Aktenzeichen 7 K 128/16
Leitsatz
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
1.
Gründe
I.
Streitig ist, ob der Kläger ab Mai 2010 Anspruch auf Differenzkindergeld für seine drei in Polen lebenden Kinder hat. Der aus Polen stammende Kläger ist als selbständiger Handwerker in Deutschland tätig. Die Mutter seiner Kinder, mit der er nicht verheiratet ist, lebt mit den Kindern in Polen. Bis einschließlich April 2010 erhielt der Kläger laufend deutsches (Diffe-renz-)Kindergeld (vgl. Einspruchsentscheidung vom 24. Juli 2012 betreffend die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum März 2006 bis Dezember 2009).
Den erneuten Antrag des Klägers vom 30. Juli 2012 auf volles Kindergeld für die Zeit ab Mai 2010 lehnte die Familienkasse mit Bescheid vom 30. Juli 2012 ab. Der dagegen gerichtete Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 9. Juli 2014 als unbegründet zurückgewiesen. Die Familienkasse begründete ihre Entscheidung damit, dass gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 Einkommensteuergesetz (EStG) nur der Person Kindergeld gewährt würde, die das Kind in ihren Haushalt aufgenommen habe. Dies sei im Streitfall die Kindesmutter in Polen.
Mit der dagegen erhobenen Klage wiederholt und vertieft der Kläger sein Vorbringen aus dem Einspruchsverfahren. Mit Beschluss des Finanzgerichts vom 24. Oktober 2014 wurde das Ruhen des Verfahrens bis zu einer Entscheidung in dem beim Europäischen Gerichtshof anhängigen Verfahren C-378/14 angeordnet. Nach Ergehen des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 22. Oktober 2015 (C-378/14, DStRE 2015, 1501) wurde das Verfahren unter dem Aktenzeichen 7 K 128/15 wieder aufgenommen.
Der Kläger beantragt,
die Familienkasse unter Aufhebung des Bescheids vom 30. Juli 2012 und der Einspruchsentscheidung vom 9. Juli 2014 zu verpflichten, ihm ab Mai 2010 Differenzkindergeld für seine Kinder Julia, Jakub und Bartosz zu gewähren.
Die Familienkasse beantragt, die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf die Einspruchsentscheidung und die Urteile des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 4. Februar 2016 (III R 17/13) und vom 10. März 2016 (III R 62/12).
Wegen des weiteren Sachverhalts und hinsichtlich des rechtlichen Vortrags wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, auf die vorgelegten Unterlagen und Akten sowie auf das Verfahren 7 K 388/15 verwiesen.
II.
Die Klage ist unbegründet.
Der Kläger hat für die Zeiträume ab Mai 2010 keinen Anspruch auf (Differenz-)Kindergeld für seine in Polen lebenden Kinder.
Der in Deutschland wohnhafte Kläger erfüllt zwar die in §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 EStG genannten Voraussetzungen für den Bezug von Kindergeld für seine drei Kinder. Der Wohnsitz der Kinder in Polen ist hierfür unschädlich (vgl. § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
Der Anspruch steht jedoch gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig der Kindsmutter zu. Nach dieser Vorschrift wird bei mehreren Berechtigten das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat. Unstreitig leben die Kinder nicht im Haushalt des Klägers, sondern im Haushalt der Kindsmutter.
Der Umstand, dass die Kindsmutter mangels Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts im Inland nicht die Voraussetzungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG erfüllt, ist für ihren inländischen Kindergeldanspruch unschädlich. Dies ergibt sich aus der in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.9.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO Nr. 987/2009). Danach ist bezüglich des Rechts einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Diese Fiktion kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs dazu führen, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind. Die Regelung in Art. 60 Abs. 1 Satz 3 VO Nr. 987/2009, wonach der Antrag eines Elternteils als Antrag der berechtigten Person zu berücksichtigen ist, ist auch nicht dahingehend auszulegen, dass bei fehlender Antragstellung des Kindergeldberechtigten nunmehr der andere Elternteil einen Anspruch auf Kindergeld hätte (EuGH-Urteil vom 22.10.2015 C-378/14 „Trapkowski“, BFH/NV 2015, 1789).
Bis auf den Wohnsitz der Mutter im Inland sind alle übrigen Voraussetzungen erfüllt. Das nationale Recht verlangt im Übrigen für ein minderjähriges Kind allein die Elterneigenschaft, so dass in Fällen wie dem Streitfall, in dem ein Elternteil im Inland und der andere in Polen lebt, der Kindergeldanspruch des in Polen lebenden Elternteils vorrangig ist (BFH-Urteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13 und vom 10. März 2016 III R 62/12, Pressemitteilung des BFH vom 8. Juni 2016, www.bundesfinanzhof-de, vgl. auch Urteil des FG Münster vom 16. März 2016 7 K 79/15, juris web, FG Berlin-Brandenburg, Gerichtsbescheid vom 2. Dezember 2015 7 K 8038/15, juris web; Selder, HFR 2015, 1192).
Unter Berücksichtigung der neuesten Rechtsprechung des EuGH wäre das Kindergeld aufgrund der Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009, dem materiell-rechtliche Wirkung zukommt, der Mutter in Polen zu gewähren. Dies gilt selbst unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Mutter in Deutschland für den Streitzeitraum kein Kindergeld beantragt hat. Da auch hinsichtlich des Antrags auf Kindergeld eine Art Familienbetrachtung anzustellen ist, wäre das Kindergeld aufgrund des vom Kläger gestellten Antrags an die Mutter als Anspruchsberechtigte auszuzahlen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).