Aktenzeichen 3 Ni 4/19, verb. mit 3 Ni 8/19, verb. mit 3 Ni 9/19, verb. mit 3 Ni 10/19, verb. mit 3 Ni 11/19
Tenor
In der Nichtigkeitssache
betreffend das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel
12 2004 000 026
hat der 3. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2020 durch den Vorsitzenden Richter Schramm, den Richter Schwarz, die Richterin Dipl.-Chem. Dr. Münzberg sowie die Richter Dipl.-Chem. Dr. Jäger und Dipl.-Chem. Dr. Freudenreich
für Recht erkannt:
I. Das ergänzende Schutzzertifikat DE 12 2004 000 026 wird für nichtig erklärt.
II Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III Das Urteil ist gegen Sicherheitsleitung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Tatbestand
1
Die Klage richtet sich gegen das am 2. April 2019 durch Zeitablauf erloschene ergänzende Schutzzertifikat (im Folgenden: ESZ1) für das Erzeugnis “Ezetimib oder pharmazeutisch annehmbare Salze davon in Kombination mit Simvastatin”, das von der Rechtsvorgängerin der Beklagten beim Deutschen Patent- und Markenamt am 22. Juni 2004 angemeldet und mit Beschluss vom 4. April 2005 unter dem Aktenzeichen 12 2004 000 026.1 erteilt worden ist (vgl. Anlagen TM1 und TM2 zur Klageschrift der Klägerin zu 1).
2
Grundlage dieser Erteilung bildete eine Reihe von Marktzulassungen vom 2. April 2004 für die Kombination der Wirkstoffe Ezetimib und Simvastatin durch das Bundesinstitut für Arzneimittel- und Medizinprodukte, darunter eine Zulassung für das Produkt “INEGY” (vgl. Anlage TM3 zur Klageschrift der Klägerin zu 1), sowie das in englischer Verfahrenssprache erteilte europäische Patent EP 0 720 599 B1 (vgl. Anlage TM4 zur Klageschrift der Klägerin zu 1; im Folgenden: Grundpatent). Das Grundpatent war für die Rechtsvorgängerin der Beklagten aufgrund der internationalen Anmeldung vom 14. September 1994, veröffentlicht als WO 95/08532 am 30. März 1995 unter Inanspruchnahme der Prioritäten aus den US-amerikanischen Anmeldungen 102440 vom 21. September 1993 und 257593 vom 9. Juni 1994, erteilt worden. Die Schutzdauer des beim Deutschen Patent- und Markenamt unter dem Aktenzeichen 694 18 613.9 geführten Grundpatents (vgl. Anlage TM5 zur Klageschrift der Klägerin zu 1) endete am 14. September 2014.
3
Das Grundpatent mit der Bezeichnung “HYDROXY-SUBSTITUTED AZETIDINONE COMPOUNDS USEFUL AS HYPOCHOLESTEROLEMIC AGENTS” (in Deutsch laut Grundpatent: “HYDROXY-SUBSTITUIERTE AZETIDINONDERIVATE ALS HYPOCHOLESTEROLEMISCHE MITTEL”) umfasst in der erteilten Fassung 21 Patentansprüche, von denen die nebengeordneten Patentansprüche 1 und 9 und die auf diese mittelbar oder unmittelbar zurückbezogenen Patentansprüche 7, 8, 16 und 17 lauten:
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4
In deutscher Sprache laut Grundpatent lauten sie:
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5
Für den zweiten, nur in der Prioritätsschrift US 257593 vom 9. Juni 1994 erwähnten Wirkstoff Simvastatin (vgl. Anlage TM7 zur Klageschrift der Klägerin zu 1) wurde auf der Grundlage des europäischen Patents zur Anmeldung 0 033 538 (vgl. jeweils Anlage NK10 zu den Klageschriften der Klägerinnen zu 2 und 3) das ergänzende Schutzzertifikat DE 193 75 002.3 erteilt, dessen Schutzdauer am 7. Mai 2003 und somit vor der Anmeldung des ESZ1 endete (vgl. TM11 zur Klageschrift der Klägerin zu 1).
6
Ebenfalls auf Grundlage des Grundpatents sowie der Marktzulassung vom 17. Oktober 2002 durch das Bundesinstitut für Arzneimittel- und Medizinprodukte für das Produkt “EZETROL” mit dem Wirkstoff Ezetimib (vgl. Anlage TM10 zur Klageschrift der Klägerin zu 1) wurde vom Deutschen Patent- und Markenamt am 4. April 2005 aufgrund der Anmeldung der Beklagten vom 2. Januar 2003 ein ergänzendes Schutzzertifikat auch für das Produkt “Ezetimib oder ein pharmazeutisch annehmbares Salz hiervon” (vgl. Anlage TM8 zur Klageschrift der Klägerin zu 1) unter dem Aktenzeichen 103 99 001.1 erteilt (im Folgenden: ESZ2). Die Schutzdauer dieses Schutzzertifikats endete einschließlich der pädiatrischen Verlängerung durch Zeitablauf am 17. April 2018.
7
Die Beklagte hat beim Landgericht Düsseldorf gegen die Klägerinnen zu 1, 2, 3 und 5 jeweils einstweilige Verfügungen vom 3. Mai 2018 (Az. …) und vom 16. Mai 2018 (Az. …, …, …) sowie gegen zwei mit der Klägerin zu 4 durch Beherrschungs- und Ergebnisabführverträge verbundene Konzernunternehmen (Az. … und …) erwirkt, mit denen den Antragsgegnerinnen jeweils untersagt worden war, Arzneimittel, enthaltend Ezetimib oder pharmazeutisch annehmbare Salze davon in Kombination mit Simvastatin im Inland anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen. Mit Urteilen vom 1. Oktober 2018 und vom 18. Dezember 2018 hat das Landgericht Düsseldorf die einstweiligen Verfügungen wieder aufgehoben und die jeweiligen Anträge der Beklagten auf den Erlass einstweiliger Verfügungen zurückgewiesen. Die hiergegen gerichteten Berufungen der Beklagten hat das OLG Düsseldorf zurückgewiesen. Die Beklagte hat im vorliegenden Verfahren erklärt, an ihren Ansprüchen gegen die Klägerinnen bzw. deren Tochterunternehmen wegen möglicher Verletzungen des streitgegenständlichen Schutzzertifikats festzuhalten.
8
Mit ihren Nichtigkeitsklagen begehren die Klägerinnen die Nichtigerklärung des streitgegenständlichen Schutzzertifikats ESZ1. Die Klägerin zu 1 hat dabei das Verfahren aufgrund ihres Schriftsatzes vom 31. Mai 2019 anstelle der ursprünglich klagenden G… Limited (trading as M…) mit Zustimmung der früheren Klägerin und der Beklagten übernommen.
9
Die Klägerinnen sind der Ansicht, das angegriffene ESZ1 sei mangels Vorliegens der Voraussetzungen nach Art. 3 lit. a), c) und d) der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (ABl. L 152, S. 1; im Folgenden: AMVO) für nichtig zu erklären. Die Beklagte ist dem Vorbringen im Einzelnen entgegengetreten. Soweit für die vorliegende Entscheidung aber möglicherweise singuläre relevante Rechtsfragen vom Europäischen Gerichtshof (im Folgenden: EuGH) noch nicht geklärt seien, regen die Klägerinnen zu 2 und 3 sowie die Beklagte jeweils die Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH an, wozu sie ausgearbeitete Vorschläge unterbreiten.
10
Zur Stützung ihrer Vorträge haben die Parteien neben den bereits erwähnten Dokumenten zahlreiche weitere Unterlagen eingereicht. Zur Rechtsprechung werden u.a. angeführt (mit der nachfolgend verwendeten Abkürzung und mit Angabe der von den Parteien verwendeten Kurzzeichen):
11
Actavis 1 EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2013, Az. C-443/12 (NK6, HW6, ABNK4),
12
Actavis 2 EuGH, Urteil vom 12. März 2015, Az. C-577/13
13
(NK5, HW11, ABNK3),
14
Teva ./. Gilead EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, Az. C-121/17
15
(TM13, HW19, ABNK20),
16
Georgetown EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2013, Az. C-484/12 (NK9, HW7, ABNK9),
17
Royalty Pharma EuGH, Urteil vom 30. April 2020, Az. C-650/17
18
(ABNK41),
19
IEHC ´19 High Court Commercial, [2019] IEHC 814 vom 29. November 2019 (HW32, N30),
20
Gerechtshof ´18 Gerichtshof Den Haag, Urteil vom 23. Oktober 2018, Akz. 200.242.287/01, deutsche Übersetzung (N18a),
21
Juzgado Mercantil ´18 Handelsgericht Barcelona, Gerichtlicher Beschluss 231/2018 vom 12. September 2018, deutsche Übersetzung (N21a),
22
OLG Düsseldorf ´19 Oberlandesgericht Düsseldorf, Urteil vom 15. März 2019, Akz. I-2 U 62/18 (N28),
23
Cour d’appel de Paris ´20 Berufungsgericht Paris, Urteil vom 25. September 2020, Akz. 18/23642 (HW35).
24
Zum technischen Hintergrund wurden u.a. folgende Druckschriften behandelt:
25
Illingworth ´88 D.R. Illingworth, Drugs 36 (Suppl. 3), 1988, S. 63-71 (TM12, HW25, NK21),
26
WO ’048 WO 93/02048 A1 (TM23),
27
Ärzteblatt ’90 Assmann, G. et al., Dt. Ärzteblatt 87 (17), 1990, S. A1358-A1382 (NK13/Exh.7),
28
Assmann ’15 Gutachten Prof. A…, 24. August 2015, inenglischer Sprache mit deutscher Übersetzung (ABNK8),
29
Hoeg ´86 HOEG, J.M. et al., Atherosclerosis 60, 1986, S. 209-214 (ABNK31),
30
Ikeda ´88 I. Ikeda et al., Journal of Lipid Research 29, 1988, S. 1573-1582 (NK46, HW21),
31
BfArM ’04 Zulassungsbescheid 58878.00.00 des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte für das Produkt INEGY vom 2. April 2004 (TM3, NK25, HW2).
32
Zur Begründung ihrer Klagen tragen die Klägerinnen vor:
33
Auch wenn die Schutzdauer des in Streit stehenden ESZ1 bereits abgelaufen sei, hätten sie ein Rechtsschutzbedürfnis an seiner Nichtigerklärung. Denn nachdem die Beklagte sie bzw. ihre Konzernunternehmen bereits im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, wenn auch im Ergebnis erfolglos, in Anspruch genommen habe, müssten sie weiterhin eine erneute Inanspruchnahme durch eine Verletzungsklage befürchten, da sich die Beklagte nach wie vor entsprechender Ansprüche berühme. Zudem könnten sie ihren durch die zunächst erlassenen einstweiligen Verfügungen bis zu deren Aufhebung erlittenen Schaden nach § 945 ZPO lediglich dann geltend machen, wenn die fehlende Bestandsfähigkeit des ESZ1 feststehe, was nur mittels der Nichtigerklärung möglich sei.
34
Das ESZ1 sei entgegen Art. 3 lit. a), c) und d) AMVO erteilt worden, so dass es für nichtig erklärt werden müsse. Auch wenn das Schutzzertifikat ein Recht sui generis sei, müssten die erfindungsrelevanten Vorteile bereits im Grundpatent enthalten sein und könnten nicht erst durch die Anstrengungen bei der Marktzulassung begründet werden. Daher habe die Beurteilung des Kombinationspräparates auf Basis des Grundpatents und Fachwissens am Prioritätstag zu erfolgen, dahingehend, ob eine Wirkstoffkombination lediglich eine Ausführungsform des Monowirkstoffs oder eine eigenständige Innovation darstelle.
35
Nach der Rechtsprechung des EuGH seien dabei die Ziele der AMVO zu beachten, wonach die Erteilung eines Schutzzertifikats nicht von dessen zufälligem Erteilungsdatum abhängig sein könne und das sukzessive Inverkehrbringen eines Wirkstoffs mit weiteren Wirkstoffen, die als solche nicht Gegenstand der vom Grundpatent geschützten Erfindung bildeten, verhindert werden soll, wenn bereits ein Schutzzertifikat für den Monowirkstoff der Erfindung erteilt und in Anspruch genommen worden sei. Dabei sei auf das Datum der ersten Genehmigung des Inverkehrbringens abzustellen, hier also der älteren Zulassung von “EZETROL” vor der Zulassung von “INEGY”. Unter bestimmten Umständen wie gleicher Laufzeit könnten zwar Schutzzertifikate für Mono- und Kombinationswirkstoffe erteilt werden, sofern diese jeweils durch das Grundpatent geschützt seien, dies gelte aber nicht, wenn die Kombination keine eigene Innovation darstelle und daher nicht Gegenstand eines eigenen Grundpatents sein könne. Der EuGH folge dem Grundsatz, dass zumindest ein Teil des Rückstands der wirtschaftlichen Verwertung, der aufgrund der Zeitspanne von der Einreichung der Patentanmeldung bis zur Erlangung der Marktzulassung eingetreten ist, ausgeglichen werden soll. Dies bedeute indes keine Vollamortisierung. Nach der Actavis-Rechtsprechung des EuGH ermögliche nur das Vorliegen mehrerer Erfindungsgegenstände eine Mehrfachzertifizierung. Insoweit liefere Art. 1 lit. b) AMVO die Legaldefinition des Erzeugnisbegriffes, während Art. 3 lit. a) und c) AMVO zwar beide denselben Erzeugnisbegriff verwendeten, Art. 3 lit. c) jedoch das Zusatzerfordernis von zwei Erzeugnissen als unterschiedliche Erfindungsgegenstände aufstelle, das von dem Erzeugnis gemäß ESZ1 nicht erfüllt werde.
36
Im Grundpatent sei die Kombination von Ezetimib und Simvastatin weder spezifiziert noch schreibe es dieser Kombination eine unerwartete Wirkung hinsichtlich etwa Synergie, Verträglichkeit oder verringerten Nebenwirkungen zu, die eine eigenständige Erfindung begründen könne. Im Fall des in Actavis 2 thematisierten Wirkstoffs Telmisartan hätte das Grundpatent sogar Effekte zum Kombinationspräparat geschildert, welche in dem Urteil des EuGH als nicht ausreichend für die Erteilung eines zweiten Schutzzertifikates angesehen worden seien. Vorliegend bildeten neue hydroxy-substituierte Azetidinonverbindungen den offensichtlichen Mittelpunkt des Grundpatents, während es zu besonderen Eigenschaften der als Kombinationspartner aufgelisteten Verbindungen schweige. Spezifische Erkenntnisse zum Monowirkstoff sagten auch nichts zur Kombination aus, die für den Fachmann im Lichte des im Grundpatent genannten Standes der Technik auf der Hand gelegen hätte. Mit der zertifikatsspezifischen Prüfung der erfinderischen Qualität werde spekulativen Vorschlägen im Grundpatent begegnet, was keine materielle Prüfung der Patentfähigkeit darstelle.
37
Im Übrigen belegten auch die nach Erteilung des Grundpatents im Rahmen der Zulassung von “EZETROL” erhaltenen Ergebnisse zum Einfluss der Zugabe von Ezetimib zu Statinen, darunter Simvastatin, auf die Plasmakonzentration von LDL-Cholesterin keine ungewöhnlichen Effekte. Auch die von der Beklagten vertretene Qualifikation von Ezetimib als “first in class” Wirkstoff bleibe als Eigenschaft des Monowirkstoffs ohne Konsequenz für die Kombination, ebenso wie ein spezifischer Wirkmechanismus von Ezetimib auf molekularer Ebene. Denn das Grundpatent treffe nur Aussagen zu den Wirkorten Darm und Leber, in welchen die Cholesterinabsorption bzw. die Produktion von Cholesterinestern verhindert oder vermindert werde, und diese Wirkung sei bereits in der vorveröffentlichten internationalen Anmeldung WO ´048 beschrieben. Der nach dem Prioritätszeitpunkt des Grundpatents ermittelte Wirkmechanismus des Wirkstoffs Ezetimib sei, wie in Ikeda ’88 beschrieben, schon zum Prioritätszeitpunkt bei Pflanzensterolen bekannt gewesen. Dazu komme, dass Kombinationstherapien mit Wirkstoffen, die auf unterschiedliche Angriffspunkte zielten, zum Prioritätszeitpunkt üblich und vorzugswürdig gewesen seien, wie sich bspw. schon aus Illingworth ´88 ergebe und wie der Gutachter der Beklagten ebenfalls vor dem Prioritätszeitpunkt des Grundpatents im Ärzteblatt ’90 publiziert habe. Dagegen spreche auch nicht, dass manche Kombinationen keine hinreichende Wirkung zeigten. Da im Grundpatent der Wirkstoffkombination keine unerwartete Wirkung zugeschrieben sei, die eine eigenständige Erfindung begründen könnte, sei auf jeden Fall Art. 3 lit. c) AMVO nicht erfüllt. Nicht zuletzt habe mit dem Schutzzertifikat für “EZETROL” bereits ein Schutz für die Verwendung von Ezetimib in Kombination mit Simvastatin bestanden, der vollständig ausgeschöpft worden sei.
38
Weiter sei das streitgegenständliche ergänzende Schutzzertifikat entgegen Art. 3 lit. a) AMVO erteilt worden, da es insoweit der Prüfung eines für die Lösung des technischen Problems erforderlichen Merkmals und eines damit notwendigen Mittels bedürfe, wonach das bloße Erwähnen eines Wirkstoffs im Patentanspruch nicht genüge. Vielmehr müsse das Erzeugnis nach der Rechtsprechung des EuGH die durch die Forschungsergebnisse im Grundpatent gedeckte Lösung für ein technisches Problem enthalten, welche vorliegend dem Grundpatent aber nicht zu entnehmen sei.
39
Schließlich sei auch Art. 3 lit. d) AMVO nicht erfüllt. Denn die Zulassung von “INEGY” beruhe auf denselben klinischen Studien wie die Zulassung von “EZETROL”, die über 1,5 Jahre früher beantragt wurde, was einer ungerechtfertigten Verlängerung des Monowirkstoffs in Form der Kombination gleichkomme. Mit der Zulassung für “EZETROL” liege folglich eine erste Genehmigung auch für “INEGY” vor. Zwar betreffe die arzneimittelrechtlich notwendige Zulassung von “INEGY” eine neue Formulierung, dies sei aber nach der Rechtsprechung des EuGH unbeachtlich.
40
Soweit sich die Beklagte auf parallele ausländische Verfahren berufe, seien viele dieser Entscheidungen im einstweiligen Verfügungsverfahren ergangen, welchen die Gerichtsentscheidungen des OLG Düsseldorf, aber auch in den Niederlanden und in Frankreich gegenüber stünden, die die Erteilung des in Streit stehenden ESZ1 als Verstoß gegen Art. 3 lit. c) AMVO gewertet hätten.
41
Die Klägerinnen beantragen,
42
das ergänzende Schutzzertifikat DE 12 2004 000 026 für nichtig zu erklären.
43
Die Beklagte beantragt,
44
die Klagen abzuweisen.
45
Die Beklagte trägt vor:
46
Die Voraussetzungen zur Erteilung des angegriffenen ESZ1 nach Art. 3 AMVO seien erfüllt. Ein Schutzzertifikat sei als Schutzrecht sui generis autonom und ohne Begriffe oder Voraussetzungen aus dem Patentrecht auszulegen. Dabei dürfe es sich auch auf Informationen der Marktzulassung stützen.
47
Vorliegend sei Art. 3 lit. a) AMVO nach der Rechtsprechung des EuGH erfüllt. Denn entsprechend der Entscheidung Teva ./. Gilead sei die Wirkstoffkombination von Ezetimib und Simvastatin in den Patentansprüchen des Grundpatents ausdrücklich genannt. Der “core inventive advance”-Ansatz (der Wirkstoff als alleiniger Gegenstand der Erfindung), den die Entscheidung des EuGH Actavis 2 erwähne, sei infolge der späteren Entscheidungen des EuGH, insbesondere aufgrund von Teva ./. Gilead und Royalty Pharma überholt, wonach die Prüfung, ob die Wirkstoffkombination auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen nach Art. 3 lit. a) AMVO nicht zulässig sei.
48
Ebensowenig stehe die Regelung in Art. 3 lit. c) AMVO der Erteilung des Schutzzertifikats entgegen. Denn beide Schutzzertifikate seien am selben Tag erteilt worden. Damit könne keines dem anderen, wie dies aber Art. 3 lit. c) AMVO fordere, zeitlich vorgehen, so dass auch nicht entschieden werden könne, welche der beiden gleichzeitigen Erteilungen gegen Art. 3 lit. c) AMVO verstoße. Wenn ein Erzeugnis im Sinne des Art. 1 lit. b) AMVO die Voraussetzung nach Art. 3 lit. a) AMVO erfülle, könne bei Art. 3 lit. c) AMVO keine andere Erzeugnisdefinition verwendet werden. Da die Kombination aus Ezetimib und Simvastatin, welche mit dem ESZ1 geschützt sei und unter den Schutz des Grundpatents falle, ein anderes Erzeugnis als Ezetimib allein sei, könne die Erteilung des ESZ2 für den Monowirkstoff Ezetimib der Erteilung des ESZ1 nicht entgegenstehen. Nach der Rechtsprechung des EuGH in Georgetown sei es gerade nicht ausgeschlossen, mehrere Schutzzertifikate für mehrere durch ein Grundpatent geschützte Erzeugnisse bzw. Innovationen zu erteilen. Für die vom Senat in seinem qualifizierten Hinweis vom 7. April 2020 vorgenommene “core inventive advance”-Prüfung der Wirkstoffkombination fehle daher die Rechtsgrundlage.
49
Darüber hinaus stelle die Kombination aus Ezetimib und Simvastatin auch eine eigene Erfindung dar. Ezetimib sei als hydroxy-substituiertes Azetidinon, das am Niemann-Pick C1-like protein 1 angreife, die “first-in-class”-Verbindung selektiver Inhibitoren der Cholesterinabsorption, vergleichbar mit seinerzeit der “first-in-class”-Verbindung Losartan unter den HMG CoA Reduktase Inhibitoren (Statinen). Hierin unterscheide sich der vorliegende Fall auch von den Sachverhalten in den Actavis-Entscheidungen des EuGH, die keine Abgrenzungskriterien für unterschiedliche Innovationen konkretisiert hätten, sondern das Vorhandensein nur einer Innovation als bekannt vorausgesetzt hätten. In diesen Entscheidungen habe sich das Erteilungsverbot nur auf Erzeugnisse mit einem Wirkstoff, der allein den Gegenstand der Erfindung im Grundpatent bilde, bezogen. Im Fall einer eigenständigen Innovation, hier der streitgegenständlichen “first in class”-Verbindung müsse für die Kombination die Erteilung eines Schutzzertifikats möglich sein. Zudem sei es wegen des zeitlichen und wirtschaftlichen Aufwands unrealistisch, für immer neue Ausschnitte der geschützten Verbindung eines Grundpatents eigene Schutzzertifikate anzumelden.
50
Das Grundpatent belege in den Abs. [0001], [0016], [0017], [0028] und [0066] die Kombination als eigenständige Innovation. Hierfür seien klinische Daten nicht erforderlich. Auch eine nähere Beschreibung der erfinderischen Tätigkeit sei hierfür nicht erforderlich und mangels vorveröffentlichter hydroxy-substituierter Azetidinone auch nicht möglich gewesen. Dabei könne nicht, wie die Klägerinnen meinen, auf einen “fiktiven Stand der Technik” abgestellt werden, denn dieser sei dem Patentrecht fremd. Kombinationstherapien seien damals nur in Ausnahmefällen und bei schwerer Hypercholesterinämie mit umstrittenem Nutzen angewandt worden, und zum Prioritätstag des Grundpatents sei kein Fixdosis-Kombinationspräparat auf dem Markt gewesen. Der bei Anmeldung des Grundpatents vorbekannte Stand der Technik hätte solche Kombinationen wegen schwerer Nebenwirkungen auch nur in Betracht gezogen, nicht aber empfohlen. Auch bei dem innovativen Statin Lovastatin habe ein großes Risiko bestanden. Zwar seien Statine als Therapeutika für Hypercholesterinämie bekannt gewesen, ihr Nutzen bei koronaren Herzkrankheiten sei hingegen nicht zweifelsfrei belegt gewesen. Daher hätten Gallensäuresequestriermittel, welche die Absorption von Gallensäure inhibierten, die erste Wahl für Kombinationstherapien dargestellt, welche aber keine Ähnlichkeit zu einem Biosyntheseinhibitor aufwiesen. Kombinationstherapien wären ohnehin nur mit hypocholesterinämischen Mitteln vorstellbar gewesen, deren Wirkmechanismen und Nebenwirkungen bekannt gewesen wären. Ein Stand der Technik zur Kombination von hydroxy-substituierten Azetidinonen mit einem anderen hypocholesterinämischen Mittel sei aber nicht nachgewiesen worden. Auch zeigten wissenschaftliche Arbeiten zur Kombination insoweit unterschiedlich wirkender Mittel wie Neomycin/Mevinolin, Simvastatin/Cholestyramin oder Simvastatin/Bezafibrate keine erkennbare Zusatzwirkung. Eine angemessene Erfolgserwartung für die im Grundpatent beschriebene Kombination habe daher auch nicht bestehen können und gehe an der Realität der Arzneimittelforschung vorbei. Auch fordere der EuGH in den Actavis-Urteilen insoweit keine experimentellen Daten.
51
Allerdings würden die überraschenden Effekte dieser Kombination durch nachveröffentlichte Daten, wegen derer die Beklagte auf verschiedene von ihr eingereichte Unterlagen verweist, belegt. Diese Erkenntnisse seien zu berücksichtigen, wie sich schon aus den Prüfungsrichtlinien des Europäischen Patentamts ergebe. Denn die Wirksamkeit sei bereits im Grundpatent beschrieben, weshalb auch keine Gefahr bestehe, durch die Erteilung des ESZ1 den Schutzbereich zu erweitern. Es sei zu beachten, dass die Kombination von Ezetimib mit Simvastatin die notwendige Menge an Statin reduziere, was zu überraschend besseren Ergebnissen führe.
52
Schließlich stehe auch Art. 3 lit. d) AMVO der Erteilung des ESZ1 nicht entgegen. Denn die Zulassung für “EZETROL” stelle keine arzneimittelrechtliche Zulassung für ein Fertigarzneimittel wie das Kombinationsprodukt “INEGY” dar. Aus diesem Grund verwende der Zulassungsbescheid für “EZETROL” den Ausdruck “mit angewendet”, was im Gegensatz zur Forderung des Art. 10 (b) der Richtlinie 2001/83/EG und dem Anmelderhinweis keine Zulassung bedeute.
53
Für die Schutzfähigkeit des ESZ1 spreche schließlich auch, dass nach derzeitigem Stand in den ausländischen Parallelverfahren wie in Portugal oder Norwegen überwiegend zugunsten der Beklagten geurteilt worden wäre.