Medizinrecht

Abschiebungshindernis wegen konkreter Suizidabsicht

Aktenzeichen  M 12 S7 16.50200

Datum:
11.3.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1, § 60a Abs. 2

 

Leitsatz

Konkrete Suizidabsichten, die aus fachärztlicher Sicht als ernsthaft einzuschätzen sind, sind geeignet, ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG zu begründen. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Unter Abänderung der Ziffer 1 des Beschlusses vom 29. Januar 2016 (M 12 S 15.50764) wird die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 19. August 2015 angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO ist zulässig und begründet.
Nach § 80 Abs. 7 Satz 1 und Satz 2 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben; je-der Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen.
Das Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO darf nicht als Rechtsmittelverfahren zu einer vorhergehenden Entscheidung verstanden werden. Es dient allein der Möglichkeit, einer nachträglichen Änderung der Sach- und Rechtslage Rechnung zu tragen. Prüfungsmaßstab für die Entscheidung ist daher allein, ob nach der jetzigen Sach- und Rechtslage die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist (vgl. BVerwG, B. v. 25.8.2008 – 2 VR 1/08 – juris; VGH BW, B. v. 16.12. 2001 – 13 S 1824/01 – juris; OVG NRW, B. v. 7.2.2012 – 18 B 14/12 – juris). Dasselbe gilt bei einer Veränderung der Prozesslage, etwa aufgrund neuer Erkenntnisse. Darüber hinaus müssen die geänderten Umstände geeignet sein, eine andere Entscheidung herbeizuführen (vgl. VG Augsburg, B. v. 30.9.2013 – Au 5 S 13.30305 – juris, Rn. 10; Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 80 Rn. 202 ff. m. w. N.).
Das Vorbringen des Antragstellers ist geeignet, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des Bundesamtes, nämlich den Antragsteller im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien zu überstellen, in Zweifel zu ziehen und eine Änderung des Beschlusses vom 29. Januar 2016 zu rechtfertigen.
Das Gericht ist zwar nach wie vor der Auffassung, dass bei einer Abschiebung nach Italien kein Verstoß gegen Art. 4 EU-Grundrechte-Charta (EU-GRCh) wegen dort vorhandener systemischer Mängel des Asylverfahrens gemäß der Rechtsprechung des EuGH (vgl. U. v. 21.11.2011 – Rs. C-411/10 – NVwZ 2012, 417) droht. Auf den Beschluss vom 29. Januar 2016 wird insoweit Bezug genommen.
Es ist davon auszugehen, dass Erkrankungen der diagnostizierten Art auch in Italien behandelt werden können und der Antragsteller Zugang zum italienischen Gesundheitssystem hat. Die medizinische Versorgung und Betreuung psychisch Kranker ist in Italien grundsätzlich möglich. In Italien können sich alle Ausländer beim Servizio Sanitario Nazionale melden und registrieren lassen. Dafür benötigen sie ihren Aufenthaltstitel, ihre Steuernummer, die sie bei der Agenzia delle Entrate erhalten, sowie eine feste Adresse. Selbst wenn kein fester Wohnsitz besteht, kann über Sammeladressen bei der Caritas eine entsprechende Anmeldung erreicht werden. Mit der Registrierung haben alle Zugang zu einem Allgemeinarzt und kostenloser Behandlung. Überweisungen an Spezialisten bzw. Fachärzte werden kostenlos übernommen. Eine ärztliche Versorgung ist im Allgemeinen auch gewährleistet, soweit es um die Behandlung von psychischen bzw. traumatischen Erkrankungen geht. Eine kostenfreie medizinische Versorgung steht dabei auch Personen zu, die nicht in einer staatlichen Unterkunft untergebracht sind. Die Notambulanz ist für alle Personen in Italien kostenfrei (vgl. VG Regensburg, B. v. 30.4.2014 – RN 5 S 14.50067, m.V.a. AA an das OVG Sachsen-Anhalt vom 21.1.2013).
Eine ausreichende medizinische Versorgung des Antragstellers ist daher jedenfalls dann gewährleistet, wenn die deutschen Behörden schon im Vorfeld der Überstellung Kontakt mit den italienischen Behörden aufnehmen und diese über die individuellen Bedürfnisse des Antragstellers informieren. Soweit dieser Informationsaustausch erfolgt, genügt der überstellende Staat grundsätzlich den Vorgaben der Europäischen Menschenrechtskonvention, so dass selbst bei Überstellung von besonders schutzbedürftigen Personen – wie etwa psychisch Kranken – nach Italien keine grundlegenden Einwände bestehen. (vgl. VG Augsburg, B. v. 27. Mai 2014 – Au 7 S 14.50094 – juris Rn. 61 zu Spanien).
Es ist derzeit aber nicht mit hinreichender Sicherheit zu klären, ob im Sinne des § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann.
Der Abschiebung stehen möglicherweise inlandsbezogene Abschiebungshindernisse gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegen (zur Prüfungspflicht des Bundesamtes vgl. BayVGH, B. v. 12.3.2014 – 10 CE 14.427).
Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist unter anderem gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinne), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche außerhalb des Transportvorgangs eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt und diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne; vgl. BayVGH, U. v. 18.10.2013 – 10 CE 13.1890 – juris). Ebenso kann eine konkrete, ernstliche Suizidgefährdung mit Krankheitswert zu einem Abschiebungshindernis führen (vgl. BayVGH, B. v. 8.2.2013 – 10 CE 12.2396 – juris Rn. 11).
Bei einer psychischen Erkrankung kann außer in Fällen einer eigentlichen Flugreise- bzw. Transportuntauglichkeit nur dann von einer Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne ausgegangen werden, wenn entweder im Rahmen einer Abschiebung die ernsthafte Gefahr einer Selbsttötung des Ausländers droht, der auch nicht durch ärztliche Hilfen oder in sonstiger Weise wirksam begegnet werden kann, oder wenn dem Ausländer unmittelbar durch die Abschiebung bzw. als unmittelbare Folge davon sonst konkret eine erhebliche und nachhaltige Verschlechterung des Gesundheitszustands droht, die allerdings – in Abgrenzung zu zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen – nicht wesentlich (erst) durch die Konfrontation des Betreffenden mit den Gegebenheiten im Zielstaat bewirkt werden darf. Ferner kann ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis aufgrund einer (auch psychischen) Erkrankung vorliegen, wenn dem Ausländer bei seiner Ankunft im Zielstaat eine Gefährdung im Sinne des oben aufgezeigten Maßstabs droht, weil es an einer erforderlichen, unmittelbar nach der Ankunft einsetzenden Versorgung und Betreuung fehlt.
Legt der Ausländer ärztliche Atteste bzw. Fachberichte über seine Reiseunfähigkeit vor, sind diese zu deren Beweis nur geeignet, wenn sie nachvollziehbar die zugrundeliegenden Befundtatsachen angeben, ggf. die Methode der Tatsachenerhebung benennen und nachvollziehbar die fachlich-medizinische Beurteilung bzw. Diagnose des Krankheitsbilds sowie die konkreten Folgen darlegen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich in Zukunft ergeben (prognostische Diagnose), wobei sich Umfang und Genauigkeit der erforderlichen Darlegung jeweils nach den Umständen des Einzelfalls richten (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U. v. 11.9.2007 – 10 C 17/07 – juris Rn. 15; BayVGH, B. v. 29.7.2014 – 10 CE 14.1523 – juris Rn. 21; B. v. 8.2.2013 – 10 CE 12.2396 – juris Rn. 13; B. v. 9.1.2012 – 10 CE 11.2044 – juris Rn. 9; OVG NRW, B. v.29.11.2010 – 18 B 910/10 – juris; VG Bayreuth, B. v. 4.11.2014 – B 3 E 14.734 – juris Rn. 33).
Hiervon ausgehend enthalten die nunmehr vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen vom … Februar 2016 und vom … März 2016 zumindest – aufklärungsbedürftige – Anhaltspunkte dafür, dass beim Antragsteller derzeit ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aufgrund krankheitsbedingter Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne vorliegen könnte. Beiden Attesten ist zu entnehmen, dass sich der Gesundheitszustand des Antragstellers zwischenzeitlich wesentlich verschlechtert hat. Den behandelnden Ärzten gegenüber hat der Antragsteller konkrete Suizidabsichten geäußert, die aus ärztlicher Sicht als ernsthaft einzuschätzen sind. Laut der fachpsychotherapeutischen Stellungnahme vom … Februar 2016 sei beim Antragsteller eine Suizidabsicht mit Krankheitswert festzustellen. Ferner ergibt sich aus den vorgelegten Attesten, dass der Antragsteller angegeben habe, in Italien Opfer von Gewalt geworden zu sein. Eine Rückführung nach Italien sei deshalb dem Attest vom … März 2016 zufolge derzeit nicht möglich, da der Antragsteller dann wieder an den Ort seiner Traumatisierung zurückkäme, was zu einer psychischen Dekompensation führen würde.
Nach derzeitigem Erkenntnisstand ist somit jedenfalls offen, ob durch eine Abschiebung nach Italien eine wesentliche Verschlechterung der beim Antragsteller nach den vorliegenden ärztlichen Attesten offenbar vorhandenen psychischen Erkrankung eintreten und sich dadurch die auf dieser Krankheit beruhende Selbstmordgefahr in einer Weise erhöhen wird, dass eine Abschiebung nicht verantwortet werden kann.
Im Rahmen der bei offenen Erfolgsaussichten vorzunehmenden allgemeinen Interessensabwägung überwiegt das Suspensivinteresse des Antragstellers das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin. Denn im Falle einer Abschiebung ist eine Gefährdung des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit des Antragstellers nicht ausgeschlossen. Dahinter hat das Vollzugsinteresse der Antragsgegnerin bis zur Entscheidung in der Hauptsache zurückzutreten.
Es wird im Hauptsacheverfahren insbesondere abschließend zu klären sein, ob und ggf. inwieweit im Fall des Antragstellers tatsächlich ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aufgrund krankheitsbedingter Reiseunfähigkeit bzw. Suizidalität gegeben ist. Hierzu dürfte eine amtsärztliche Untersuchung sowie ggf. die Einholung einer ergänzenden (fach-)ärztlichen Stellungnahme oder eines (fach-)ärztlichen Gutachtens angezeigt sein. Der Antragsteller ist insoweit gemäß § 82 Abs. 4 AufenthG zur Mitwirkung verpflichtet, insbesondere zur Duldung einer ärztlichen Untersuchung zur Feststellung der Reisefähigkeit (vgl. OVG LSA, B. v. 1.12.2014 – 2 M 119/14 – juris Rn. 8 f.).
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die mit diesem Beschluss neu getroffene Kostenentscheidung bezieht sich lediglich auf das Abänderungsverfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO. Die Kostenentscheidung des Beschlusses vom 29. Januar 2016 bleibt von der Aufhebung unberührt, da die Anordnung der aufschiebenden Wirkung mit diesem Beschluss aufgrund veränderter Umstände ex nunc erfolgt. Gerichtskosten werden nach § 83b AsylG nicht erhoben.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.

Jetzt teilen:

Ähnliche Artikel