Aktenzeichen V R 16/12
Art 13 Teil A Buchst c EWGRL 388/77
§ 4 Nr 14 UStG 1999
§ 76 Abs 1 S 2 FGO
§ 203 StGB
Leitsatz
1. Ästhetische Operationen und ästhetische Behandlungen sind nur dann als Heilbehandlung steuerfrei, wenn sie dazu dienen, Personen zu behandeln oder zu heilen, bei denen aufgrund einer Krankheit, Verletzung oder eines angeborenen körperlichen Mangels ein Eingriff ästhetischer Natur erforderlich ist.
2. Zum Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Arzt und Patient ist es bei Überprüfung der Umsatzsteuerfreiheit von Heilbehandlungsleistungen erforderlich, das für richterliche Überzeugungsbildung gebotene Regelbeweismaß auf eine “größtmögliche Wahrscheinlichkeit” zu verringern. Zugleich hat der Steuerpflichtige im gesteigerten Maß den ihn nach § 76 Abs. 1 Satz 2 FGO treffenden Mitwirkungspflichten nachzukommen. Dies erfordert detaillierte Angaben zu der mit dem jeweiligen Behandlungsfall verfolgten therapeutischen oder prophylaktischen Zielsetzung.
Verfahrensgang
vorgehend Finanzgericht Rheinland-Pfalz, 12. Januar 2012, Az: 6 K 1917/07, Urteil
Tatbestand
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I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betreibt eine Klinik, in der sie im Streitjahr 2002 durch approbierte Ärzte vorwiegend ästhetisch-chirurgische Maßnahmen wie Fettabsaugungen, Gesichts-, Hals- und Augenlid-Straffungen sowie Brustvergrößerungen, -verkleinerungen und -straffungen durchführte. Sie ging davon aus, dass ihre Leistungen im Zusammenhang mit diesen Operationen nach § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes in der für das Streitjahr (2002) geltenden Fassung (UStG) steuerfrei seien.
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Demgegenüber unterwarf der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt –FA–) die Umsätze in dem Umsatzsteuerbescheid vom 25. September 2003, geändert durch Bescheid vom 6. September 2004, der Umsatzsteuer, indem er die Vergütungen der Klägerin als Gegenleistungen behandelte und einen Vorsteuerabzug berücksichtigte. Einspruch und Klage zum Finanzgericht (FG) hatten keinen Erfolg.
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Nach dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2012, 1783 veröffentlichten Urteil des FG setze die Steuerfreiheit voraus, dass die Diagnose einer Gesundheitsstörung vorliege, ohne die keine Heilbehandlung gegeben sei. Hierzu genügten nicht allgemeine Feststellungen zu Gesundheitsstörungen in Fällen plastischer Operationen; vielmehr müsse in jedem der Leistung zugrunde liegenden Fall konkret eine solche Diagnose vorliegen. Hinzu müsse kommen, dass das Hauptziel der Maßnahme die Beseitigung oder Behandlung der Gesundheitsstörung sei. Liege daneben zumindest gleichgewichtig der Zweck in einer rein ästhetischen Maßnahme, reiche dies für die Steuerfreiheit nicht aus. Für sämtliche Voraussetzungen trage die Klägerin die objektive Beweislast, und zwar für jeden einzelnen Umsatz. Dieser Nachweis werde nicht bereits durch die Einschätzung des behandelnden Arztes erbracht. Auch die von der Klägerin vorgelegten Parteigutachten hätten diesen Nachweis nicht erbracht. Soweit die Gutachten lediglich allgemeine Ausführungen zu Gesundheitsstörungen bei plastischen Operationen enthielten, erfüllten sie nicht die Voraussetzungen des Nachweises, dass diese Voraussetzungen auch in jedem einem Umsatz zugrunde liegenden Einzelfall tatsächlich vorgelegen hätten. Die Einzelfallgutachten des Dr. H seien Parteivortrag und genügten nicht. Der Nachweis der Steuerfreiheit ergebe sich auch nicht aus den Einzelgutachten des Dr. H, denn selbst wenn die Diagnosen tatsächlich vorliegen sollten, sei damit nicht ausgeschlossen, dass die ästhetische Maßnahme nicht zumindest gleichwertiger Zweck der Leistung gewesen sei. Das vom Gericht eingeholte Gutachten durch Frau Dr. M führe zu dem Ergebnis, dass eine medizinische Indikation nur in Ausnahmefällen vorliege. Das Gutachten habe begründet, dass die von der Klägerin durchgeführten plastischen Operationen nur in wenigen Ausnahmefällen der Heilung bzw. Behandlung einer möglichen Gesundheitsstörung gedient hätten. Dies gelte insbesondere für die von der Klägerin hauptsächlich vorgetragenen psychischen Störungen. Gleichermaßen habe die Gutachterin festgestellt, dass eine Liposuktion grundsätzlich nicht der Behandlung von Fettleibigkeit diene und dass es für Softlifting keine medizinische Indikation gebe. Unter diesen Umständen könne die Steuerbefreiung nur gewährt werden, wenn die Voraussetzungen durch Einzelbegutachtungen sämtlicher Leistungen nachgewiesen würden. Nach dem vom Gericht eingeholten Gutachten sei es grundsätzlich möglich, anhand der Patientendokumentationen auch im Nachhinein noch eine Diagnose zu erstellen. Eine Begutachtung setze im Hinblick auf § 203 des Strafgesetzbuchs (StGB) aber in jedem Fall das Einverständnis des betroffenen Patienten voraus. Der Nachweis der medizinischen Indikation könne nicht durch die Begutachtung von anonymisierten Patientenunterlagen erbracht werden, da diese Rückfragen des Gutachters ausschlössen. Aufträge zur Einzelbegutachtung hätten nicht erteilt werden können. Die Klägerin habe trotz insoweit eindeutigen Hinweises des Gerichts keine Einverständniserklärungen der betroffenen Patienten vorgelegt. Eine weitere Sachverhaltsaufklärung sei nicht möglich gewesen. Damit könne der Nachweis, dass das Hauptziel dieser Maßnahmen die Beseitigung oder Behandlung einer Gesundheitsstörung –im Sinne der Definition, wie sie bisher von der Rechtsprechung vorgenommen wurde– war, nicht als erbracht angesehen werden.
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Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer Revision, die sie auf die Verletzung materiellen und formellen Rechts stützt. Sie betreibe eine Fachklinik für plastisch chirurgische Eingriffe und für Diagnostik, Diätetik und Prävention. Durch ihre auf die plastische Chirurgie spezialisierten Fachärzte habe sie ärztliche Leistungen erbracht. Ihre Umsätze hätten sich zu ca. 43 % auf Fettabsaugungen, zu ca. 26 % auf Softlifting, zu ca. 15 % auf Augenlid-Operationen und zu ca. 8 % auf Brustveränderungen bezogen. Das FG habe aufgrund der Mitwirkung der Berichterstatterin bei der Urteilsfindung ihren Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzt. Verletzt sei auch der Anspruch auf rechtliches Gehör, da das FG Privatgutachten unzutreffend gewürdigt habe. Ebenso habe das FG die Pflicht zur richterlichen Sachaufklärung verletzt. Materiell-rechtlich habe das FG den Begriff der Heilbehandlung verkannt. Zu berücksichtigen sei die unterschiedliche Auslegung in den Mitgliedstaaten wie auch durch die nationalen Finanzgerichte. Eine ärztliche Leistung sei steuerfrei, wenn aus Sicht des behandelnden Arztes medizinisch-vertretbar eine therapeutische Zielsetzung der Behandlungsmaßnahme zum Schutze der menschlichen Gesundheit im Sinne einer Vorbeugung, Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung angenommen werde. Diese Feststellung sei vom behandelnden Arzt unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zu treffen. Ärztliche Leistungen der ästhetisch-plastischen Chirurgie seien steuerfrei, da bei ihnen die therapeutische Zielsetzung regelmäßig im Vordergrund stehe. Hierfür spreche auch die Klassifizierung der Weltgesundheitsorganisation. Chirurgisch behandelte Patienten mit Übergewicht hielten aufgrund von Fettabsaugungen (Liposuktion) ihr Gewicht besser und hätten eine signifikant geringere Neigung zu Depressionen als bei einer Gewichtsreduktion mittels Diät. Dies werde durch eine sozialgerichtliche Entscheidung bestätigt. Fettabsaugungen seien nach der ärztlichen Gebührenordnung abrechenbar. Damit liege eine regelmäßige Behandlungsfinanzierung durch die Sozialversicherungsträger vor. Ihre Leistungen der ästhetisch-plastischen Chirurgie hätten auch der Linderung oder Heilung von psychischen Leiden und seelischen Beeinträchtigungen der Patienten gedient. Maßgeblich sei die therapeutische Zielsetzung, nicht aber die Art der Behandlung. Leistungen eines Psychotherapeuten und eines ästhetisch-plastischen Chirurgen dürften nicht ungleich behandelt werden. Es reiche aus, dass die ärztliche Leistung zur Gesundheitsvorsorge erbracht werde. Nicht notwendig sei ein Zusammenhang mit einer drohenden Krankheit. Maßgeblich sei die Beurteilung durch den behandelnden Arzt. Anders sei es nur bei offenkundigen Zweifeln an dessen Beurteilung. Hierfür trage das FA die Feststellungslast. Zu berücksichtigen seien auch Privatgutachten. Die Auffassung des FG erhöhe die Kosten der Heilbehandlung. Der verantwortlich behandelnde Arzt für alle Umsätze im Streitfall, Dr. He. habe in jedem Einzelfall die medizinische Indikation geprüft und bejaht. Hieran bestünden keine offenkundigen Zweifel. Bestätigt werde dies durch die Privatgutachten von Dr. Bo. und Dr. Ha., insbesondere die Einzelgutachten des Dr. Ha. Für die Steuerfreiheit ihrer Leistungen spreche auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH). Maßgeblich seien danach die Feststellungen des behandelnden Arztes. Eine Mitursächlichkeit des therapeutischen Zwecks reiche aus. Das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass der therapeutische Zweck Hauptziel der Behandlung sein müsse. Der behandelnde Arzt habe im Streitfall in Übereinstimmung mit den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Ästhetische Chirurgie zur Liposuktion (GÄCD-Leitlinien) gehandelt, die auch sozialversicherungsrechtlich von Bedeutung seien. Zumindest sei eine Vorlage an den EuGH erforderlich.
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Die Klägerin beantragt,den Umsatzsteuerbescheid 2002 vom 25. September 2003 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 6. Juni 2007 unter Aufhebung des Urteils des FG dahingehend zu ändern, dass die Veranlagung wie erklärt mit der Maßgabe durchgeführt wird, dass die streitigen Umsätze der Klägerin aus ärztlichen Behandlungsleistungen der plastischen Chirurgie steuerfrei behandelt werden.
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Das FA beantragt,die Revision zurückzuweisen.
7
Das FG habe verfahrensfehlerfrei entschieden. Es entspreche der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH), dass eine Einzelbetrachtung erforderlich sei. Es lägen keine hinreichenden Nachweise für eine Steuerfreiheit vor.