Aktenzeichen M 16 K 15.5630
Berufsordnung für die Ärzte (BO) § 10 Abs. 2 S. 1
BGB BGB § 242, § 630g Abs. 1 S. 1
Leitsatz
1 Die von der Bayerischen Ärztekammer am 25.10.2015 beschlossene Änderung der Berufsordnung (§ 10 Abs. 2 S. 1 BO) zur Einsicht in die Patientenakte kann von der Rechtsaufsicht nicht genehmigt werden, weil sie gegen höherrangiges Recht – § 630g Abs. 1 S. 1 BGB – verstößt. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Regelung des § 10 Abs. 2 S. 1 BO stellt als Gründe, die einer Einsichtnahme in die einen Patienten betreffende Dokumentation entgegenstehen können, erhebliche Rechte eines Arztes, erhebliche Rechte Dritter und therapeutische Gründe pauschal gleich. Dies widerspricht der Konzeption des § 630g Abs. 1 S. 1 BGB, nach der entgegenstehende Rechte eines Arztes nur höchst ausnahmsweise eine Verweigerung der Einsicht in die Patientenakte begründen können. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Verpflichtungsklage ist unbegründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die begehrte Genehmigung der vom 74. Bayerischen Ärztetag am 25. Oktober 2015 beschlossenen Änderung des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO. Der Bescheid des Beklagten ist – soweit in Nr. 2 angegriffen – rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).
I.
Der Beklagte hat die Genehmigung der Änderung der Berufsordnung zu Recht versagt, da die geänderte Fassung des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO gegen höherrangiges Recht, § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB, verstößt.
1. Rechtsgrundlage für die Verweigerung der Genehmigung ist § 20 des Gesetzes über die Berufsausübung, die Berufsvertretungen und die Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte, Zahnärzte, Tierärzte, Apotheker sowie der Psychologischen Psychotherapeuten und der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten (Heilberufe-Kammergesetz – HKaG). Nach dieser Vorschrift wird die Berufsordnung von der Landesärztekammer, der Klägerin, erlassen und bedarf der Genehmigung des Beklagten, Bayerisches Staatsministerium für Gesundheit und Pflege, § 16 Abs. 1 Satz 1 HkaG. Der Beklagte muss die Genehmigung für die Änderung des § 10 Abs. Satz 2 BO nach § 20 HkaG verweigern, wenn die Regelung gegen höherrangiges Recht verstößt. Ein Ermessen kommt dem Beklagten im Rahmen der Rechtsaufsicht nicht zu.
2. Die streitgegenständliche Norm verstößt gegen § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB. Die Regelung des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO nennt Gründe, die einer Einsichtnahme in die einen Patienten betreffende Dokumentation durch diesen selbst entgegenstehen können. § 10 Abs. 2 Satz 1 BO stellt – zweifelsfrei – erhebliche Rechte eines Arztes, erhebliche Rechte Dritter und therapeutische Gründen pauschal gleich. Dies widerspricht offensichtlich dem Wortlaut und der Konzeption des § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB, nach denen entgegenstehende Rechte eines Arztes nur höchst ausnahmsweise eine Verweigerung der Einsicht in die Patientenakte begründen können. Rechte eines Arztes sind nach der Regelung des § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB grundsätzlich gegenüber den Rechten Dritter und therapeutischen Gründen nachrangig und nur höchst ausnahmsweise zu beachten.
a. Zweifel an der Auslegung des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO bestehen aufgrund des eindeutigen Wortlauts nicht. Die Vorschrift des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO lässt dadurch, dass erhebliche Rechte Dritter, erhebliche therapeutische Gründe und erhebliche Rechte des Arztes nacheinander bzw. nebeneinander ohne irgendeine Differenzierung genannt werden, keine dahingehende Auslegung zu, dass die Rechte des behandelnden Arztes nur höchst ausnahmsweise einer Einsichtnahme entgegenstehen können. Ausgangspunkt einer jeden Auslegung einer Norm ist deren Wortlaut. Bleiben nach einer Auslegung nach dem Wortlaut einer Norm noch Zweifel, dann können etwa die Entstehungsgeschichte einer Norm oder deren Sinn und Zweck herangezogen werden. Auf die Entstehungsgeschichte des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO kommt es mangels Zweifeln bei der Auslegung nicht an – gleichwohl zeigen die Wortmeldungen während des 74. Bayerischen Ärztetag, auf dem die streitgegenständliche Änderung beschlossen wurde, dass entgegenstehende Rechte eines Arztes mit Rechten Dritter und therapeutischen Gründen gleichgesetzt werden sollen.
Unschädlich ist, dass § 10 Abs. 2 Satz 1 BO auf die „Dokumentation“ und § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB auf die „Patientenakte“ abstellt. Unter den Begriff „Patientenakte“ fällt die Sammlung aller patienten- und behandlungsbezogenen Unterlagen (Rehborn/Gescher in Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 630f, Rn. 1); mithin also die Dokumentation über den Patienten.
b. Der Wortlaut des § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB nennt Rechte des Arztes, die einer Einsichtnahme entgegenstehen könnten, nicht. Bereits hieraus folgt, dass entgegenstehende Rechte des Arztes offensichtlich nur höchst ausnahmsweise beachtlich sein sollen – sei es nun als ungeschriebene Ausnahme oder über den Rechtsgrundsatz „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB).
c. Aus der Gesetzesbegründung und der Entstehungsgeschichte des § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt sich auch deutlich, dass nach der Regelung im BGB nur höchst ausnahmsweise eine Einsichtverweigerung in die Patientenakte bzw. die Dokumentation bei entgegenstehenden Rechten eines Arztes möglich sein soll.
Der Gesetzgeber spricht in der Gesetzesbegründung zu § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB (BT-Drs. 17/10488, S. 27) davon, dass Niederschriften über persönliche Eindrücke des Behandelnden „grundsätzlich“ offen zu legen sind und dass ein begründetes Interesse an einer Einsichtverweigerung „im Regelfall“ nicht bestehe. Im Gegensatz dazu stellt der Gesetzgeber bei der Einsichtverweigerung aus therapeutischen Gründen und wegen der Rechte Dritter eine solche Regelvermutung und Grundsatzentscheidung in der Gesetzesbegründung gerade nicht auf (BT-Drs. 17/10488, S. 27).
Die Entstehungsgeschichte des § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB verdeutlicht ebenfalls die zurückgenommene Rechtsposition des Arztes: Zunächst sollte in § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB geregelt werden, dass Einsicht in die Patientenakte zu gewähren sei, soweit der Einsichtnahme nicht erhebliche therapeutische Gründe oder sonstige erhebliche Gründe entgegenstehen (BT-Drs. 17/10488, S. 6). Gleichwohl wurde damals bereits seitens des Deutschen Bundestags als Gesetzgeber davon ausgegangen, dass Rechte eines Arztes nur höchst ausnahmsweise zu berücksichtigen seien (siehe oben). Daran anschließend wurde im Ausschuss für Gesundheit des Deutschen Bundestags (14. Ausschuss) beschlossen, vorzuschlagen, die Passage „sonstige erhebliche Gründe“ abzuändern und auf „sonstige erhebliche Rechte Dritter“ abzustellen (BT-Drs. 17/11710, S. 10). Nach der Begründung für diesen Änderungsvorschlag sollte festgelegt werden, dass die Einsichtnahme nur dann versagt werden dürfe, soweit ihr „sonstige erhebliche Rechte Dritter“ entgegenstünden. Um noch deutlicher als bislang zum Ausdruck zu bringen, dass die Ausschlussgründe für das Recht auf Akteneinsicht eng gefasst seien, sei das Tatbestandsmal konkretisiert und auf die „sonstigen erheblichen Rechte Dritter“ bezogen worden. Die Intention der Regelung gelte fort (BT-Drs. 17/11710, S. 29). Die vom 14. Ausschuss vorgeschlagene Änderung des § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB wurde letztendlich in das BGB übernommen. Diese Gesetzgebungsgeschichte verdeutlicht, dass Rechte eines Arztes, die einer Einsichtnahme entgegenstehen sollen, nur höchst ausnahmsweise beachtlich sein sollen.
d. Auch nach der einschlägigen Kommentarliteratur zu § 630g BGB muss ein Arzt regelmäßig Einsichtnahme in Niederschriften seiner persönlichen Eindrücke oder subjektiven Wahrnehmungen betreffend die behandelte Person hinnehmen, da der Gesetzestext insoweit keine Ausnahme vorsieht. Die persönlichen Eindrücke und subjektiven Wahrnehmungen des Arztes vom Patienten sollen mithin angesichts des starken Schutzbedürfnisses von dessen grundrechtlich geschützten Informationsinteresse offenzulegen sein. Der Arzt soll sich ausnahmsweise im Einzelfall auf Schutz seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts berufen können. (Lafontaine in Herberger/Martinek/Rüßmann u. a., jurisPK-BGB, 7. Aufl. 2014, § 630g Rn. 59; Mansel in Jauernig, BGB, 16. Aufl. 2015, § 630g Rn. 9; Rehborn/Gescher in Erman, BGB, 14. Aufl. 2014, § 630g, Rn. 11).
e. Durch die von der Klägerin gewählte Formulierung des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO werden – wie aufgezeigt – die einer Einsichtnahme entgegenstehenden Rechte des Arztes mit den entgegenstehenden Rechten eines Dritten und therapeutischen Gründen gleichgestellt. Dies widerspricht der ausdrücklichen Regelung in § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB, die nach der Gesetzesbegründung und der zugrunde liegende Gesetzgebungsgeschichte sowie der einschlägigen Kommentarliteratur die Rechte des behandelnden Arztes mit einem niedrigeren Rang versieht als die entgegenstehenden Rechte Dritter und die entgegenstehenden therapeutischen Gründe. Entgegen der Ansicht der Klägerin kann die von ihr gewählte Formulierung „erhebliche Rechte des Arztes“ folglich nicht in Sinne des Regelungsgehalts des § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB ausgelegt werden. Es fehlt insoweit bereits an Anhaltspunkten in dem gewählten Wortlaut der Vorschrift des § 10 Abs. 1 Satz 1 BO. Die von dem Beklagten vorgeschlagene alternative Formulierung hingegen hätte die aufgezeigten Vorgaben erfüllt.
3. Die Klägerin meint, dass zwischen dem grundrechtlich geschützten Informationsinteresse des Patienten und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Arztes abzuwägen sei und dies im Wortlaut des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO zum Ausdruck komme. Darauf, dass eine Abwägung erforderlich ist und die Frage, ob diese Abwägung ausdrücklichen Niederschlag im Wortlaut des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO gefunden hat, kommt es jedoch nicht an. Der Gesetzgeber des § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB hat die Entscheidung getroffen, entgegenstehenden Rechten eines Arztes ein geringeres Gewicht – als etwa den Rechten Dritter – beizumessen. Diese Vorgabe des BGB kommt in § 10 Abs. 2 Satz 1 BO nicht zum Ausdruck. Das Erfordernis einer Abwägung wäre, wie aus der Gesetzesbegründung des § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB zumindest indirekt folgt, auch im Falle des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO jeweils dem Wort „erheblich“ zu entnehmen (BT-Drs. 17/10488, S. 27).
4. Soweit die Klägerin sich auf Art. 27 Abs. 3 Satz 4 des Bayerischen Krankenhausgesetzes bezieht, um die Neufassung des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO zu rechtfertigen, ist § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB als Bundesnorm auch vorrangig gegenüber Art. 27 Abs. 3 Satz 4 des Bayerischen Krankenhausgesetzes, einem Landesgesetz.
5. Darauf, dass zur streitgegenständlichen Regelung wortlautgleiche Berufsordnungen bereits in anderen Bundesländern von der Rechtsaufsicht genehmigt wurden bzw. geduldet werden, kommt es nicht an. Insoweit gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz nicht. Wieso die Rechtsaufsicht in anderen Bundesländern bislang nicht gegen zur streitgegenständlichen Regelungen vergleichbare Vorgaben vorgegangen ist, entzieht sich der Kenntnis des Gerichts. Vermutlich ist dieser Umstand auch der marginalen praktischen Bedeutung des § 10 Abs. 2 Satz 1 BO geschuldet: Ein Patient wird einen Auskunftsanspruch nach § 630g Abs. 1 Satz 1 BGB vor der Zivilgerichtsbarkeit geltend machen – § 10 Abs. 2 Satz 1 BO spielt als öffentlich-rechtliche Norm in diesem Zusammenhang keine Rolle, entscheidend sind alleine Vorgaben des BGB.
II.
Die Klägerin hat als unterlegene Beteiligte nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf §§ 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO).