Aktenzeichen L 20 VJ 7/15
IfSchG § 61
Leitsatz
1. Die Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, muss neben der Impfung und dem Impfschaden, d.h. der dauerhaften gesundheitlichen Schädigung, im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein. Eine irgendwie geartete Beweiserleichterung gibt es nicht.
2. Ein Rückgriff auf das Institut der Wahlfeststellung scheitert, wenn nicht beide in Betracht kommenden Tatbestandsvarianten zur Bejahung der Frage, ob ein Primärschaden vorliegt, führen.
Verfahrensgang
S 4 VJ 1/13 2015-06-08 GeB SGBAYREUTH SG Bayreuth
Tenor
I. Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 8. Juni 2015 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist auch im Übrigen zulässig (§§ 143, 144, 151 SGG), aber nicht begründet.
Der Beklagte hat es zu Recht, wie es auch das SG bestätigt hat, abgelehnt, beim Kläger einen Impfschaden anzuerkennen und Versorgung zuzusprechen. Der angegriffene Bescheid vom 23.10.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2013 ist formell und materiell rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG liegen nicht vor, weil es vorliegend schon am Nachweis einer Impfkomplikation (Primärschaden) fehlt. Aber selbst dann, wenn der nicht im dafür erforderlichen Vollbeweis nachgewiesene potentielle Primärschaden als nachgewiesen betrachtet würde, würde es an der Kausalität zwischen der Impfung und der Primärschaden fehlen.
Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält, wer durch eine Schutzimpfung oder durch eine andere Maßnahme der spezifischen Prophylaxe, die
1.von einer zuständigen Landesbehörde öffentlich empfohlen und in ihrem Bereich vorgenommen wurde,
2.auf Grund dieses Gesetzes angeordnet wurde,
3.gesetzlich vorgeschrieben war oder
4.auf Grund der Verordnungen zur Ausführung der Internationalen Gesundheitsvorschriften durchgeführt worden ist, eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, nach der Schutzimpfung wegen des Impfschadens im Sinne des § 2 Nr. 11 IfSG oder in dessen entsprechender Anwendung bei einer anderen Maßnahme wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), soweit das IfSG nichts Abweichendes bestimmt.
Der Impfschaden wird in § 2 Nr. 11 IfSG definiert als die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung, wobei ein Impfschaden auch vorliegt, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.
Die Anerkennung als Impfschaden setzt eine (mindestens) dreigliedrige Kausalkette voraus (ständige Rspr., vgl. zum gleichgelagerten Recht der Soldatenversorgung: BSG, Urteile vom 25.03.2004, B 9 VS 1/02 R, und vom 16.12.2014, B 9 V 3/13 R): Ein schädigender Vorgang in Form einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), muss zu einer „gesundheitlichen Schädigung“ (2. Glied), also einem Primärschaden (d.h. einer Impfkomplikation) geführt haben, die wiederum den „Impfschaden“, d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also den Folgeschaden (3. Glied) bedingt. Zwischen Primärschaden und Folgeschaden können, abhängig von der jeweiligen Fallkonstellation noch weitere Zwischenstufen von Gesundheitsschäden liegen. Anstelle einer dreigliedrigen Kausalkette kann daher im Einzelfall auch eine mehr als dreigliedrige Kette der Beurteilung des Versorgungsanspruchs zugrunde zu legen sein, wobei dann alle Stufen und die dazwischen liegende Kausalität im jeweils erforderlichen Beweismaßstab nachgewiesen sein müssen (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92 – zum Gesichtspunkt des Todesleidens).
Neben einer „Schutzimpfung oder einer anderen Maßnahme der spezifischen Prophylaxe“, die die genannten Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erfüllen muss (1. Glied), müssen die „gesundheitliche Schädigung“ (2. Glied) als Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, und der „Impfschaden“ (3. Glied), d.h. die dauerhafte gesundheitliche Schädigung, also der Folgeschaden, vorliegen. Diese drei, ggf. auch mehr (vgl. oben vorstehender Absatz) Glieder der Kausalkette müssen – auch im Impfschadensrecht – im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein (ständige Rspr., vgl. z.B. BSG, Urteile vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R; Hessisches LSG, Urteil vom 26.06.2014, L 1 VE 12/09; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 01.07.2016, L 13 VJ 19/15). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000, B 9 VG 3/99 R), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993, 9/9a RV 1/92).
Dass die gesundheitliche Schädigung als Primärschädigung, d.h. die Impfkomplikation, neben der Impfung und dem Impfschaden, d.h. der dauerhaften gesundheitlichen Schädigung, im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachgewiesen sein muss und eine irgendwie geartete Beweiserleichterung beim Primärschaden, wie es der 15. Senat des Bayer. LSG im Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, mit der Beurteilung „des Zusammenhangs zwischen Impfung und manifestiertem Gesundheitsschaden in einer einzigen gedanklichen Etappe“ anhand von „Mosaiksteinen“, die den Nachweis des Primärschadens im Vollbeweis als „realitätsfremd“ und damit verzichtbar erscheinen lassen sollen, getan hat, damit nicht vereinbar ist, hat der erkennende Senat in seinem rechtskräftigen (vgl. BSG, Beschluss vom 29.11.2017, B 9 V 48/17 B) Urteil vom 25.07.2017, L 20 VJ 1/17, bereits deutlich zum Ausdruck gebracht. Eine andere Sichtweise steht – wie der Senat in der genannten Entscheidung bereits ausgeführt hat – nicht in Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben und der klaren obergerichtlichen und höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. auch Bayer. LSG, Urteile vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09, und vom 06.12.2017, L 20 VJ 3/05). Dies hat im Übrigen das BSG erneut mit Beschluss vom 29.01.2018, B 9 V 39/17 B, bestätigt und dort ausgeführt:
„Aber auch insoweit hat sich die Beschwerde weder mit den tatbestandlichen Voraussetzungen noch mit der hierzu ergangenen Rechtsprechung des BSG auseinandergesetzt, nach der der Nachweis einer Primärschädigung im Vollbeweis geführt werden muss und deshalb Ermittlungen zur Kausalität auf der Grundlage des abgesenkten Beweismaßstabs der Wahrscheinlichkeit für einen Nachweis „nicht erkennbar zutage getretener Primärschädigungen“ nicht ausreichen.“
Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Regeln der Beweislast zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs auf ihr Vorliegen stützt, also des Antragstellers.
Demgegenüber gilt für den (mindestens) zweifachen ursächlichen Zusammenhang der (mindestens) drei Glieder der Kausalkette nach § 61 Satz 1 IfSG ein gegenüber dem Vollbeweis abgeschwächter Beweismaßstab – nämlich der der Wahrscheinlichkeit im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung (vgl. auch § 1 Abs. 3 BVG; siehe auch BSG, Urteile vom 13.12.2000, B 9 VS 1/00 R, vom 29.04.2010, B 9 VS 2/09 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R; Bayer. LSG, Urteil vom 31.07.2012, L 15 VJ 9/09). Der Beweismaßstab der Wahrscheinlichkeit gilt sowohl für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität (vgl. BSG, Urteil vom 15.12.1999, B 9 VS 2/98 R – in Aufgabe der früheren Rechtsprechung, z.B. BSG, Urteil vom 24.09.1992, 9a RV 31/90, die für den Bereich der haftungsbegründenden Kausalität noch den Vollbeweis vorausgesetzt hat) als auch den der haftungsausfüllenden Kausalität. Dies entspricht den Beweisanforderungen auch in anderen Bereichen der sozialen Entschädigung oder Sozialversicherung, insbesondere der wesensverwandten gesetzlichen Unfallversicherung.
Eine potentielle, versorgungsrechtlich geschützte Ursache begründet dann einen wahrscheinlichen Zusammenhang, wenn ihr nach sachgerechter Abwägung aller wesentlichen Umstände gegenüber jeder anderen Möglichkeit ein deutliches Übergewicht zukommt (vgl. BSG, Urteil vom 22.09.1977, 10 RV 15/77), also mehr für als gegen einen Kausalzusammenhang spricht (vgl. BSG, Urteile vom 19.08.1981, 9 RVi 5/80, vom 26.06.1985, 9a RVi 3/83, vom 19.03.1986, 9a RVi 2/84, vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R). Oft wird diese Wahrscheinlichkeit auch als „überwiegende“ (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 14.10.2015, B 9 V 43/15 B) oder „hinreichende“ (vgl. z.B. BSG, Beschluss vom 18.02.2009, B 9 VJ 7/08 B) Wahrscheinlichkeit bezeichnet, wobei dieser Zusatz nur der Verdeutlichung dient (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/ders./Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 128, Rdnr. 3c). Nicht ausreichend ist dagegen eine bloße – abstrakte oder konkrete – Möglichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 26.11.1968, 9 RV 610/66, und vom 07.04.2011, B 9 VJ 1/10 R).
Haben mehrere Umstände zu einem Erfolg beigetragen, so sind sie nach der versorgungsrechtlichen Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteil vom 08.08.1974, 10 RV 209/73) rechtlich nur dann nebeneinander stehende Mitursachen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolgs „annähernd gleichwertig“ sind. Während die ständige unfallversicherungsrechtliche Rechtsprechung (vgl. z.B. BSG, Urteile vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R, und vom 30.01.2007, B 2 U 8/06 R) demgegenüber den Begriff der „annähernden Gleichwertigkeit“ für nicht geeignet zur Abgrenzung hält, da er einen objektiven Maßstab vermissen lasse und missverständlich sei, und eine versicherte Ursache dann als rechtlich wesentlich ansieht, wenn nicht eine alternative unversicherte Ursache von überragender Bedeutung ist, hat der für das soziale Entschädigungsrecht zuständige 9. Senat des BSG in seinem Urteil vom 16.12.2014, B 9 V 6/13 R, zur annähernden Gleichwertigkeit Folgendes ausgeführt:
„Kommt einem der Umstände gegenüber anderen indessen eine überragende Bedeutung zu, so ist dieser Umstand allein Ursache im Rechtssinne. Bei mehr als zwei Teilursachen ist die annähernd gleichwertige Bedeutung des schädigenden Vorgangs für den Eintritt des Erfolgs entscheidend. Haben also neben einer Verfolgungsmaßnahme mehrere weitere Umstände zum Eintritt einer Schädigungsfolge beigetragen, ist die Verfolgungsmaßnahme versorgungsrechtlich nur dann im Rechtssinne wesentlich und die Schädigungsfolge der Verfolgungsmaßnahme zuzurechnen, wenn sie in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges – verglichen mit den mehreren übrigen Umständen – annähernd gleichwertig ist. Das ist dann der Fall, wenn die Verfolgungsmaßnahme in ihrer Bedeutung und Tragweite für den Eintritt des Erfolges allein mindestens so viel Gewicht hat wie die übrigen Umstände zusammen.“
Von einer annähernden Gleichwertigkeit einer versorgungs- und damit auch impfschadensrechtlich geschützten Ursache kann daher – im Gegensatz zu der für den Betroffenen günstigeren unfallversicherungsrechtlichen Rechtsprechung – nur dann ausgegangen werden, wenn ihre Bedeutung gleich viel oder mehr Gewicht hat als die der andere(n) Ursache(n) (zusammen).
Die Entscheidung darüber, welche Bedingungen im Rechtssinn als Ursache oder Mitursache zu gelten haben und welche nicht, ist im jeweiligen Einzelfall aus der Auffassung des praktischen Lebens abzuleiten (vgl. BSG, Urteil vom 12.06.2001, B 9 V 5/00 R).
Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Gesundheitsschäden zu erfolgen (vgl. BSG, Urteil vom 09.05.2006, B 2 U 1/05 R).
Kann eine Aussage zu einem (hinreichend) wahrscheinlichen Zusammenhang nur deshalb nicht getroffen werden, weil über die Ursache des festgestellten Leidens in der medizinischen Wissenschaft Ungewissheit besteht, kommt die sogenannte Kannversorgung gemäß § 61 Satz 2 IfSG in Betracht. Von Ungewissheit ist dann auszugehen, wenn es keine einheitliche, sondern verschiedene ärztliche Lehrmeinungen gibt, wobei nach der Rechtsprechung des BSG von der Beurteilung auf dem Boden der „Schulmedizin“ (gemeint ist damit der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Wissenschaft) auszugehen ist (vgl. BSG, Urteil vom 27.08.1998, B 9 VJ 2/97 R). Aber auch bei der Kannversorgung reicht allein die bloße Möglichkeit des Ursachenzusammenhangs oder die Nichtausschließbarkeit des Ursachenzusammenhangs nicht aus. Es muss vielmehr wenigstens eine wissenschaftliche Lehrmeinung geben, die die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit des Ursachenzusammenhangs positiv vertritt; das BSG spricht hier auch von der „guten Möglichkeit“ eines Zusammenhangs (vgl. BSG, Urteile vom 12.12.1995, 9 RV 17/94, und vom 17.07.2008, B 9/9a VS 5/06). In einem solchen Fall liegt eine Schädigungsfolge dann vor, wenn bei Zugrundelegung der wenigstens einen wissenschaftlichen Lehrmeinung nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs nachgewiesen ist (vgl. Bayer. LSG, Urteile vom 19.11.2014, L 15 VS 19/11, vom 21.04.2015, L 15 VH 1/12, vom 15.12.2015, L 15 VS 19/09, vom 26.01.2016, L 15 VK 1/12, und vom 25.07.2017, L 20 VJ 1/17). Existiert eine solche Meinung überhaupt nicht, fehlt es an der erforderlichen Wahrscheinlichkeit nicht infolge einer Ungewissheit; denn alle Meinungen stimmen dann darin überein, dass ein Zusammenhang nicht hergestellt werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 10.11.1993, 9/9a RV 41/92).
Lässt sich der Zusammenhang nicht (hinreichend) wahrscheinlich machen und auch nicht über das Institut der Kannversorgung herstellen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf das Vorliegen des Zusammenhangs stützen möchte, also des Antragstellers (ständige Rspr., vgl. beispielhaft BSG, Urteil vom 03.02.1999, B 9 V 33/97 R, und Beschluss vom 05.04.2018, B 5 RS 19/17 B).
Unter Anwendung dieser Grundsätze ist vorliegend schon eine Impfkomplikation (gesundheitliche Schädigung/Primärschaden, 2. Glied der oben aufgezeigten Kausalkette) nicht nachgewiesen. Es fehlt aber auch an der Kausalität zwischen der durchgeführten Impfung und der potentiellen, nicht im Vollbeweis nachgewiesenen Primärschädigung im Sinne einer Impfkomplikation.
1. Feststellungen
Der Senat stellt zunächst fest, dass der Kläger am 03.11.2009 eine Impfung gegen den Influenza A Virus (H1N1 – Schweinegrippevirus) mit dem Impfstoff Pandemrix (Lot A81CA062A) erhalten hat. Dieser Impfstoff enthielt das Adjuvans AS03. Bei dieser Impfung hat es sich um eine zum damaligen Zeitpunkt öffentlich empfohlene Schutzimpfung gehandelt (vgl. Bekanntmachung des Bayer. Staatsministeriums für Umwelt, Gesundheit und Verbraucherschutz vom 18.04.2007, 33a-G8360.82-206/1-3 – Allgemeines Ministerialblatt 2007, S. 224).
Weiter ist festzustellen, dass der Kläger in der Nacht vom 09. auf den 10.11.2009 einen Hirninfarkt erlitten hat, aus dem bis heute massive neurologische Schäden resultieren.
Der Hirninfarkt ist auf einen distalen Verschluss der Arteria carotis interna und damit auf eine reduzierte Versorgung des Gehirns zurückzuführen, wobei der Verschluss nach den Feststellungen des Sachverständigen PD Dr. C., dessen überzeugende Feststellungen sich der Senat zu eigen macht und der die alternativen Geschehnisse detailliert und allgemeinverständlich dargestellt hat, und den ärztlichen Berichten über die umfangreiche Behandlung des Klägers entweder auf einer distalen Dissektion oder einem thromboembolischen Verschluss der genannten Arterie, der aus einer nicht mit der Dissektion in Zusammenhang stehenden, z.B. kardialen Emboliequelle herrührt, beruht. Sofern der erstinstanzliche Gutachter Prof. Dr. J. im Rahmen seiner Diskussion nur auf eine Dissektion eingeht und in der Beantwortung der Beweisfragen eine „Dissoziation“ (Anmerkung des Senats: Dabei handelt sich um einen offensichtlichen Schreibfehler; gemeint ist offenkundig eine Dissektion.) der Arteria carotis interna zugrunde legt, ist damit für den Senat nicht belegt, dass nicht auch eine Embolie mit anderem Hintergrund als mögliche Ursache für den Hirninfarkt infrage kommt. Denn der Sachverständige Prof. Dr. J. hat selbst auf S. 1 und 3 seines Gutachtens festgehalten, dass als Diagnosen der erstbehandelnden Klinik nicht nur eine Dissektion, sondern alternativ auch ein thromboembolischer Verschluss der Arterie genannt worden sind. Warum er dann gleichwohl in der Folge von einer Dissektion und nicht auch der alternativen Möglichkeit einer Embolie mit anderem Hintergrund ausgegangen ist, hat er nicht ansatzweise begründet und ist für den Senat auch nicht nachvollziehbar.
Die für den Nachweis eines Impfschadens erforderliche Kausalkette stellt sich daher vorliegend wie folgt dar: Impfung – Verschluss der Arteria carotis interna entweder in Form einer distalen Dissektion oder eines thromboembolischen Verschlusses anderer Ursache – Hirninfarkt – Dauerschaden.
2. Kein Primärschaden
Eine zeitnah nach der Impfung aufgetretene gesundheitliche Schädigung, die möglicherweise durch die Impfung mit Pandemrix bedingt sein könnte, d.h. eine potentielle Impfkomplikation als Primärschaden, ist nicht in dem dafür notwendigen Vollbeweis nachgewiesen.
Als Primärschaden zu diskutieren sind eine Dissektion der genannten Arteria carotis oder ein thromboembolischer Verschluss dieser Arterie, wobei die Thrombose nicht auf eine Dissektion der genannten Arterie zurückzuführen ist. Andere atypische Impfreaktionen sind nicht dokumentiert und auch vom Kläger nicht vorgetragen worden.
Eine im Raum stehende, aber nicht zweifelsfrei, d.h. nicht im Vollbeweis nachgewiesene Dissektion der Arteria carotis, bei der zumindest die theoretische Möglichkeit eines Zusammenhangs mit der Impfung besteht (dazu siehe unten Ziff. 3), ist nicht im Vollbeweis nachgewiesen (vgl. unten Ziff. 2.1.). Ein alternativ im Raum stehender, aber ebenfalls nicht zweifelsfrei, d.h. nicht im Vollbeweis nachgewiesener thromboembolischer Verschluss der Arteria carotis, wobei die Thrombose nicht auf eine Dissektion der genannten Arterie zurückzuführen ist, kommt als Primärschaden nicht in Betracht, da er in keinem Zusammenhang mit der Impfung zu sehen ist (vgl. unten Ziff. 2.2.). Dies ist übereinstimmende Einschätzung aller Gutachter und Versorgungsärzte, die sich insofern mit der Zusammenhangsfrage befasst haben. Eine Wahlfeststellung unter Zugrundelegung der beiden vorgenannten Alternativen kommt nicht in Betracht, weil nicht bei beiden Alternativen ein Zusammenhang mit der Impfung denkbar ist (vgl. unten Ziff. 2.3.).
2.1. Eine Dissektion der Arteria carotis, bei der die gerichtlichen Sachverständigen zumindest die Möglichkeit eines Zusammenhangs mit der Impfung diskutieren und die daher als Primärschädigung nicht bereits von vornherein auszuschließen ist, da die Frage der Kausalität zumindest einer näheren Prüfung bedarf, ist nicht in dem dafür erforderlichen Vollbeweis nachgewiesen. Dabei stützt sich der Senat auf die vorliegenden ärztlichen Berichte, das im Berufungsverfahren eingeholte Gutachten und die versorgungsärztlichen Ausführungen. Alle Ärzte sind übereinstimmend zu der Einschätzung gekommen, dass nicht zweifelsfrei feststeht, dass beim Kläger eine Dissektion der Arteria carotis erfolgt ist und nicht ein thromboembolischer Verschluss auf anderer Grundlage, z.B. kardiogener Ursache, vorgelegen hat. Dies hat sowohl der im Berufungsverfahren gehörte Sachverständige ausführlich erläutert als auch die Versorgungsärzte des Beklagten so festgestellt. Warum der Sachverständige Prof. Dr. J. im Rahmen der Diskussion des Zusammenhangs von einer Dissektion ausgegangen ist, obwohl er selbst zuvor darauf hingewiesen hat, dass als alternative Diagnose zu einer Dissektion auch ein thromboembolischer Verschluss der Arterie im Raum steht, ist dies den Senat nicht nachvollziehbar (vgl. oben Ziff. 1.).
Sofern in Klinik- oder Arztberichten die Diagnose eine Dissektion der Arteria carotis genannt ist, ohne diese Diagnose als Verdachtsdiagnose zu bezeichnen, ändert dies an der Beurteilung nichts. Denn diese Diagnose ist ersichtlich nicht in Form einer sicheren Diagnose, sondern als Verdachtsdiagnose verwendet worden. So wurde beispielsweise im Bericht der Sozialstiftung A-Stadt vom 09.12.2009 die Diagnose „Dissektion der Arteria carotis“ genannt. Dass dies nur eine Verdachtsdiagnose gewesen sein kann, ergibt sich schon daraus, dass unter den Diagnosen auch ein „Hirninfarkt durch nicht näher bezeichneten Verschluss oder Stenose zerebraler Arterien“ genannt worden ist. Zudem wurde im ausführlicheren Bericht der Sozialstiftung A-Stadt vom 25.02.2010 die Diagnose explizit als „Dissektion bzw. thrombembolischer Verschluss der distalen intrakraniellen Arteria carotis li.“ bezeichnet, was belegt, dass zwei verschiedene Diagnosen in Betracht gezogen worden sind, und zusammenfassend darauf hingewiesen, dass noch der sonographische Ausschluss einer kardialen Emboliequelle erfolgen solle, was wiederum belegt, dass es sich bei der Diagnose einer Dissektion nur um eine Verdachtsdiagnose gehandelt haben kann. Auch aus den aufgelisteten bildgebenden Befunden ist zu entnehmen, dass „wohl“ von einem embolischen Verschluss auszugehen ist (CT-Angiographie vom 10.11.2009). Schließlich bedingen es auch die Kodiervorgaben der Diagnosen, dass Diagnosen genannt werden, ohne zu kennzeichnen, ob dies Verdachtsdiagnosen sind oder nicht. So heißt es in den Deutschen Kodierrichtlinien (DKR) seit jeher in D008b:
„Verdachtsdiagnosen im Sinne dieser Kodierrichtlinie sind Diagnosen, die am Ende eines stationären Aufenthaltes weder sicher bestätigt noch sicher ausgeschlossen sind. Verdachtsdiagnosen werden unterschiedlich kodiert, abhängig davon, ob der Patient nach Hause entlassen oder in ein anderes Krankenhaus verlegt wurde
… Wenn eine Behandlung eingeleitet wurde und die Untersuchungsergebnisse nicht eindeutig waren, ist die Verdachtsdiagnose zu kodieren.“
Zu einer weiteren Aufklärung, insbesondere einer erneuten Befundung der zeitnah nach dem Hirninfarkt durchgeführten bildgebenden Verfahren, aber auch zu einer aktuellen Durchführung entsprechender Verfahren, sieht sich der Senat nicht veranlasst.
Zwar hat der vom Senat beauftragte Sachverständige zunächst eine Neubefundung der zeitnah nach dem Hirninfarkt durchgeführten bildgebenden Verfahren angeregt. Es bestehen aber insofern für den Senat schon erhebliche Zweifel, ob sich daraus überhaupt weitergehende Erkenntnisse ergeben könnten. Diese Zweifel stützt der Senat zum einen auf die Hinweise in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 13.02.2017, wonach der für die Beurteilung relevante Bereich bei bildgebenden Verfahren vermutlich nicht ausreichend genau abgebildet sein dürfte, um daraus detailliertere Bewertungen treffen zu können. Zum anderen, und dies ist der für den Senat entscheidende Gesichtspunkt, hat der gerichtliche Sachverständige PD Dr. C. zuletzt in seiner Stellungnahme vom 30.10.2017 eine derartige Nachbefundung nicht mehr für nötig erachtet. Vielmehr hat er aufgrund einer Würdigung der vorliegenden Befunde darauf hingewiesen, dass keine Befunde vorliegen, die die positiven Kriterien einer Dissektion (Nachweis eines Wandhämatoms, trichterförmige Lumeneinengung, klinische Korrelate wie lokale Schmerzen oder ein Horner-Syndrom) erfüllen. Gegen eine Dissektion spricht, dass für die Zeit vor dem Hirninfarkt keine typischen Beschwerden dokumentiert und auch später nicht vom Kläger beschrieben worden sind, wie sie regelmäßig in Form einer lokalen Schmerzhaftigkeit oder einer einseitig verengten Pupille mit leicht hängendem Augenlid zu erwarten sind, worauf der Sachverständige PD Dr. C. schon in seinem Gutachten vom 27.12.2016 hingewiesen hat (Nach der vom Sachverständigen angeführten Studie mit 50 Patienten seien lediglich drei Patienten asymptomatisch gewesen.). Zudem, auch darauf hat der Sachverständige hingewiesen, haben die im weiteren Verlauf erhobenen Befunde die Verdachtsdiagnose einer Dissektion nicht bestätigt. So hat eine im Rahmen der Reha-Behandlung im Klinikum S. durchgeführte Dopplersonographie am 25.02.2010 eine unauffällige Gefäßwandmorphologie und unauffällige Strömungsprofile gezeigt. Dass bei einer Nachbeurteilung des damaligen Bildmaterials keine weitergehenden positiven Erkenntnisse für die Feststellung einer Dissektion zu erwarten sind, ist auch der Stellungnahme des gerichtlichen Sachverständigen PD Dr. C. vom 04.04.2017 zu entnehmen, wenn dieser dort darauf hinweist, dass „eine Nachbeurteilung … die Chance [bietet], evtl. doch vorhandene und bislang nicht bekannte Faktoren aufzudecken, die einen Zusammenhang dann als unwahrscheinlich erscheinen lassen würden.“ Der Gutachter sieht also in einer Nachbefundung nur die Chance, eine Dissektion (und damit die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs) definitiv ausschließen zu können. Die Frage, ob ein Impfschaden zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann, ist aber für die impfschadensrechtliche Bewertung ohne Bedeutung. Entscheidungserheblich ist allein die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen Impfung und Gesundheitsschaden hinreichend wahrscheinlich nachgewiesen werden kann. Die Beantwortung dieser – allein entscheidungserheblichen – Frage ist aber nicht davon abhängig, dass der Zusammenhang nachgewiesenermaßen unwahrscheinlich ist oder sich positiv eine andere Ursache feststellen lässt. Mit einer Nachbefundung der durchgeführten bildgebenden Verfahren wäre daher für das Verfahren kein rechtlich maßgeblicher Erkenntnisgewinn verbunden, sondern allenfalls eine im Sinne des Betroffenen wünschenswerte weitergehende Aufklärung bei ihm vorliegender impfunabhängiger Risikoquellen verbunden. Eine solche Aufklärung hat aber nicht in einem impfschadensrechtlichen Gerichtsverfahren stattzufinden.
Jedenfalls ist eine Neubefundung der zeitnah nach dem Hirninfarkt durchgeführten bildgebenden Verfahren auch deshalb nicht angezeigt, da selbst dann, wenn sich damit eine Dissektion zweifelsfrei nachweisen lassen würde, sich ein Impfschaden beim Kläger nicht nachweisen lassen würde. Denn der rechtlich wesentliche Kausalzusammenhang zwischen Impfung und Dissektion würde sich auch dann nicht herstellen lassen (siehe dazu unten Ziff. 3).
Von einer jetzt neu anzufertigenden Bildgebung würden sich für den maßgeblichen Zeitpunkt des Hirninfarkts im Jahre 2009 keine Rückschlüsse mehr ziehen lassen, da damals vorliegende morphologische Veränderungen heute mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr erkennbar sind. So haben sich auch bei einer im Rahmen der Reha-Behandlung im Klinikum S. durchgeführten Dopplersonographie am 25.02.2010 eine unauffällige Gefäßwandmorphologie und unauffällige Strömungsprofile gezeigt. Im Übrigen hat der Sachverständige PD Dr. C. eine derartige Bildgebung auch nur unter dem – rechtlich unmaßgeblichen – Gesichtspunkt als hilfreich erachtet, dass damit die Unwahrscheinlichkeit eines Zusammenhangs positiv nachgewiesen werden könnte (vgl. oben, vorletzter Absatz). Im Übrigen gilt das Gleiche wie bei einer Neubefundung des alten Bildmaterials (vgl. vorstehender Absatz) – auch bei Nachweis einer Dissektion lässt sich ein Impfschaden nicht nachweisen (siehe dazu unten Ziff. 3).
2.2. Ein – nicht im Vollbeweis nachgewiesener – thromboembolischer Verschluss, der seine Ursache nicht in der Dissektion der Arteria carotis hat, wäre nach einheitlicher Ansicht der Sachverständigen nicht im Zusammenhang mit der streitgegenständlichen Impfung zu sehen und kann daher schon wegen fehlender Kausalität keine Primärschädigung darstellen.
Sofern der Gutachter PD Dr. C. im Rahmen seines Gutachtens vom 27.12.2016 im Rahmen der Beantwortung der Beweisfragen noch äußerst missverständlich auch für die Variante eines thromboembolischen Verschlusses „prinzipiell“ die gute Möglichkeiten eines Zusammenhangs mit der Impfung formuliert hat, hat er diese Annahme in seinen weiteren Ausführungen nicht mehr wiederholt, sondern eine solche Möglichkeit nicht mehr angenommen. Letzteres steht auch in Einklang mit seinen gesamten sachverständigen Ausführungen, in denen er an keiner einzigen Stelle eine medizinische Lehrmeinung benannt hat, die einen solchen Zusammenhang kennt. Raum für eine Kannversorgung ist daher insofern nicht eröffnet.
2.3. Keine Wahlfeststellung
Ein Rückgriff auf das Institut der Wahlfeststellung scheitert daran, dass nicht beide in Betracht kommenden Tatbestandsvarianten zur Bejahung der Frage, ob ein Primärschaden vorliegt, führen.
Das Institut der Wahlfeststellung ist auch im Sozialrecht anerkannt (vgl. z.B. die Urteile des BSG zu den Rechtsbereichen des Versorgungsrechts vom 30.08.1960, 8 RV 245/58, und 05.05.1993, 9/9a RV 1/92, sowie der gesetzlichen Unfallversicherung vom 24.01.1992, 2 RU 32/91). Dabei kann der im Rahmen der Wahlfeststellung geltend gemachte Anspruch nur dann zugesprochen werden, wenn jede der in Betracht kommenden Tatbestandsvarianten zur gleichen Leistung führen muss (vgl. BSG, Urteil vom 26.03.1986, 2 RU 10/85). Dies bedeutet wiederum, dass eine Wahlfeststellung bereits dann ausgeschlossen ist, wenn nur eine der der Wahlfeststellung zugrunde zu legenden Tatbestandsalternativen einer Leistung entgegenstehen würde.
Im vorliegenden Fall kann aber – wenn überhaupt – eine Primärschädigung nur für die Tatbestandsvariante in Betracht gezogen werden, dass eine Dissektion der Arteria carotis vorgelegen hat, nicht aber für die Tatbestandsalternative eines thromboembolischen Verschlusses, der seine Ursache nicht in der Dissektion der Arteria carotis findet (vgl. oben Ziff. 2.2.).
3. Auch bei Annahme einer Dissektion keine Kausalität zwischen Impfung und Primärschaden
Aber auch soweit man entgegen den obigen Feststellungen und Ausführungen davon ausgehen würde, dass eine Dissektion der Arteria carotis im Vollbeweis nachgewiesen wäre, würde es insoweit an der Kausalität zwischen der Impfung und der unterstellten Impfkomplikation (Primärschaden) in Form einer Dissektion der Arteria carotis fehlen.
3.1. Kein Zusammenhang im Sinne der hinreichenden Wahrscheinlichkeit
Ein hinreichend wahrscheinlicher Zusammenhang zwischen der beim Kläger durchgeführten Impfung und einer Dissektion der Arteria carotis lässt sich nicht feststellen; das ist unter allen Sachverständigen und Versorgungsärzten unstreitig. Der Senat sieht insofern von weiteren Ausführungen ab und verweist auf die ausführlich begründeten Gutachten, gutachtlichen Stellungnahmen und versorgungsärztlichen Äußerungen.
3.2. Kein Zusammenhang im Sinne der Kannversorgung
Die Herstellung eines Zusammenhangs im Sinne der Kannversorgung scheitert schon daran, dass zwar in der medizinischen Wissenschaft über die Ursache einer (spontanen) Dissektion Ungewissheit besteht, es aber schon keine verschiedenen ärztlichen Lehrmeinungen mit abschließenden Erklärungen zur Ursächlichkeit bei einer Dissektion gibt. Jedenfalls existiert keine einzelne ärztlich-wissenschaftliche Lehrmeinung, nach deren Kriterien die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit eines Ursachenzusammenhangs zwischen einer Impfung mit Pandemrix (und einer damit verbundenen erhöhten Zytokinausschüttung) und einer Dissektion der Arteria carotis gegeben wäre. Dabei stützt sich der Senat auf die Feststellungen aller im Verfahren gehörten Sachverständigen und Versorgungsärzte.
Von verschiedenen, untereinander differierenden ärztlichen Lehrmeinungen zur Ursächlichkeit einer Dissektion kann nicht ausgegangen werden. Vielmehr lässt sich – den Hinweisen der Sachverständigen und Versorgungsärzte folgend – nur für einen Teil der stattgehabten Dissektionen eine medizinische Erklärung finden, ohne dass sich daraus bereits eine herrschende medizinische Meinung herausgebildet hätte. Der andere Teil der Dissektionen hingegen ist in seiner Ursächlichkeit offenbar völlig ungeklärt, so dass auch insofern nicht von einzelnen wissenschaftlichen Lehrmeinungen ausgegangen werden kann, die sich noch nicht zur herrschenden Meinung verdichtet haben.
Jedenfalls gibt es keine einzige wissenschaftliche Lehrmeinung, die einen Zusammenhang zwischen einer Impfung mit Pandemrix und einer Dissektion der Arteria carotis unter bestimmten Voraussetzungen annehmen würde.
So hat der Sachverständige Prof. Dr. J. in seinem Gutachten vom 14.08.2014 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine ausgedehnte Literatursuche zu Impfungen, speziell gegen Influenza und Dissektionen der Arteria carotis interna, kein positives Ergebnis gebracht habe, es für die Hypothese einer zytokinverursachten Dissektion weder experimentelle noch epidemiologische Belege gebe und Impfungen als mögliche Trigger einer Dissektion in der Literatur niemals erwähnt worden seien.
Dies hat auch der Gutachter PD Dr. C. bestätigt und in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 04.04.2017 festgehalten, dass es keine ausreichenden epidemiologischen Daten gebe, die ein erhöhtes Risiko einer Dissektion nach Impfung mit Pandemrix belegen würden. Dass infolge einer Impfung mit Pandemrix durch die starke Freisetzung von Zytokinen ein entzündlicher Prozess mit der potentiellen Folge einer Dissektion begünstigt werden könnte, sei eine (bloße) Hypothese, für die es keine experimentellen oder epidemiologischen Daten gebe. Ergänzt hat dies der Gutachter PD Dr. C. nach ausdrücklicher Befragung durch das Gericht und exakter Erläuterung der Voraussetzungen der Kannversorgung in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 30.10.2017 und nochmals erläutert, dass kein epidemiologisch erhöhtes Risiko einer Dissektion nach einer Impfung mit Pandemrix belegt sei. Für die Frage eines Zusammenhangs zwischen einer Impfung mit Pandemrix und einer Dissektion der Arteria carotis hat der Sachverständige keine einzige medizinische Lehrmeinung aufgezeigt, die von einem Zusammenhang im Sinne der Kannversorgung ausgehen würde. Der Sachverständige hat – wie auch zuvor Prof. Dr. J. vor der Einholung des ergänzenden internistischen Gutachtens – lediglich ein theoretisches Gedankenmodell aufgezeigt, das einen Zusammenhang zwischen Impfung und Dissektion erklären könnte. Ein derartiges Gedankenmodell ist jedoch auch für die Kannversorgung unbehelflich, da damit nur die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs zwischen Impfung und Primärschädigung aufgezeigt wird, was aber für die Kannversorgung nicht ausreicht. Denn damit würde, ohne dass die Beurteilung bei fehlender herrschender medizinischer Meinung auf zumindest eine wissenschaftlich anerkannte Lehrmeinung gestützt werden könnte, der Anwendungsbereich der Kannversorgung dahingehend erweitert, dass schon die bloße – und nicht nur, um mit den Worten des BSG zu sprechen, „gute“ – Möglichkeit eines Zusammenhangs als ausreichend erachtet würde. Dies würde den vom Gesetzgeber gesetzten Rahmen für die Zusammenhangsbeurteilung überschreiten.
Sofern der Sachverständige PD Dr. C. im Gutachten vom 27.12.2016 noch – anders als später im Rahmen der ergänzenden Stellungnahme – die „gute Möglichkeit“ eines Zusammenhangs bejaht hat, ist dies offensichtlich unter Verkennung der rechtlichen Voraussetzungen des zugegebenermaßen missverständlichen Begriffs der „guten Möglichkeit“ erfolgt. Dies ergibt sich auch daraus, dass er in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 30.10.2017, nachdem nunmehr die rechtlichen Voraussetzungen der Kannversorgung verständlicher mit Gutachtensauftrag vom 01.08.2017 erläutert worden waren, keine medizinische Lehrmeinung benannt hat, auf die die Kannversorgung gestützt werden könnte, sondern nur von einem theoretisch gut begründbaren möglichen Zusammenhang gesprochen hat.
Lediglich der Vollständigkeit halber weist der Senat ergänzend darauf hin, dass auch im Wege der Wahlfeststellung ein Zusammenhang zwischen Impfung und den zwei als Primärschaden bei weitester Betrachtung infrage kommenden Gesundheitsstörungen einer Dissektion der Arteria carotis einerseits und eines thromboembolischen, am ehesten auf kardiogener Ursache beruhenden Verschlusses andererseits nicht möglich wäre. Sofern der Sachverständige PD Dr. C. in seinem Gutachten vom 27.12.2016 noch für beide Möglichkeiten „prinzipiell eine solche „gute Möglichkeit“” gesehen hat, hat er diese offensichtlich mit Blick auf die Begrifflichkeiten irrige Annahme später nicht mehr aufrechterhalten (vgl. auch oben Ziff. 2.2.). Im Übrigen geht auch aus dem Gutachten vom 27.12.2016 selbst hervor, dass der Sachverständige für die Tatbestandsalternative eines thromboembolischen Verschlusses (vermutlich kardialer Ursache) keine „gute Möglichkeit“ eines Zusammenhangs gesehen hat. Denn anders wäre es nicht zu erklären, dass der Sachverständige zu den beiden Alternativmöglichkeiten „sich hieraus [ergebende] möglicherweise unterschiedliche Aspekte zur Kausalität (im Sinne einer „Kannversorgung“)” gesehen hat. Der Sachverständige ist also offensichtlich davon ausgegangen, dass die Kausalität im Sinne der Kannversorgung unterschiedlich zu bewerten ist, je nachdem, ob von einer Dissektion, für die er zu diesem Zeitpunkt noch die Möglichkeit der Kannversorgung gesehen hat, oder einem thromboembolischen Verschluss auszugehen ist.
Zu den vom Kläger erhobenen Einwänden, soweit sie nicht bereits oben abgehandelt sind, weist der Senat abschließend auf Folgendes hin:
Der Kläger hat zur Widerspruchsbegründung darauf hingewiesen, dass in der Datenbank des P.-E.-Instituts zu Verdachtsfällen von Impfkomplikationen 16 Fälle von Hirninfarkt im zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen verzeichnet seien und damit ein Hirninfarkt als Impfreaktion bekannt sei. Dabei verkennt der Kläger den Charakter von Meldungen als Verdachtsfall an das P.-E.-Institut. Eine derartige Meldung bedeutet lediglich, dass aus Sicht des behandelnden Arztes ein potentieller Zusammenhang mit einer Impfung nicht auszuschließen ist und er daher seiner Meldepflicht nach § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 IfSG („Namentlich ist zu melden: … 3. der Verdacht einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung“) nachkommen will. Nicht belegt ist aber mit einer derartigen Meldung, dass sich ein impfschadensrechtlicher Zusammenhang auch nach dem aktuellen Kenntnisstand der Medizin herstellen lässt. Der Senat verweist insofern auch auf den Internetauftritt des P.-E.-Instituts, in dem auf Folgendes hingewiesen wird:
„Impfstoffe sind, wie alle anderen wirksamen Arzneimittel auch, nicht völlig frei von Nebenwirkungen. Die Anforderungen an die Sicherheit von Impfstoffen sind höher als etwa an Arzneimittel zur Behandlung schwer erkrankter Personen. Denn es sind in der Regel gesunde Kinder, Jugendliche und Erwachsene, welche geimpft werden. In äußerst seltenen Fällen können Impfstoffe zu Gesundheitsstörungen und Erkrankungen führen. Ein zeitlicher Zusammenhang von Impfung und einer Erkrankung begründet einen Verdacht, ist aber noch kein Beweis dafür, dass eine Impfung die Krankheit verursacht hat.
Für Verdachtsfälle von Impfreaktionen, die über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehen, besteht nach Infektionsschutzgesetz eine Verpflichtung für den impfenden Arzt, dies an das zuständige Gesundheitsamt zu melden. Von dort erhält das P.-E.-Institut die Daten in anonymisierter Form. Die Experten des Referats Arzneimittelsicherheit prüfen jede Meldung und beurteilen aufgrund der gemeldeten und ggf. recherchierten Informationen, ob ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung als gesichert, wahrscheinlich, möglich, unwahrscheinlich oder auch wegen fehlender Daten nicht zu beurteilen ist. Ziel dieser Bewertungen ist es, mögliche Risikosignale bei einem Impfstoff frühzeitig zu erkennen um Maßnahmen zur Risikominimierung ergreifen zu können. Sehr seltene, aber vielleicht schwerwiegende Nebenwirkungen können auch in großen klinischen Prüfungen nicht entdeckt werden, sondern erst dann, wenn sehr viele Menschen den betreffenden Impfstoff erhalten haben. Daher ist die Beobachtung, Meldung und Bewertung von Verdachtsfällen auf Impfkomplikationen äußerst wichtig.“
(https://www…de/DE/arzneimittel/impfstoff-impfstoffe-fuer-den-menschen/informationen-zu-impfstoffen-impfungen-impfen.html – Stand 11.07.2018)
Im Rahmen der Widerspruchsbegründung hat der Kläger beanstandet, dass er über das Risiko der Impfung weder mündlich noch schriftlich aufgeklärt worden und daher die Impfung nicht rechtskonform erfolgt sei. Jedenfalls hätte er auf das Impfrisiko hingewiesen werden müssen, so dass schon deshalb die Aufklärung nicht wirksam sei. Dies ergebe sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs. Dabei verkennt der Kläger, dass sich die versorgungsrechtliche Beurteilung, ob ein Impfschaden vorliegt, nicht nach zivilrechtlichen Grundsätzen und den im Zivilrecht geltenden Beweislastregeln beurteilt, sondern nach den im Sozialrecht geltenden Vorgaben. Dabei ist es für die Beurteilung, ob ein Impfschaden vorliegt, ohne rechtliche Bedeutung, ob der Geimpfte – im zivilrechtlichen und ggf. strafrechtlichen Sinne – ordnungsgemäß aufgeklärt worden ist oder nicht.
Im Rahmen der Klagebegründung haben die Bevollmächtigten des Klägers ihre Ansicht geäußert, dass von der Rechtsprechung des BSG vorgesehen sei, dass eine Nutzen-Lasten-Analyse Voraussetzung für die Impfempfehlung und diese grobfehlerhaft und unzureichend durchgeführt worden sei. Diese Ansicht findet jedoch in der Rechtsprechung des BSG keine Stütze. Ob und wie es zu der öffentlichen Impfempfehlung gekommen ist, ist für die Beurteilung nach dem IfSG ohne rechtliche Bedeutung.
Der Senat weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass die Beiziehung von arzneimittelrechtlichen Zulassungsunterlagen, in denen auch eine Nutzen-Lasten-Analyse des Impfstoffs enthalten sein dürfte, im impfschadensrechtlichen Verfahren grundsätzlich nicht erforderlich ist. Denn eine Impfschadensversorgung nach § 60 IfSG setzt nur eine nach den dort genannten Voraussetzungen durchgeführte Impfung mit einem in der Regel zugelassenen (siehe dazu auch BSG, Urteile vom 02.10.2008, B 9/9a VJ 1/07 R, und vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R) Impfstoff voraus. Warum die Zulassung erfolgt ist bzw. welche Nutzen-Lasten-Analyse dem zu Grunde lag, ist insoweit nicht von Relevanz bzw. deshalb im Falle eines Impfschadens ja gerade eine Versorgung nach dem IfSG zu leisten (vgl. auch BSG, Urteil vom 20.07.2005, B 9a/9 VJ 2/04 R), weil dem Einzelnen insoweit ein Sonderopfer abverlangt wird. Eine Nutzen-Lasten-Analyse ist daher allein Teil des strengen Zulassungsverfahrens für Impfstoffe, nicht aber maßgebend für die Frage der Kausalität im konkreten Einzelfall (vgl. LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 21.04.2015, L 6 VJ 1460/13, Bayer. LSG, Urteil vom 18.05.2017, L 20 VJ 5/11).
Sofern es die Bevollmächtigten des Klägers dem Beklagten als „geradezu skandalös“ vorhalten, dass dieser einem Zusammenhang entgegenhalte, dass die Erkrankung nicht unmittelbar nach der Impfung, sondern erst eine Woche später aufgetreten sei, weil – so die Bevollmächtigten – medizinisch seit Jahrzehnten von einer Inkubationszeit von bis zu mehreren Wochen ausgegangen werde, ist dieser Vorwurf nicht haltbar. Es verbietet sich, pauschal, undifferenziert und unabhängig von der Impfung und einer potentiellen Primärschädigung von einer Inkubationszeit von bis zu mehreren Wochen auszugehen. Im Übrigen verkennen die Bevollmächtigten bei ihrem Hinweis auf (nicht näher genannte) wissenschaftliche Veröffentlichungen, wonach ein plausibler zeitlicher Zusammenhang zwischen Impfung und Auftreten der neurologischen Symptomatik anzunehmen sei, wenn sich die Symptomatik in einem Zeitraum von innerhalb einer Stunde bis zu einem Monat nach der Impfung manifestiert habe, auch, dass die zwar jetzt beim Kläger auf neurologischem Gebiet vorliegende Erkrankung keine direkte neurologische Ursache hat, sondern ein vermutlich nicht neurologisch bedingter Verschluss einer Arterie durch die Mangelversorgung des Gehirns zu einem neurologischen Schaden geführt hat.
Der Kläger stützt seine Vermutung eines Zusammenhangs zwischen Impfung und Hirninfarkt wesentlich darauf, dass er einen engen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Hirninfarkt sieht und genetische Ursachen und sonstige Risikofaktoren für einen Hirninfarkt als nicht gegeben erachtet. Bei dieser, für einen juristischen Laien durchaus nachvollziehbaren Argumentation übersieht der Kläger aber, dass eine Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Impfschaden nach dem IfSG nicht schon dann in Betracht kommt, wenn andere Ursachen für den Hirninfarkt nicht nachgewiesen sind. Vielmehr muss ein Zusammenhang hinreichend wahrscheinlich oder zumindest im Sinne der Kannversorgung „gut möglich“ sein. Gelingt dieser Nachweis nicht, ist aufgrund der im Sozialrecht geltenden Vorgaben der objektiven Beweislast eine Anerkennung als Impfschaden nicht möglich. Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass ein Nachweis von Alternativursachen in den Fällen schon regelmäßig scheitern würde, in denen – wie hier – über die potentiellen Ursachen einer Gesundheitsschädigung in der medizinischen Wissenschaft weitgehend Unklarheit herrscht.
Es mag zutreffen, dass der im September 2009 in der EU zugelassene Impfstoff Pandemrix jetzt nicht mehr eingesetzt wird, weil bei seiner Anwendung überdurchschnittlich häufig Komplikationen aufgetreten sind, und auch während des Zeitraums, in dem mit ihm geimpft worden ist, ein Alternativimpfstoff zur Verfügung gestanden hat, der – wie dies der Kläger ausführt – bei Bundeswehrsoldaten und Regierungsbeamten zur Anwendung gekommen ist. Dies macht aber einen Zusammenhang zwischen der beim Kläger durchgeführten Impfung mit Pandemrix und dem bei ihm aufgetretenen Hirninfarkt nicht wahrscheinlich, zumal trotz der mit über 30 Mio. sehr oft erfolgten Impfung mit Pandemrix Hirninfarkte auch statistisch betrachtet nicht überdurchschnittlich häufig aufgetreten sind. Jedenfalls liegen keinerlei medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse dahingehend vor, dass eine Impfung mit Pandemrix im Zusammenhang mit einem Hirninfarkt stehen könnte.
Wenn die Bevollmächtigten auf ein Urteil des EuGH vom 21.06.2017 hinweisen, welches sich mit einem französischen Fall eines Impfschadens im Bereich der Produkthaftung befasst hat, und daraus für den Kläger günstige Rückschlüsse ziehen wollen, verkennen sie, dass sich der hier zu entscheidende Fall nach deutschem Impfschadensrecht und nicht nach französischem (zivilrechtlichen) Produkthaftungsrecht beurteilt. Die Entscheidung des EuGH kann daher vorliegend keine Auswirkungen haben.
Die Berufung bleibt deshalb ohne Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Ein Grund für die Zulassung der Revision liegt nicht vor (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).