von der Rechtsprechung vertretene Auffassung (BVerwG, B. v. 8.6.2020 – 1 B 19/20 – juris; VG Ansbach, U. v. 13.8.2019 AN 17 K 17.50899 – juris), ist auf den hier vorliegenden Fall übertragbar.
Nach Auffassung der zur Entscheidung berufenen Einzelrichterin ist in diesem Fall die vom Bundesverwaltungsgericht angesprochene Willküroder Missbrauchschwelle überschritten, weil aufgrund der eindeutigen Rechtslage und offenkundig eröffneter Überstellungsmöglichkeit die behördliche Aussetzungsentscheidung allein dazu dient, die Überstellungsfrist zu unterbrechen, weil sie aufgrund behördlicher Versäumnisse ansonsten nicht (mehr) gewahrt werden könnte. Die durch die Aussetzung der Vollziehung erreichte Verlängerung der Überstellungsfrist widerspricht aber dem Ziel der Regelungen der Dublin-III-VO. Der Zuständigkeitsübergang nach Ablauf der Überstellungsfrist soll verhindern, dass Asylanträge monate-oder gar jahrelang nicht geprüft werden, zugleich soll das Ziel einer möglichst schnellen Prüfung nicht dazu führen, dass dem jeweiligen Mitgliedstaat keine zusammenhängende Überstellungsfrist von 6 Monaten zur Verfügung steht, in der nur noch die Überstellungsmodalitäten zu regeln sind (BVerwG, U. v. 8.1.2019 – 1 C 16/18 – juris Rn. 26; EuGH, U. v. 29.1.2009 – C- 19/08 – juris Rn. 43).
Nachdem vorliegend unionsrechtlich die Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollziehung nicht vorlagen, hat sich diese nach den Regelungen der Dublin-III-VO nicht auf den Ablauf der Überstellungsfrist ausgewirkt. Insbesondere hat die Aussetzungsentscheidung den Lauf der Überstellungsfrist im Sinne des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin-III-VO nicht unterbrochen. Die Zuständigkeit zur Prüfung des Antrags des Antragstellers auf internationalen Schutz ist aufgrund des Ablaufs des 6-monatigen Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen. Die Überstellungsfrist endete am 30.4.2020, ohne dass eine Überstellung erfolgt wäre.
Überdies bestünden auch deshalb Zweifel an einer wirksamen Verlängerung der Überstellungsfrist, da der ersuchenden Mitgliedstaat (die Bundesrepublik Deutschland) den nach ihrer Auffassung zuständigen Mitgliedstaat (die Schweiz) nicht vor Ablauf der 6-monatigen Überstellungsfrist unter Benennung der neuen Überstellungsfrist über die Verlängerung der Überstellungsfrist informiert hat.
Nach Art. 9 Abs. 2 Satz 1 der Durchführungsverordnung (EU) Nummer 118/2014 der Kommission vom 30.1.2014 zur Änderung der Verordnung (EG) Nummer 1560/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (DurchführungsVO) unterrichtet ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin-III-VO genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Frist von 6 Monaten ab dem Zeitpunkt der Annahme des Gesuchs um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betroffenen Person oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat vornehmen kann, den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist. Ansonsten fallen nach Art. 9 Abs. 2 Satz 2 DurchführungsVO die Zuständigkeit für die Behandlung des Antrags auf internationalen Schutz bzw. die sonstigen Verpflichtungen aus der Dublin-III-VO gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin-III-VO dem ersuchenden Mitgliedstaat zu. Erforderlich ist dabei, dass der zuständige Mitgliedstaat sowohl über die Verlängerung der Überstellungsfrist informiert wird als auch die neue Überstellungsfrist benannt wird (BayVGH, U. v. 14.11.2019 – 13a B 19.50029 – juris Rn. 30).
Aufgrund der vergleichbaren Interessenlage spricht einiges dafür, diese Vorschrift des Art. 9 Abs. 2 Satz 1 der DurchführungsVO, die nach ihrem Wortlaut nur für die Verlängerung der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Dublin-III-VO gilt, entsprechend auch im Falle der Aussetzung der Vollziehung gemäß Art. 27 Abs. 4 der Dublin-III-VO i.V.m. § 80 Abs. 4 VwGO anzuwenden. Dies brauchte vorliegend jedoch nicht entschieden zu werden, nachdem schon die Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollziehung nach Auffassung der zur Entscheidung berufenen Einzelrichterin nicht vorlagen.
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch auf Abschiebungsschutz glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 ZPO). Die Abschiebung des Antragstellers in die Schweiz ist rechtlich nicht mehr möglich, weil die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin-III-VO mittlerweile abgelaufen ist. Der Antragsteller kann sich auch auf diesen Fristablauf berufen.
Auch ein Anordnungsgrund wurde glaubhaft gemacht. Da nach Ansicht der Antragsgegnerin die Überstellungsfrist nicht abgelaufen ist und Überstellungen nach der infolge der COVID-19-Pandemie erfolgten Unterbrechung wieder aufgenommen wurden, muss der Antragsteller jederzeit mit der Überstellung dorthin rechnen.
Der Antrag hatte daher Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 VwGO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).