Patent- und Markenrecht

(Nichtigkeitsklageverfahren – “Wirkstoffkombination Ezetimib/Simvastatin” – Zur Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikates für Arzneimittel – Zum Ausgleich des Rückstandes in der wirtschaftlichen Verwertung einer Erfindung durch ein ergänzendes Schutzzertifikat – Für die Bestimmung des durch das ergänzende Schutzzertifikat mit einem verlängerten Schutz zu versehenden Erfindungsgegenstandes kommt es allein auf die Angabe im Grundpatent an – Zur Bewertung der Frage, ob eine Wirkstoffkombination als gesonderte Erfindung anzusehen ist – Für die Beurteilung der Voraussetzungen in Art. 3 lit. c) EGV 469/2009  (AMVO), dass für das Erzeugnis nicht bereits ein Zertifikat erteilt wurde, ist allein auf den Zeitpunkt der ersten arzneimittelrechtlichen Genehmigung für das Inverkehrbringen eines der Wirkstoffe abzustellen – Zur Frage, ob ein Grundpatent einen Wirkstoff schützt oder ob eine Wirkstoffkombination eine eigenständige Innovation bildet.)

Aktenzeichen  3 Ni 4/19, verb. mit 3 Ni 8/19, verb. mit 3 Ni 9/19, verb. mit 3 Ni 10/19, verb. mit 3 Ni 11/19

Datum:
9.10.2020
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Gerichtsort:
München
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BPatG:2020:091020U3Ni4.19.0
Normen:
§ 16a Abs 2 PatG
§ 22 PatG
Art 3 Buchst c EGV 469/2009
Art 15 Abs 1 Buchst a EGV 469/2009
Spruchkörper:
3. Senat

Leitsatz

Wirkstoffkombination Ezetimib/Simvastatin
1. Durch das ergänzende Schutzzertifikat soll allein – wenigstens zum Teil – der Rück-stand in der wirtschaftlichen Verwertung einer Erfindung ausgeglichen werden, der aufgrund der Zeitspanne von der Einreichung der Patentanmeldung bis zur Erteilung der Marktzulassung eingetreten ist, nicht aber dem Patentinhaber die Verwertung aller möglichen Formen der Erfindung, auch in Gestalt verschiedener Zusammensetzungen mit demselben Wirkstoff, die für sich genommen entweder nicht vom Grundpatent geschützt oder nicht eigenständig innovativ sind, ermöglicht werden (Anschluss an EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2013, Az. C-443/12, Rn. 31 und 40 – Actavis 1).
2. Für den Fall, dass ein Grundpatent mehrere Erzeugnisse i.S.v. Art. 1 lit. b) AMVO schützt, hängt die Erteilung mehrerer Schutzzertifikate für diese Erzeugnisse daher nach der insoweit einschränkend zu verstehenden Voraussetzung in Art. 3 lit. c) AMVO davon ab, dass es sich bei den fraglichen Erzeugnissen um unterschiedliche Innovationen handelt. Die Ertei-lung mehrerer Schutzzertifikate für jedes sukzessive Inverkehrbringen eines innovativen Wirkstoffs in Kombination mit einem anderen, durch das Grundpatent nicht als solchen geschützten Wirkstoff, ist demgegenüber unzulässig; ein Zertifikatsschutz kommt vielmehr nur für solche Erzeugnisse in Betracht, die gemäß den Zielen der AMVO eine echte Neuerung darstellen (Anschluss an EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2013, Az. C-443/12 – Actavis 1, und Urteil vom 12. März 2015, Az. C-577/13 – Actavis 2).
3. Dem stehen die weiteren EuGH-Entscheidungen in den Sachen Georgetown (Urteil vom 12. Dezember 2013, Az. C-484/12), Teva ./. Gilead (Urteil vom 25. Juli 2018, Az. C-121/17) und Royalty Pharma (Urteil vom 30. April 2020, Az. C-650/17) nicht entgegen. Viel-mehr bestätigen sie die Grundentscheidungen von Actavis 1 und Actavis 2.
4. Für die Bestimmung des durch das ergänzende Schutzzertifikat mit einem verlängerten Schutz zu versehenden Erfindungsgegenstandes kommt es allein auf die Angaben im Grundpatent an. Erkenntnisse, die erst nach dem für das Grundpatent maßgeblichen Zeitrang, also seinem Prioritäts- oder Anmeldetag, gewonnen wurden, sind daher nicht zu berücksichtigen. Dieser vom EuGH in den Sachen Teva ./. Gilead (a.a.O. Rn. 49) und Royalty Pharma (a.a.O. Rn. 47) zu Art. 3 lit. a) AMVO aufgestellte Grundsatz gilt auch für die Ermittlung des Erfindungsgegenstands bei der Prüfung des Art. 3 lit. c) AMVO.
5. Für die Bewertung der Frage, ob eine Wirkstoffkombination als gesonderte Erfindung anzusehen ist, welche die Erteilung eines eigenen ergänzenden Schutzzertifikats für diese Wirkstoffkombination neben ggf. bestehenden Schutzzertifikaten für die Monowirkstoffe rechtfertigen kann, spielt die Qualifizierung eines der in der Wirkstoffkombination enthaltenen Monowirkstoffes als „first in class“- Wirkstoff keine Rolle.
6. Wie sich aus den Ausführungen des EuGH in seiner Entscheidung Actavis 1 ableiten lässt, ist für die Beurteilung der Voraussetzung in Art. 3 lit. c), dass für das Erzeugnis nicht bereits ein Zertifikat erteilt wurde, allein auf den Zeitpunkt der ersten arzneimittelrechtlichen Genehmigung für das Inverkehrbringen eines der Wirkstoffe abzustellen. Erfolgten die arzneimittelrechtlichen Genehmigungen aufgrund des vom Anmelder nicht zu beeinflussenden Verwaltungsverfahrens am selben Tag, sind zusätzlich die jeweiligen Zeitpunkte der Beantragung dieser Genehmigungen zu berücksichtigen, weil sich der Anmelder bis zur jeweiligen Genehmigung jederzeit noch entscheiden kann, ob er lediglich für einen Monowirkstoff oder für die Wirkstoffkombination Schutz beanspruchen möchte.

Tenor

In der Nichtigkeitssache
betreffend das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel
12 2004 000 026
hat der 3. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 9. Oktober 2020 durch den Vorsitzenden Richter Schramm, den Richter Schwarz, die Richterin Dipl.-Chem. Dr. Münzberg sowie die Richter Dipl.-Chem. Dr. Jäger und Dipl.-Chem. Dr. Freudenreich
für Recht erkannt:
I. Das ergänzende Schutzzertifikat DE 12 2004 000 026 wird für nichtig erklärt.
II Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III Das Urteil ist gegen Sicherheitsleitung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Klage richtet sich gegen das am 2. April 2019 durch Zeitablauf erloschene ergänzende Schutzzertifikat (im Folgenden: ESZ1) für das Erzeugnis “Ezetimib oder pharmazeutisch annehmbare Salze davon in Kombination mit Simvastatin”, das von der Rechtsvorgängerin der Beklagten beim Deutschen Patent- und Markenamt am 22. Juni 2004 angemeldet und mit Beschluss vom 4. April 2005 unter dem Aktenzeichen 12 2004 000 026.1 erteilt worden ist (vgl. Anlagen TM1 und TM2 zur Klageschrift der Klägerin zu 1).
2
Grundlage dieser Erteilung bildete eine Reihe von Marktzulassungen vom 2. April 2004 für die Kombination der Wirkstoffe Ezetimib und Simvastatin durch das Bundesinstitut für Arzneimittel- und Medizinprodukte, darunter eine Zulassung für das Produkt “INEGY” (vgl. Anlage TM3 zur Klageschrift der Klägerin zu 1), sowie das in englischer Verfahrenssprache erteilte europäische Patent EP 0 720 599 B1 (vgl. Anlage TM4 zur Klageschrift der Klägerin zu 1; im Folgenden: Grundpatent). Das Grundpatent war für die Rechtsvorgängerin der Beklagten aufgrund der internationalen Anmeldung vom 14. September 1994, veröffentlicht als WO 95/08532 am 30. März 1995 unter Inanspruchnahme der Prioritäten aus den US-amerikanischen Anmeldungen 102440 vom 21. September 1993 und 257593 vom 9. Juni 1994, erteilt worden. Die Schutzdauer des beim Deutschen Patent- und Markenamt unter dem Aktenzeichen 694 18 613.9 geführten Grundpatents (vgl. Anlage TM5 zur Klageschrift der Klägerin zu 1) endete am 14. September 2014.
3
Das Grundpatent mit der Bezeichnung “HYDROXY-SUBSTITUTED AZETIDINONE COMPOUNDS USEFUL AS HYPOCHOLESTEROLEMIC AGENTS” (in Deutsch laut Grundpatent: “HYDROXY-SUBSTITUIERTE AZETIDINONDERIVATE ALS HYPOCHOLESTEROLEMISCHE MITTEL”) umfasst in der erteilten Fassung 21 Patentansprüche, von denen die nebengeordneten Patentansprüche 1 und 9 und die auf diese mittelbar oder unmittelbar zurückbezogenen Patentansprüche 7, 8, 16 und 17 lauten:
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4
In deutscher Sprache laut Grundpatent lauten sie:
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5
Für den zweiten, nur in der Prioritätsschrift US 257593 vom 9. Juni 1994 erwähnten Wirkstoff Simvastatin (vgl. Anlage TM7 zur Klageschrift der Klägerin zu 1) wurde auf der Grundlage des europäischen Patents zur Anmeldung 0 033 538 (vgl. jeweils Anlage NK10 zu den Klageschriften der Klägerinnen zu 2 und 3) das ergänzende Schutzzertifikat DE 193 75 002.3 erteilt, dessen Schutzdauer am 7. Mai 2003 und somit vor der Anmeldung des ESZ1 endete (vgl. TM11 zur Klageschrift der Klägerin zu 1).
6
Ebenfalls auf Grundlage des Grundpatents sowie der Marktzulassung vom 17. Oktober 2002 durch das Bundesinstitut für Arzneimittel- und Medizinprodukte für das Produkt “EZETROL” mit dem Wirkstoff Ezetimib (vgl. Anlage TM10 zur Klageschrift der Klägerin zu 1) wurde vom Deutschen Patent- und Markenamt am 4. April 2005 aufgrund der Anmeldung der Beklagten vom 2. Januar 2003 ein ergänzendes Schutzzertifikat auch für das Produkt “Ezetimib oder ein pharmazeutisch annehmbares Salz hiervon” (vgl. Anlage TM8 zur Klageschrift der Klägerin zu 1) unter dem Aktenzeichen 103 99 001.1 erteilt (im Folgenden: ESZ2). Die Schutzdauer dieses Schutzzertifikats endete einschließlich der pädiatrischen Verlängerung durch Zeitablauf am 17. April 2018.
7
Die Beklagte hat beim Landgericht Düsseldorf gegen die Klägerinnen zu 1, 2, 3 und 5 jeweils einstweilige Verfügungen vom 3. Mai 2018 (Az. …) und vom 16. Mai 2018 (Az. …, …, …) sowie gegen zwei mit der Klägerin zu 4 durch Beherrschungs- und Ergebnisabführverträge verbundene Konzernunternehmen (Az. … und …) erwirkt, mit denen den Antragsgegnerinnen jeweils untersagt worden war, Arzneimittel, enthaltend Ezetimib oder pharmazeutisch annehmbare Salze davon in Kombination mit Simvastatin im Inland anzubieten, in Verkehr zu bringen oder zu gebrauchen oder zu den genannten Zwecken entweder einzuführen oder zu besitzen. Mit Urteilen vom 1. Oktober 2018 und vom 18. Dezember 2018 hat das Landgericht Düsseldorf die einstweiligen Verfügungen wieder aufgehoben und die jeweiligen Anträge der Beklagten auf den Erlass einstweiliger Verfügungen zurückgewiesen. Die hiergegen gerichteten Berufungen der Beklagten hat das OLG Düsseldorf zurückgewiesen. Die Beklagte hat im vorliegenden Verfahren erklärt, an ihren Ansprüchen gegen die Klägerinnen bzw. deren Tochterunternehmen wegen möglicher Verletzungen des streitgegenständlichen Schutzzertifikats festzuhalten.
8
Mit ihren Nichtigkeitsklagen begehren die Klägerinnen die Nichtigerklärung des streitgegenständlichen Schutzzertifikats ESZ1. Die Klägerin zu 1 hat dabei das Verfahren aufgrund ihres Schriftsatzes vom 31. Mai 2019 anstelle der ursprünglich klagenden G… Limited (trading as M…) mit Zustimmung der früheren Klägerin und der Beklagten übernommen.
9
Die Klägerinnen sind der Ansicht, das angegriffene ESZ1 sei mangels Vorliegens der Voraussetzungen nach Art. 3 lit. a), c) und d) der Verordnung (EG) Nr. 469/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Mai 2009 über das ergänzende Schutzzertifikat für Arzneimittel (ABl. L 152, S. 1; im Folgenden: AMVO) für nichtig zu erklären. Die Beklagte ist dem Vorbringen im Einzelnen entgegengetreten. Soweit für die vorliegende Entscheidung aber möglicherweise singuläre relevante Rechtsfragen vom Europäischen Gerichtshof (im Folgenden: EuGH) noch nicht geklärt seien, regen die Klägerinnen zu 2 und 3 sowie die Beklagte jeweils die Einholung einer Vorabentscheidung durch den EuGH an, wozu sie ausgearbeitete Vorschläge unterbreiten.
10
Zur Stützung ihrer Vorträge haben die Parteien neben den bereits erwähnten Dokumenten zahlreiche weitere Unterlagen eingereicht. Zur Rechtsprechung werden u.a. angeführt (mit der nachfolgend verwendeten Abkürzung und mit Angabe der von den Parteien verwendeten Kurzzeichen):
11
Actavis 1 EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2013, Az. C-443/12 (NK6, HW6, ABNK4),
12
Actavis 2 EuGH, Urteil vom 12. März 2015, Az. C-577/13
13
 (NK5, HW11, ABNK3),
14
Teva ./. Gilead EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018, Az. C-121/17
15
 (TM13, HW19, ABNK20),
16
Georgetown EuGH, Urteil vom 12. Dezember 2013, Az. C-484/12 (NK9, HW7, ABNK9),
17
Royalty Pharma EuGH, Urteil vom 30. April 2020, Az. C-650/17
18
 (ABNK41),
19
IEHC ´19 High Court Commercial, [2019] IEHC 814 vom 29. November 2019 (HW32, N30),
20
Gerechtshof ´18 Gerichtshof Den Haag, Urteil vom 23. Oktober 2018, Akz. 200.242.287/01, deutsche Übersetzung (N18a),
21
Juzgado Mercantil ´18 Handelsgericht Barcelona, Gerichtlicher Beschluss 231/2018 vom 12. September 2018, deutsche Übersetzung (N21a),
22
OLG Düsseldorf ´19 Oberlandesgericht Düsseldorf, Urteil vom 15. März 2019, Akz. I-2 U 62/18 (N28),
23
Cour d’appel de Paris ´20 Berufungsgericht Paris, Urteil vom 25. September 2020, Akz. 18/23642 (HW35).
24
Zum technischen Hintergrund wurden u.a. folgende Druckschriften behandelt:
25
Illingworth ´88 D.R. Illingworth, Drugs 36 (Suppl. 3), 1988, S. 63-71 (TM12, HW25, NK21),
26
WO ’048 WO 93/02048 A1 (TM23),
27
Ärzteblatt ’90 Assmann, G. et al., Dt. Ärzteblatt 87 (17), 1990, S. A1358-A1382 (NK13/Exh.7),
28
Assmann ’15 Gutachten Prof. A…, 24. August 2015, inenglischer Sprache mit deutscher Übersetzung (ABNK8),
29
Hoeg ´86 HOEG, J.M. et al., Atherosclerosis 60, 1986, S. 209-214 (ABNK31),
30
Ikeda ´88 I. Ikeda et al., Journal of Lipid Research 29, 1988, S. 1573-1582 (NK46, HW21),
31
BfArM ’04 Zulassungsbescheid 58878.00.00 des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte für das Produkt INEGY vom 2. April 2004 (TM3, NK25, HW2).
32
Zur Begründung ihrer Klagen tragen die Klägerinnen vor:
33
Auch wenn die Schutzdauer des in Streit stehenden ESZ1 bereits abgelaufen sei, hätten sie ein Rechtsschutzbedürfnis an seiner Nichtigerklärung. Denn nachdem die Beklagte sie bzw. ihre Konzernunternehmen bereits im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes, wenn auch im Ergebnis erfolglos, in Anspruch genommen habe, müssten sie weiterhin eine erneute Inanspruchnahme durch eine Verletzungsklage befürchten, da sich die Beklagte nach wie vor entsprechender Ansprüche berühme. Zudem könnten sie ihren durch die zunächst erlassenen einstweiligen Verfügungen bis zu deren Aufhebung erlittenen Schaden nach § 945 ZPO lediglich dann geltend machen, wenn die fehlende Bestandsfähigkeit des ESZ1 feststehe, was nur mittels der Nichtigerklärung möglich sei.
34
Das ESZ1 sei entgegen Art. 3 lit. a), c) und d) AMVO erteilt worden, so dass es für nichtig erklärt werden müsse. Auch wenn das Schutzzertifikat ein Recht sui generis sei, müssten die erfindungsrelevanten Vorteile bereits im Grundpatent enthalten sein und könnten nicht erst durch die Anstrengungen bei der Marktzulassung begründet werden. Daher habe die Beurteilung des Kombinationspräparates auf Basis des Grundpatents und Fachwissens am Prioritätstag zu erfolgen, dahingehend, ob eine Wirkstoffkombination lediglich eine Ausführungsform des Monowirkstoffs oder eine eigenständige Innovation darstelle.
35
Nach der Rechtsprechung des EuGH seien dabei die Ziele der AMVO zu beachten, wonach die Erteilung eines Schutzzertifikats nicht von dessen zufälligem Erteilungsdatum abhängig sein könne und das sukzessive Inverkehrbringen eines Wirkstoffs mit weiteren Wirkstoffen, die als solche nicht Gegenstand der vom Grundpatent geschützten Erfindung bildeten, verhindert werden soll, wenn bereits ein Schutzzertifikat für den Monowirkstoff der Erfindung erteilt und in Anspruch genommen worden sei. Dabei sei auf das Datum der ersten Genehmigung des Inverkehrbringens abzustellen, hier also der älteren Zulassung von “EZETROL” vor der Zulassung von “INEGY”. Unter bestimmten Umständen wie gleicher Laufzeit könnten zwar Schutzzertifikate für Mono- und Kombinationswirkstoffe erteilt werden, sofern diese jeweils durch das Grundpatent geschützt seien, dies gelte aber nicht, wenn die Kombination keine eigene Innovation darstelle und daher nicht Gegenstand eines eigenen Grundpatents sein könne. Der EuGH folge dem Grundsatz, dass zumindest ein Teil des Rückstands der wirtschaftlichen Verwertung, der aufgrund der Zeitspanne von der Einreichung der Patentanmeldung bis zur Erlangung der Marktzulassung eingetreten ist, ausgeglichen werden soll. Dies bedeute indes keine Vollamortisierung. Nach der Actavis-Rechtsprechung des EuGH ermögliche nur das Vorliegen mehrerer Erfindungsgegenstände eine Mehrfachzertifizierung. Insoweit liefere Art. 1 lit. b) AMVO die Legaldefinition des Erzeugnisbegriffes, während Art. 3 lit. a) und c) AMVO zwar beide denselben Erzeugnisbegriff verwendeten, Art. 3 lit. c) jedoch das Zusatzerfordernis von zwei Erzeugnissen als unterschiedliche Erfindungsgegenstände aufstelle, das von dem Erzeugnis gemäß ESZ1 nicht erfüllt werde.
36
Im Grundpatent sei die Kombination von Ezetimib und Simvastatin weder spezifiziert noch schreibe es dieser Kombination eine unerwartete Wirkung hinsichtlich etwa Synergie, Verträglichkeit oder verringerten Nebenwirkungen zu, die eine eigenständige Erfindung begründen könne. Im Fall des in Actavis 2 thematisierten Wirkstoffs Telmisartan hätte das Grundpatent sogar Effekte zum Kombinationspräparat geschildert, welche in dem Urteil des EuGH als nicht ausreichend für die Erteilung eines zweiten Schutzzertifikates angesehen worden seien. Vorliegend bildeten neue hydroxy-substituierte Azetidinonverbindungen den offensichtlichen Mittelpunkt des Grundpatents, während es zu besonderen Eigenschaften der als Kombinationspartner aufgelisteten Verbindungen schweige. Spezifische Erkenntnisse zum Monowirkstoff sagten auch nichts zur Kombination aus, die für den Fachmann im Lichte des im Grundpatent genannten Standes der Technik auf der Hand gelegen hätte. Mit der zertifikatsspezifischen Prüfung der erfinderischen Qualität werde spekulativen Vorschlägen im Grundpatent begegnet, was keine materielle Prüfung der Patentfähigkeit darstelle.
37
Im Übrigen belegten auch die nach Erteilung des Grundpatents im Rahmen der Zulassung von “EZETROL” erhaltenen Ergebnisse zum Einfluss der Zugabe von Ezetimib zu Statinen, darunter Simvastatin, auf die Plasmakonzentration von LDL-Cholesterin keine ungewöhnlichen Effekte. Auch die von der Beklagten vertretene Qualifikation von Ezetimib als “first in class” Wirkstoff bleibe als Eigenschaft des Monowirkstoffs ohne Konsequenz für die Kombination, ebenso wie ein spezifischer Wirkmechanismus von Ezetimib auf molekularer Ebene. Denn das Grundpatent treffe nur Aussagen zu den Wirkorten Darm und Leber, in welchen die Cholesterinabsorption bzw. die Produktion von Cholesterinestern verhindert oder vermindert werde, und diese Wirkung sei bereits in der vorveröffentlichten internationalen Anmeldung WO ´048 beschrieben. Der nach dem Prioritätszeitpunkt des Grundpatents ermittelte Wirkmechanismus des Wirkstoffs Ezetimib sei, wie in Ikeda ’88 beschrieben, schon zum Prioritätszeitpunkt bei Pflanzensterolen bekannt gewesen. Dazu komme, dass Kombinationstherapien mit Wirkstoffen, die auf unterschiedliche Angriffspunkte zielten, zum Prioritätszeitpunkt üblich und vorzugswürdig gewesen seien, wie sich bspw. schon aus Illingworth ´88 ergebe und wie der Gutachter der Beklagten ebenfalls vor dem Prioritätszeitpunkt des Grundpatents im Ärzteblatt ’90 publiziert habe. Dagegen spreche auch nicht, dass manche Kombinationen keine hinreichende Wirkung zeigten. Da im Grundpatent der Wirkstoffkombination keine unerwartete Wirkung zugeschrieben sei, die eine eigenständige Erfindung begründen könnte, sei auf jeden Fall Art. 3 lit. c) AMVO nicht erfüllt. Nicht zuletzt habe mit dem Schutzzertifikat für “EZETROL” bereits ein Schutz für die Verwendung von Ezetimib in Kombination mit Simvastatin bestanden, der vollständig ausgeschöpft worden sei.
38
Weiter sei das streitgegenständliche ergänzende Schutzzertifikat entgegen Art. 3 lit. a) AMVO erteilt worden, da es insoweit der Prüfung eines für die Lösung des technischen Problems erforderlichen Merkmals und eines damit notwendigen Mittels bedürfe, wonach das bloße Erwähnen eines Wirkstoffs im Patentanspruch nicht genüge. Vielmehr müsse das Erzeugnis nach der Rechtsprechung des EuGH die durch die Forschungsergebnisse im Grundpatent gedeckte Lösung für ein technisches Problem enthalten, welche vorliegend dem Grundpatent aber nicht zu entnehmen sei.
39
Schließlich sei auch Art. 3 lit. d) AMVO nicht erfüllt. Denn die Zulassung von “INEGY” beruhe auf denselben klinischen Studien wie die Zulassung von “EZETROL”, die über 1,5 Jahre früher beantragt wurde, was einer ungerechtfertigten Verlängerung des Monowirkstoffs in Form der Kombination gleichkomme. Mit der Zulassung für “EZETROL” liege folglich eine erste Genehmigung auch für “INEGY” vor. Zwar betreffe die arzneimittelrechtlich notwendige Zulassung von “INEGY” eine neue Formulierung, dies sei aber nach der Rechtsprechung des EuGH unbeachtlich.
40
Soweit sich die Beklagte auf parallele ausländische Verfahren berufe, seien viele dieser Entscheidungen im einstweiligen Verfügungsverfahren ergangen, welchen die Gerichtsentscheidungen des OLG Düsseldorf, aber auch in den Niederlanden und in Frankreich gegenüber stünden, die die Erteilung des in Streit stehenden ESZ1 als Verstoß gegen Art. 3 lit. c) AMVO gewertet hätten.
41
Die Klägerinnen beantragen,
42
das ergänzende Schutzzertifikat DE 12 2004 000 026 für nichtig zu erklären.
43
Die Beklagte beantragt,
44
die Klagen abzuweisen.
45
Die Beklagte trägt vor:
46
Die Voraussetzungen zur Erteilung des angegriffenen ESZ1 nach Art. 3 AMVO seien erfüllt. Ein Schutzzertifikat sei als Schutzrecht sui generis autonom und ohne Begriffe oder Voraussetzungen aus dem Patentrecht auszulegen. Dabei dürfe es sich auch auf Informationen der Marktzulassung stützen.
47
Vorliegend sei Art. 3 lit. a) AMVO nach der Rechtsprechung des EuGH erfüllt. Denn entsprechend der Entscheidung Teva ./. Gilead sei die Wirkstoffkombination von Ezetimib und Simvastatin in den Patentansprüchen des Grundpatents ausdrücklich genannt. Der “core inventive advance”-Ansatz (der Wirkstoff als alleiniger Gegenstand der Erfindung), den die Entscheidung des EuGH Actavis 2 erwähne, sei infolge der späteren Entscheidungen des EuGH, insbesondere aufgrund von Teva ./. Gilead und Royalty Pharma überholt, wonach die Prüfung, ob die Wirkstoffkombination auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhe, im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen nach Art. 3 lit. a) AMVO nicht zulässig sei.
48
Ebensowenig stehe die Regelung in Art. 3 lit. c) AMVO der Erteilung des Schutzzertifikats entgegen. Denn beide Schutzzertifikate seien am selben Tag erteilt worden. Damit könne keines dem anderen, wie dies aber Art. 3 lit. c) AMVO fordere, zeitlich vorgehen, so dass auch nicht entschieden werden könne, welche der beiden gleichzeitigen Erteilungen gegen Art. 3 lit. c) AMVO verstoße. Wenn ein Erzeugnis im Sinne des Art. 1 lit. b) AMVO die Voraussetzung nach Art. 3 lit. a) AMVO erfülle, könne bei Art. 3 lit. c) AMVO keine andere Erzeugnisdefinition verwendet werden. Da die Kombination aus Ezetimib und Simvastatin, welche mit dem ESZ1 geschützt sei und unter den Schutz des Grundpatents falle, ein anderes Erzeugnis als Ezetimib allein sei, könne die Erteilung des ESZ2 für den Monowirkstoff Ezetimib der Erteilung des ESZ1 nicht entgegenstehen. Nach der Rechtsprechung des EuGH in Georgetown sei es gerade nicht ausgeschlossen, mehrere Schutzzertifikate für mehrere durch ein Grundpatent geschützte Erzeugnisse bzw. Innovationen zu erteilen. Für die vom Senat in seinem qualifizierten Hinweis vom 7. April 2020 vorgenommene “core inventive advance”-Prüfung der Wirkstoffkombination fehle daher die Rechtsgrundlage.
49
Darüber hinaus stelle die Kombination aus Ezetimib und Simvastatin auch eine eigene Erfindung dar. Ezetimib sei als hydroxy-substituiertes Azetidinon, das am Niemann-Pick C1-like protein 1 angreife, die “first-in-class”-Verbindung selektiver Inhibitoren der Cholesterinabsorption, vergleichbar mit seinerzeit der “first-in-class”-Verbindung Losartan unter den HMG CoA Reduktase Inhibitoren (Statinen). Hierin unterscheide sich der vorliegende Fall auch von den Sachverhalten in den Actavis-Entscheidungen des EuGH, die keine Abgrenzungskriterien für unterschiedliche Innovationen konkretisiert hätten, sondern das Vorhandensein nur einer Innovation als bekannt vorausgesetzt hätten. In diesen Entscheidungen habe sich das Erteilungsverbot nur auf Erzeugnisse mit einem Wirkstoff, der allein den Gegenstand der Erfindung im Grundpatent bilde, bezogen. Im Fall einer eigenständigen Innovation, hier der streitgegenständlichen “first in class”-Verbindung müsse für die Kombination die Erteilung eines Schutzzertifikats möglich sein. Zudem sei es wegen des zeitlichen und wirtschaftlichen Aufwands unrealistisch, für immer neue Ausschnitte der geschützten Verbindung eines Grundpatents eigene Schutzzertifikate anzumelden.
50
Das Grundpatent belege in den Abs. [0001], [0016], [0017], [0028] und [0066] die Kombination als eigenständige Innovation. Hierfür seien klinische Daten nicht erforderlich. Auch eine nähere Beschreibung der erfinderischen Tätigkeit sei hierfür nicht erforderlich und mangels vorveröffentlichter hydroxy-substituierter Azetidinone auch nicht möglich gewesen. Dabei könne nicht, wie die Klägerinnen meinen, auf einen “fiktiven Stand der Technik” abgestellt werden, denn dieser sei dem Patentrecht fremd. Kombinationstherapien seien damals nur in Ausnahmefällen und bei schwerer Hypercholesterinämie mit umstrittenem Nutzen angewandt worden, und zum Prioritätstag des Grundpatents sei kein Fixdosis-Kombinationspräparat auf dem Markt gewesen. Der bei Anmeldung des Grundpatents vorbekannte Stand der Technik hätte solche Kombinationen wegen schwerer Nebenwirkungen auch nur in Betracht gezogen, nicht aber empfohlen. Auch bei dem innovativen Statin Lovastatin habe ein großes Risiko bestanden. Zwar seien Statine als Therapeutika für Hypercholesterinämie bekannt gewesen, ihr Nutzen bei koronaren Herzkrankheiten sei hingegen nicht zweifelsfrei belegt gewesen. Daher hätten Gallensäuresequestriermittel, welche die Absorption von Gallensäure inhibierten, die erste Wahl für Kombinationstherapien dargestellt, welche aber keine Ähnlichkeit zu einem Biosyntheseinhibitor aufwiesen. Kombinationstherapien wären ohnehin nur mit hypocholesterinämischen Mitteln vorstellbar gewesen, deren Wirkmechanismen und Nebenwirkungen bekannt gewesen wären. Ein Stand der Technik zur Kombination von hydroxy-substituierten Azetidinonen mit einem anderen hypocholesterinämischen Mittel sei aber nicht nachgewiesen worden. Auch zeigten wissenschaftliche Arbeiten zur Kombination insoweit unterschiedlich wirkender Mittel wie Neomycin/Mevinolin, Simvastatin/Cholestyramin oder Simvastatin/Bezafibrate keine erkennbare Zusatzwirkung. Eine angemessene Erfolgserwartung für die im Grundpatent beschriebene Kombination habe daher auch nicht bestehen können und gehe an der Realität der Arzneimittelforschung vorbei. Auch fordere der EuGH in den Actavis-Urteilen insoweit keine experimentellen Daten.
51
Allerdings würden die überraschenden Effekte dieser Kombination durch nachveröffentlichte Daten, wegen derer die Beklagte auf verschiedene von ihr eingereichte Unterlagen verweist, belegt. Diese Erkenntnisse seien zu berücksichtigen, wie sich schon aus den Prüfungsrichtlinien des Europäischen Patentamts ergebe. Denn die Wirksamkeit sei bereits im Grundpatent beschrieben, weshalb auch keine Gefahr bestehe, durch die Erteilung des ESZ1 den Schutzbereich zu erweitern. Es sei zu beachten, dass die Kombination von Ezetimib mit Simvastatin die notwendige Menge an Statin reduziere, was zu überraschend besseren Ergebnissen führe.
52
Schließlich stehe auch Art. 3 lit. d) AMVO der Erteilung des ESZ1 nicht entgegen. Denn die Zulassung für “EZETROL” stelle keine arzneimittelrechtliche Zulassung für ein Fertigarzneimittel wie das Kombinationsprodukt “INEGY” dar. Aus diesem Grund verwende der Zulassungsbescheid für “EZETROL” den Ausdruck “mit angewendet”, was im Gegensatz zur Forderung des Art. 10 (b) der Richtlinie 2001/83/EG und dem Anmelderhinweis keine Zulassung bedeute.
53
Für die Schutzfähigkeit des ESZ1 spreche schließlich auch, dass nach derzeitigem Stand in den ausländischen Parallelverfahren wie in Portugal oder Norwegen überwiegend zugunsten der Beklagten geurteilt worden wäre.

Entscheidungsgründe

I.
54
Die Klagen sind zulässig. Zwar kann die Nichtigerklärung des angegriffenen Schutzzertifikats nach dessen Ablauf nur noch begehrt werden, sofern die es angreifenden Klageparteien ein Rechtsschutzbedürfnis nachweisen können. Diese für die Nichtigkeit von Patenten entwickelte allgemeine Rechtsprechung (vgl. BGH GRUR 1995, 342 f. – Tafelförmige Elemente; st. Rspr.) gilt auch im hier in Rede stehenden Fall des Erlöschens eines ergänzenden Schutzzertifikats (vgl. Busse/Keukenschrijver, PatG, 9. Aufl., § 81 Rn. 72). Das erforderliche Rechtsschutzbedürfnis ist vorliegend für alle Klägerinnen zu bejahen, nachdem die Beklagte sie oder – wie im Fall der Klägerin zu 4 – die mit einer Klagepartei verbundenen Konzernunternehmen gerichtlich wegen einer angeblichen Verletzung des Schutzzertifikats in Anspruch genommen und ausdrücklich erklärt hat, die von ihr behaupteten Ansprüche trotz des für sie negativen Ausgangs dieser einstweiligen Rechtsschutzverfahrens weiter verfolgen zu wollen; darüber hinaus setzt die Geltendmachung möglicher Schadenersatzansprüche der Klägerinnen wegen der infolge der zunächst erlassenen einstweiligen Verfügungen von ihnen erlittenen Umsatzausfälle nach § 945 ZPO eine Nichtigerklärung des angegriffenen Schutzzertifikats voraus, weil das für die Entscheidung über solche Schadenersatzklagen zuständige Gericht an die Entscheidungen, welche im einstweiligen Verfügungsverfahren ergangen sind, nicht gebunden ist (vgl. Drescher in: Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl., § 945 Rn. 16 m.w.N.).
II.
55
Die auf Nichtigerklärung des erteilten ergänzenden Schutzzertifikats 12 2004 000 026 (ESZ1) gerichteten Klagen sind auch begründet. Das streitgegenständliche ergänzende Schutzzertifikat ist entgegen Art. 3 lit. c) i.V.m. Art. 15 Abs. 1 lit. a) AMVOi.V.m. § 16a Abs. 2 PatG i.V.m. § 22 PatG erteilt worden und somit für nichtig zu erklären.
56
1. Nach Art. 3 Abs. 1 lit. c AMVO setzt die Erteilung eines ergänzenden Schutzzertifikats voraus, dass für das Erzeugnis nicht bereits ein Zertifikat erteilt ist.
57
1.1. Bei dem in Art. 1 lit. b AMVO definierten Begriff des Erzeugnisses handelt es sich um einen eigenständigen Begriff, der weder mit der patentrechtlichen Erfindung noch mit dem Gegenstand der arzneirechtlichen Genehmigung für das Inverkehrbringen gleichzusetzen ist, sondern dessen Inhalt und Grenzen durch Auslegung der AMVO zu bestimmen sind (vgl. Schell GRUR Int. 2013, 509). Nach Maßgabe von Art. 3 lit. c) AMVO darf die anmeldegegenständliche Wirkstoffkombination nicht im Zusammenhang mit demselben Erzeugnis stehen, für das der Patentinhaberin auf Basis des Grundpatents bereits ein Schutzzertifikat erteilt worden ist (vgl. Actavis 1, Rn. 42-43; Actavis 2, Rn. 37-39 und Ls.). Hinsichtlich dieses Zusammenhangs ist zu prüfen, ob Ezetimib den alleinigen Gegenstand der von dem Grundpatent geschützten Erfindung bildet oder ob die auf die Kombination von Ezetimib mit anderen Stoffen, insbesondere mit Simvastatin, gerichteten Patentansprüche weitere Gegenstände der von diesem Grundpatent geschützten Erfindung bilden, indem sie den Erfindungsgegenstand Ezetimib nicht nur mit schon bekannten und üblichen Mitteln näher ausgestalten.
58
Maßgeblich für die Bestimmung des Erfindungsgegenstandes ist das Verständnis des zuständigen Fachmanns, vorliegend eines mit einem klinisch tätigen Arzt der Fachrichtung Innere Medizin in Zusammenarbeit stehenden Pharmazeuten, zu den Ausführungen des Grundpatents hinsichtlich der Frage, ob das Grundpatent einen oder mehrere Wirkstoffe “als solche[n] schützt”, mithin, ob sich ihm insoweit nur eine oder mehrere Innovationen erschließen. Entgegen dem Einwand der Beklagten zu den Ausführungen der Klägerinnen ist im Rahmen des Art. 3 lit. c) AMVO nicht zu prüfen, ob die im Grundpatent angegebenen Merkmale den Stand der Technik im Sinne der Patentfähigkeit tatsächlich bereichern oder nicht. Eine solche Prüfung würde lediglich bei einem auch auf Art. 15 Abs. 1 lit. c) AMVO gestützten Angriff gegen ein ergänzendes Schutzzertifikat erfolgen, bei dem geltend gemacht wird, dass das Grundpatent zu Unrecht erteilt worden ist.
59
Im vorliegenden Fall müsste sich folglich die Kombination aus dem innovativen Wirkstoff Ezetimib und dem vorbekannten Wirkstoff Simvastatin gegenüber dem Monowirkstoff Ezetimib (für das der Patentinhaberin ebenfalls ein Schutzzertifikat erteilt worden ist) als eine andere, eigenständige Innovation im Sinne eines von Ezetimib (allein) unterscheidbaren Erzeugnisses erweisen und dürfte sich nicht lediglich als sukzessives Inverkehrbringen des innovativen Wirkstoffs Ezetimib in Kombination mit einem anderen, durch das Grundpatent nicht als solchen geschützten Wirkstoff darstellen (vgl. Actavis 1, Rn. 41 und Actavis 2, Rn. 36 und 37).
60
Dies wäre dann der Fall, wenn die Innovation der Kombination ausschließlich durch die Verwendung des neuen Wirkstoffs Ezetimib getragen wird. Im umgekehrten Fall verbietet es Art. 3 lit. c) AMVO nicht, dem Inhaber eines Grundpatents und eines ergänzenden Schutzzertifikats für eine Wirkstoffzusammensetzung bei Vorliegen einer entsprechenden Genehmigung für das Inverkehrbringen ein weiteres Schutzzertifikat für einen darin enthaltenen Wirkstoff zu erteilen, sofern dieser durch das Grundpatent auch einzeln als solcher geschützt ist (vgl. Georgetown, Rn. 41).
61
1.2. Im Einzelnen handelt es sich bei dem verfahrensgegenständlichen Erzeugnis um die Kombination zweier sowohl in chemischer Hinsicht als auch in Hinblick auf ihre Wirkmechanismen unterschiedlicher Wirkstoffe.
62
Ezetimib gehört der Gruppe hydroxy-substituierter Azetidinone an, denen das Grundpatent zuschreibt, dass sie die Aufnahme von Cholesterin durch den Darm und die Bildung von Cholesterinestern in der Leber hemmen (vgl. a.a.O., [0061] Z. 49 und 50 “to inhibit the intestinal absorption of cholesterol and to significantly reduce the formation of liver cholesteryl esters”, sowie [0016-0017] und [0068]). Dieser Mechanismus war für Azetidinone, darunter auch hydroxy-substituierte Azetidinone bereits beschrieben und plausibilisiert worden (vgl. WO ’048, S. 1 Z. 22-27, S. 27 Z. 1-9 sowie S. 2 Z. 20 und S. 111 Z. 6-17 “hydroxy lower alkyl” für den am Azetidinongerüst befindlichen Rest A).
63
Das Statin Simvastatin wirkt wie Lovastatin als Inhibitor der 3-Hydroxy-3-methylglutaryl (HMG) Coenzym A Reduktase (HMG-CoA-Reduktase), die für den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt der endogenen Cholesterinproduktion verantwortlich ist. Als Folge der gesenkten Cholesterinproduktion steigern die Leberzellen die Anzahl der LDL-Rezeptoren auf der Zelloberfläche, so dass die LDL-Aufnahme in die Leberzelle erhöht und damit der LDL-Spiegel im Blut verringert wird (vgl. Illingworth ´88, S. 65 re. Sp. bis S. 66 li. Sp. Z. 3). Simvastatin wurde, wie bereits ausgeführt, vor Erteilung des Streitzertifikats gemeinfrei.
64
Der Wirkstoff Ezetimib ist im Grundpatent mit IUPAC-Nomenklatur (vgl. a.a.O., Patentanspruch 7, 13. Verbindung der Liste) und als Strukturformel beansprucht (vgl. a.a.O., Patentanspruch 8), während zur Kombination von Ezetimib allgemein gehaltene Inhibitoren der Cholesterinbiosynthese beansprucht werden (vgl. a.a.O., Patentanspruch 9). Diese wirken auf die HMG-CoA-Reduktase, die Squalensynthese sowie die Squalenepoxidase inhibierend ein (vgl. a.a.O., Patentanspruch 16 und [0028]), was für den Fachmann ersichtlich unterschiedliche Wirkmechanismen von Seiten der Inhibitoren notwendig macht. In Patentanspruch 17 nach Grundpatent ist dann unter anderem eine Wirkstoffkombination aus Ezetimib mit Simvastatin neben einer Reihe anderer Statine wie Lovastatin, Pravastatin, Fluvastatin und CI-981 (Atorvastatin) beansprucht. Der beschreibende Teil des Grundpatents führt gleichermaßen die beanspruchten Kombinationen auf (vgl. a.a.O., [0001], [0016], [0028], [0066], [0068]). Zudem werden Verfahren zur Herstellung verschiedener hydroxy-substituierter Azetidinone beschrieben (vgl. a.a.O., [0029-0060]) und in den Beispielen die Herstellung solcher spezifischer Azetidinone dargelegt, sowie deren Wirksamkeit, einschließlich der von Ezetimib, untersucht (vgl. a.a.O., Bsp. 6 und [0133] Tabelle, 6B).
65
Zur Kombination von Ezetimib mit Inhibitoren der Cholesterinbiosynthese stellt das Grundpatent keine weiteren Informationen bereit. Mithin steht dort die Bereitstellung der durch die Formel I (vgl. a.a.O., Patentanspruch 1) dargestellten, für die Behandlung oder Prävention von Atherosklerose geeigneten Verbindungen, einschließlich Ezetimib, im Zentrum der Lehre. Dagegen ist zur Kombination mit Ezetimib der Wirkstoff Simvastatin lediglich als einer von einer Vielzahl möglicher Inhibitoren der Cholesterinbiosynthese, speziell von Inhibitoren der HMG-CoA-Reduktase, genannt und beansprucht (vgl. a.a.O., [0028] und Patentanspruch 17). Weiter ist das verfahrensgegenständliche Erzeugnis aus Ezetimib und Simvastatin im Grundpatent weder als spezifische Kombination genannt, noch werden mit der Kombination von erfindungsgemäßen hydroxy-substituierten Azetidinonen mit Inhibitoren der Cholesterinbiosynthese, speziell von Inhibitoren der HMG-CoA-Reduktase, verbundene überraschende Effekte wie bspw. eine synergistische Wirksamkeit oder eine besondere Verträglichkeit beschrieben. Auch die weiteren Angaben zur Kombination der patentgemäßen Wirkstoffe sind genereller Natur und betreffen Angaben zur Formulierung als pharmazeutische Zusammensetzung bzw. in einem Kit zur separaten Verabreichung der Komponenten, zu Dosierung, Tagesdosis und Verabreichungsintervallen (vgl. a.a.O., [0016] und [0017], [0066-0068], [0132]).
66
Eine gegenteilige fachmännische Sicht auf das Grundpatent zum Prioritätstag, 9. Juni 1994, ergibt sich auch nicht durch das Beiziehen weiteren Fachwissens.
67
Bereits Abs. [0006] des beschreibenden Teils im Grundpatent führt aus, dass die Cholesterin-Gesamtkörperhomöostase in Menschen und Tieren in der Leber als Hauptorgan durch die Steuerung von dietätischem Cholesterin, die Modulierung der Cholesterinbiosynthese, der Gallensäure-Biosynthese und des Katabolismus der Cholesterin-enthaltenden Plasma-Lipoproteine geregelt wird. Damit waren dem Fachmann unterschiedliche, ersichtlich auch in Kombination anzuwendende Methoden bekannt, regulierend in diese Homöostase einzugreifen. Weiter gibt das Grundpatent in Abs. [0008], Z. 41-43, unter Verweis auf den wissenschaftlichen Artikel Illingworth ´88 bereits die Kombination eines HMG-CoA-Inhibitors (also eines Statins) mit einem Gallensäure-Komplexbildner (“bile acid sequestrant”) und damit die Kombination von Wirkstoffen mit unterschiedlichen Wirkmechanismen als gegenüber dem Monowirkstoff vorteilhaft an (vgl. Illingworth ´88, S. 69 re. Sp. le. Abs. ab Z. 3 “The concomitant use of a bile acid sequestrant and lovastatin or simvastatin represents a logical combination…”). Auch eine Publikation des Gutachters der Beklagten empfiehlt die Kombination von Wirkstoffen mit unterschiedlichen Angriffspunkten wie die Kombination von Statinen mit Ionenaustauschern (vgl. Ärzteblatt ´90, E.7, S. A1382 li.-re. Sp. zu Frage 29.) und rät dabei lediglich von der Kombination von Statinen mit Fibraten oder Nikotinsäurederivaten ab. Ergänzend untermauert der wissenschaftliche Artikel Hoeg ´86, dass am Prioritätsdatum des Grundpatents cholesterinsenkende Medikamente mit unterschiedlichen Wirkmechanismen in Kombination angewandt wurden (vgl. Hoeg ´86, Zusammenfassung Satz 3), wenngleich die dort vorgestellten Ergebnisse keinen Synergismus belegen. Dass zum Prioritätstag des Grundpatents keine Forschungsarbeiten zur Kombination von Ezetimib mit Simvastatin vorlagen, untermauert auch eine Zeugenaussage im parallelen irischen Verfahren (vgl. IEHC ´19, S. 22 Abs. 39).
68
In Summe kann der Fachmann dem Grundpatent keine konkreten Anhaltspunkte entnehmen, weshalb die Kombination von Ezetimib und Simvastatin als besonders vorteilhaft, überraschend verträglich oder unerwartet wirkungssteigernd und damit als eigenständige Erfindung anzusehen wäre.
69
Nach allem stellt die Kombination des neuen Wirkstoffs Ezetimib mit dem bewährten Kombinationspartner Simvastatin, für die eine gültige arzneimittelrechtliche Genehmigung vorliegt, hier mit den in einer Tablette enthaltenen wirksamen Bestandteilen Simvastatin 10,0 mg und Ezetimib 10,0 mg (vgl. BfArM ’04), keine andere Innovation gegenüber dem Monowirkstoff Ezetimib dar, da das Erzeugnis nach den insoweit einzig beachtlichen Angaben im Grundpatent nicht “als solches” geschützt ist, sondern im Zusammenhang mit dem Monowirkstoff steht, für welchen der Patentinhaberin am selben Tag ein Schutzzertifikat auf Basis des Grundpatents erteilt worden ist.
70
2. Die gegen diese Bewertung vorgebrachten Einwände der Beklagten vermögen nicht durchzugreifen.
71
2.1. Soweit die Beklagte geltend gemacht hat, dass Art. 3 lit. a) und lit. c) AMVO die gleiche Erzeugnisdefinition des i.S.v Art. 1 lit. b) AMVO zugrunde liege und somit maßgeblich berücksichtigt werden müsse, dass es sich bei dem Monowirkstoff Ezetimib und der verfahrensgegenständlichen Wirkstoffkombination um unterschiedliche Erzeugnisse i.S.v. Art. 1 lit. b) AMVO handle, vermag diese Sichtweise nicht zu überzeugen. Denn ihr Vortrag lässt entsprechend den Ausführungen oben unberücksichtigt, dass es nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung des EuGH nicht schon ausreichend ist, dass es sich bei mehreren durch ein Grundpatent geschützten Erzeugnissen um verschiedene Erzeugnisse i.S.v. Art. 1 lit. b) AMVO handelt. Vielmehr leitet der EuGH aus der Schrankenfunktion des Art. 3 lit. c) AMVO die zusätzliche Voraussetzung ab, dass im Fall, dass ein Grundpatent mehrere Erzeugnisse i.S.v. Art. 1 lit. b) AMVO schützt, die Erteilung von Schutzzertifikaten für diese Erzeugnisse nur dann zulässig ist, wenn es sich bei den fraglichen Erzeugnissen um unterschiedliche Innovationen handelt. Dagegen ist die Erteilung mehrerer Schutzzertifikate für jedes sukzessive Inverkehrbringen eines innovativen Wirkstoffs in Kombination mit einem anderen, durch das Grundpatent nicht als solchen geschützten Wirkstoff unzulässig (vgl. Actavis 1, Rn. 41). Ein Zertifikatsschutz kommt folglich nur für solche Erzeugnisse in Betracht, die gemäß den Zielen der AMVO eine echte Neuerung darstellen. In diesem Zusammenhang verweist die Beklagte auf das am selben Tag wie Actavis 1 ergangene EuGH-Urteil Georgetown, das allerdings Actavis 1 berücksichtigt und somit keine Abkehr davon darstellt (vgl. Georgetown, a.a.O. Rn. 30). Bei dem insoweit anders gelagerten Fall Georgetown sind alle miteinander zu kombinierenden Wirkstoffe (jeweils unterschiedlich spezifische rekombinante Proteine des Papillomavirus) nicht nur in dem betreffenden Grundpatent genannt, sondern weisen darüber hinaus auch jeweils eine eigenständige erfinderische Qualität in ihrer Eigenschaft als eigenständiger Wirkstoff des betreffenden Grundpatents auf (vgl. Georgetown, a.a.O. Rn. 13-15, 41 und Ls.).
72
2.2. Auch soweit die Beklagte einwendet, dass die EuGH-Entscheidungen Teva ./. Gilead und Royalty Pharma die Grundsätze der EuGH-Entscheidungen Actavis 1 und Actavis 2 einerseits und Georgetown auf der anderen Seite in Frage stellten, sind diese nach Auffassung des Senats weiter maßgeblich. Insbesondere betreffen Teva ./. Gilead und Royalty Pharma nicht Art. 3 lit. c) AMVO. Ein Anhaltspunkt dafür, dass sich der EuGH von seiner bisherigen Rechtsprechung lösen will, ist schon deshalb nicht erkennbar, weil der EuGH in der Begründung von Teva ./. Gilead auf Actavis 2 Bezug nimmt und die dort behandelte Interessensabwägung wiedergibt (vgl., Teva ./. Gilead, Rn. 41 und 42). Das von der Beklagten bei dieser Entscheidung geltend gemachte erweiterte Richtergremium bedeutet zudem keine Revision der bisherigen Rechtsprechung. Weiter lassen sich Teva ./. Gilead und Royalty Pharma auch hinsichtlich der dort bewerteten Wirkstoffe nicht auf Georgetown und Actavis 1 anwenden. Denn diese Entscheidungen betreffen jeweils nur ein – erstes – Schutzzertifikat für Kombinationspräparate mit einem durch funktionelle Merkmale gekennzeichneten Wirkstoff, und nicht, wie vorliegend, zwei auf einem Grundpatent basierende Schutzzertifikate mit chemisch bezeichneten Wirkstoffen, entsprechend dem in Georgetown und Actavis 1 behandelten Konzept “einzelner, unterschiedlicher Erzeugnisse” (Georgetown und Actavis 1, jew. Rn. 29 und 30).
73
2.3. Von der Beklagten in der Verhandlung unbestritten blieb, dass das Grundpatent keine Vorteile hinsichtlich der Wirkstoffkombination Ezetimib mit Simvastatin aufzeigt. Allerdings erachtete sie die Patentansprüche 12 bis 14 des Grundpatents als speziell auf die Bereitung des Kombinationspräparats gerichtet und die Kombination folglich nicht nur als einfache Abwandlung herausgestellt. Jedoch vermögen auch diese Patentansprüche die Erkenntnis des Fachmanns hinsichtlich besonderer Effekte der Kombination nicht zu erhellen. Denn das Grundpatent überlässt dem klinisch tätigen Arzt ohne eine Differenzierung nach Stoffklassen sowohl die Auswahl und Abstimmung der Kombinationspartner als auch die Art und Weise der Dosierung zur Gänze (vgl. a.a.O., [0066-0068]) und kann daher nicht als Offenbarung einer weiteren Innovation angesehen werden.
74
2.4. Nicht durchzugreifen vermag auch der Einwand der Beklagten, dass der Fachmann am Prioritätstag des Grundpatents Vorurteile hinsichtlich der Kombination von Statinen mit auf anderen Wegen wirkenden cholesterinsenkenden Wirkstoffen gehabt habe. Im Grundpatent gibt es dazu keine Information. Das Vorbringen der Beklagten, solche Kombinationen seien unüblich gewesen und nur bei schweren Fällen der Hypercholesterinämie zur Anwendung gekommen, basiert auf der Prämisse eines zahlenmäßig geringen Patientenkollektivs als Voraussetzung für ein Vorurteil. Dessen Größe ist bei einer solchen Bewertung jedoch ohne Belang und die Kombination war im Gegenteil als vorzugwürdig beschrieben worden (vgl. Grundpatent, [0008] und Ärzteblatt ‘90, S. A1382 Frage 29). Selbst wenn manche Kombinationspräparate auf diesem Gebiet Nebenwirkungen zeigten oder nicht den erhofften Erfolg brachten, ändert dies nichts an der für Kombinationspräparate im Übrigen auch allgemein bekannten Vorzugswürdigkeit, die sich schon daraus ergibt, dass der Einsatz von Monopräparaten oftmals nicht zum gewünschten Erfolg führt. Der von der Beklagten angesprochene Umstand, dass Statine zum Prioritätstag des Grundpatents noch nicht hinreichend auf die Verringerung des Sterberisikos untersucht gewesen seien, vermag diese Verbindungen als Partner für Kombinationstherapien gleichermaßen nicht zu disqualifizieren. Dagegen spricht bereits das Grundpatent, das diese Verbindungen in Kombination empfiehlt, ebenso wie der Gutachter der Beklagten, der in seiner vor dem Zeitrang des Grundpatents erschienenen Publikation Ärzteblatt ’90 zu keinem anderen Schluss gelangt. Sofern die Beklagte aus fachmännischer Sicht für Kombinationstherapien nur solche Verbindungen als angeraten wertet, die komplementäre Wirkmechanismen aufweisen, war auch dieses Vorgehen, wie ausgeführt, bereits vorgeschlagen worden und setzt kein Verständnis detaillierter molekularer Vorgänge voraus.
75
2.5. Dem Einwand der Beklagten, die Rechtsprechung des EuGH, insbesondere die Entscheidungen Actavis 1 und Actavis 2, sei auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar, da sich die zu Grunde liegenden Sachverhalte maßgeblich unterscheiden würden, kann auch nicht gefolgt werden. In allen drei Fällen (Actavis 1, Actavis 2 und vorliegend) wurde auf Basis des Grundpatents ein erstes Schutzzertifikat für einen Einzelwirkstoff (Irbesartan, Telmisartan, Ezetimib) erteilt, und der jeweilige Wirkstoff gehörte zu einer größeren Gruppe im Grundpatent erstmals offenbarter chemischer Verbindungen. Soweit die Beklagte Irbesartan bzw. Telmisartan als lediglich neue Verbindungen einer bereits bekannten Stoffklasse wertet, wohingegen Ezetimib als erster Wirkstoff einen völlig neuen Therapieansatz ermöglichte, steht diesem Einwand entgegen, dass es auch zum Anmeldezeitpunkt der Grundpatente von Irbesartan (1990) bzw. Telmisartan (1991) keine zugelassenen Sartane gab, da Losartan zwar im Grundpatent von 1989 beschrieben ist, allerdings erst 1995 zugelassen wurde, ebenso wie vorliegend Ezetimib im Grundpatent von 1994 beschrieben ist und 2002 zugelassen wurde. Somit wurden in allen drei Fällen Schutzzertifikate erteilt, die auf eine Kombination des Einzelwirkstoffs mit einem weiteren, vorbekannten und gemeinfreien Wirkstoff gerichtet waren, welcher für sich keinen eigenständigen Gegenstand des jeweiligen Grundpatents bildete. Ebenso widmete sich das jeweilige Grundpatent in diesen drei Fällen ganz überwiegend den chemischen Strukturen neuer Verbindungen, beschrieb deren Herstellung und chemische Eigenschaften und zeigte mögliche Verwendungen der Stoffe auf, u.a. deren Verwendung in Kombination mit einem weiteren Wirkstoff. Hier wie dort beschäftigten sich die Beispiele ausschließlich mit ausgewählten Einzelverbindungen der neuen Stoffgruppe.
76
Weiter spricht gegen die Auffassung der Beklagten, dass es sich bei den Entscheidungen Actavis 1 und Actavis 2 um konkrete Einzelfallentscheidungen handeln solle, die nicht verallgemeinerungsfähig seien, im Grundsatz bereits, dass Vorabentscheidungen des EuGH in der Regel schon nach Wortlaut und Zielsetzung des Art. 267 Abs. 1 AEUV nicht dazu dienen, die europarechtlichen Fragen nur im Hinblick auf den konkreten Ausgangsfall zu beantworten, sondern den nationalen Behörden und Gerichten – zwar aus Anlass des Einzelfalls, aber über diesen hinausgehend – eine möglichst allgemeine, auch vergleichbare Fälle erfassende Auslegung der für die Entscheidung des Ausgangsfalls des vorlegenden Gerichts relevanten Normen des primären (vgl. Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV) oder sekundären (vgl. Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV) Gemeinschaftsrechts an die Hand zu geben. Aus diesem Grund erschöpfen sich die Ausführungen in Actavis 1 und Actavis 2 nicht in einer auf die Besonderheiten der jeweiligen Ausgangsfälle beschränkten Auslegung von Art. 3 AMVO, sondern sind erkennbar allgemein gehalten; sie gelten damit für alle vergleichbaren Fallkonstellationen, in denen ein Grundpatent, obwohl unter seinen Schutz auch eine Wirkstoffkombination fällt, nur einen Wirkstoff dieser Wirkstoffkombination als Erfindung offenbart, nicht aber auch den mit diesem kombinierten weiteren Wirkstoff.
77
2.6. Die Qualifizierung des durch das Grundpatent als solchen geschützten Wirkstoffs Ezetimib als “first in class” Wirkstoff durch die Beklagte bleibt ohne Einfluss auf die Bewertung der Kombination Ezetimib mit Simvastatin als gesonderte Erfindung, selbst wenn es sich um die erstmalige Zulassung eines hydroxy-substituierten Azetidinons handelt. Denn der Beklagten ist für die besondere Eigenschaft von Ezetimib bereits ein Schutzzertifikat zuerkannt worden, das der Erteilung eines zweiten Schutzzertifikats entgegensteht. Soweit der Beklagtengutachter den Monowirkstoff Ezetimib in seiner Schlussfolgerung als bedeutende Innovation und die Kombination mit Simvastatin als weitere Verbesserung (vgl. Assmann ’15, Rn. 41 und 42) bewertet, waren deren jeweilige unterschiedliche Wirkmechanismen, wie ausgeführt, am Prioritätstag bekannt gewesen.
78
Wenngleich den EuGH-Entscheidungen Actavis 1 und Actavis 2 insoweit keine Angaben zu entnehmen sind, kommt es für die Bestimmung des Erfindungsgegenstandes allein auf die Angaben im Grundpatent an, wonach erst nach dem für das Grundpatent maßgeblichen Zeitrang, also seinem Prioritäts- oder Anmeldetag, gewonnene Erkenntnisse nicht zu berücksichtigen sind. Dieser Grundsatz, den der EuGH für die sich bei Art. 3 lit. a) AMVO stellende Frage, ob das angemeldete Erzeugnis unter den Schutzbereich des Grundpatents fällt, ausdrücklich aufgestellt hat (vgl. Teva ./. Gilead, Rn. 49; Royalty Pharma, Rn. 47), gilt nach dem Verständnis des Senats auch bei der Ermittlung des Erfindungsgegenstands bei der Prüfung des Art. 3 lit. c) AMVO. Dies bereits deshalb, weil der EuGH keine für Art. 3 lit. c) AMVO abweichende Auffassung zu erkennen gegeben hat und eine solche auch nicht ohne logischen Bruch vorstellbar ist. Die von der Beklagten aufgeworfene Frage nach der Geltung patentrechtlicher Grundsätze im Sinne eines Nachbringens von Beispielen kann dahinstehen, da dieses Nachbringen nur dann erfolgen kann, wenn im Grundpatent nicht nur pauschale Angaben zur Wirksamkeit, sondern erkennbare Vorteile offenbart sind, welche im Verhältnis zur Aufgabe stehen.
79
Insoweit spielen nach dem Prioritätstag des Grundpatents aufgezeigte Effekte des Monowirkstoffs Ezetimib wie ein spezifischer Wirkungsmechanismus auf molekularer Ebene über das “Niemann-Pick C1-like protein 1” weder für den Monowirkstoff Ezetimib noch für die Kombination mit Simvastatin eine Rolle.
80
2.7. Soweit Art. 3 lit. c) fordert, dass für das Erzeugnis nicht bereits ein Zertifikat erteilt wurde und vorliegend die Erteilung für das ESZ1 für die Wirkstoffkombination aus Ezetimib und Simvastatin und das ESZ2 für den Wirkstoff Ezetimib, für das eine ältere arzneimittelrechtliche Genehmigung vorlag, am selben Tag erfolgte, spricht Actavis 1 dafür, dass der Zeitpunkt der ersten Genehmigung für das Inverkehrbringen maßgeblich ist. Auch der Leitsatz in Actavis 1 schweigt zu einer zeitlich späteren Erteilung und spricht nur von einem “zweiten ergänzenden Schutzzertifikat”. Diese Formulierung spiegelt ersichtlich den dort in Rn. 31 angeführten Erwägungsgrund für den Erlaß der AMVO wider, zumindest zum Teil den Rückstand in der wirtschaftlichen Verwertung einer Erfindung auszugleichen, der aufgrund der Zeitspanne von der Einreichung der Patentanmeldung bis zur Erteilung des Marktzulassung eingetreten ist, nicht aber den vollen Ausgleich oder alle möglichen Formen der Verwertung der Erfindung, auch in Gestalt verschiedener Zusammensetzungen (a.a.O., Rn. 40) mit, nach obigen Darlegungen, demselben Wirkstoff zu ermöglichen. Somit vermag auch die Auffassung der Beklagten, die Erteilung des ESZ1 sei zulässig, weil nicht feststellbar sei, welches das frühere Schutzzertifikat bilde, nicht durchzugreifen. Soweit sie beanstandet, dass nationale Anmeldungen zum Nachteil für den Anmelder Zufälligkeiten unterworfen seien, ist zu berücksichtigen, dass zwischen den Anträgen der Beklagten auf Zulassung von “EZETROL” und “INEGY” mehr als 1,5 Jahre liegen (vgl. Schrifts. der Klägerin zu 3. v. 7. August 2020, Rn. 24-25), wonach ihr ein angemessener Zeitraum zur Verfügung stand, um durch Zurücknahme einer Anmeldung eine Wahl zwischen kürzerer Laufzeit und weiterem Schutzbereich (“EZETIMIB”) oder längerer Laufzeit und engerem Schutzbereich (“INEGY”) zu treffen.
81
Nach alledem ist für das streitgegenständliche Erzeugnis ein ergänzendes Schutzzertifikat entgegen Art. 3 lit. c) AMVO erteilt worden, das deshalb keinen Bestand haben kann.
82
Dieses Ergebnis steht in Einklang mit der Auffassung des OLG Düsseldorf im Verletzungsverfahren, dass das Grundpatent für die Kombination aus Ezetimib und Simvastatin keine zureichenden Anhaltspunkte liefert, um diese als eine mehr als bloß geläufige Abwandlung der Erfindung Ezetimib auszuweisen und somit Art. 3 lit. c) AMVO nicht erfüllt sei (vgl. OLG Düsseldorf ´19, S. 18 Abs. (4)). Auch der Gerichtshof Den Haag bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz insoweit (vgl. Gerechtshof ´18, Abs. 4.22). Nichts anderes erbrachten das Urteil des Handelsgerichts Barcelona (vgl. Juzgado Mercantil ´18, S. 22 Abs. 7.1-7.3) und die Entscheidung des Berufungsgerichts Paris vom 25. September 2020 (vgl. Schriftsatz der Klägerin zu 4 vom 1. Oktober 2020, S. 7 vorle. Abs. mit Übersetzung einer Passage aus der beigefügten Anlage Cour d’appel de Paris ´20).
83
3. Da das streitgegenständliche Schutzzertifikat entgegen Art. 3 lit. c) AMVO erteilt wurde und aus diesem Grund nichtig ist, kommt es auf die Frage, ob die Erteilung auch entgegen Art. 3 lit. a) und d) AMVO erfolgt ist, nicht mehr an.
III.
84
Die von der Nichtigkeitsbeklagten angeregte Vorlage an den EuGH war nicht veranlasst, da die vorliegende Beschwerdesache keine entscheidungserheblichen Fragen zur Auslegung des Unionsrechts aufwirft, die nicht aus den gesetzlichen Quellen und der angeführten Rechtsprechung des EuGH zweifelsfrei zu beantworten wären.
IV.
85
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.

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