Aktenzeichen L 9 AL 8/17 NZB
SGG § 144 Abs. 1 S. 2
Leitsatz
1. Die Aufgabe der sogenannten Surrogatstheorie zum Urlaubsabgeltungsanspruch durch das Bundesarbeitsgericht hat nicht zur Folge, dass der Ruhenstatbestand des § 157 Abs. 2 SGB III etwa nur noch eingeschränkt Anwendung finden könnte.
2. Kein Berufungszulassungsgrund im Recht der Arbeitsförderung (hier: Ruhen wegen Urlaubsabgeltung) ist es, dass das BAG seine Rechtsprechung zum Urlaubsabgeltungsanspruch als Surrogat des Urlaubsanspruchs aufgegeben hat. (Rn. 22 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 7 AL 198/16 2016-11-30 Urt SGAUGSBURG SG Augsburg
Tenor
I. Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 30. November 2016 – S 7 AL 198/16 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I.
Dem Rechtsstreit liegt das Bemühen des Klägers und Beschwerdeführers (Bf) zugrunde, das durch eine Urlaubsabgeltung bedingte Ruhen seines Anspruchs auf Arbeitslosengeld für die Zeit vom 05. bis 13.04.2017 abzuwenden und die vollständige Auszahlung der Urlaubsabgeltung an sich zu erwirken.
Der Bf war bis einschließlich 04.04.2016 als Leiter der Arbeitssicherheit bei der Firma V. in H-Stadt beschäftigt. Die Firma kündigte das Arbeitsverhältnis während der Probezeit. Der Bf meldete sich am 23.03.2016 bei der Beklagten und Beschwerdegegnerin (Bg) arbeitslos und beantragte Arbeitslosengeld ab 05.04.2016. Mit Bescheid vom 12.04.2016 bewilligte diese ihm Arbeitslosengeld ab 05.04.2016 für 360 Tage. Das Arbeitslosengeld wurde für die Zeit vom 05.04.2016 bis 30.04.2016 ausgezahlt.
Mit Schreiben vom 13.05.2016 teilte die Firma V. der Bg mit, der Bf habe noch sieben Tage Resturlaub, der, wenn er genommen worden wäre, bis 13.04.2016 gedauert hätte. Daraufhin machte die Bg gegenüber der Firma V. mit Schreiben vom 18.05.2015 einen Betrag in Höhe von 607,23 EUR aus übergegangenem Recht mit der Begründung geltend, dem Bf sei Arbeitslosengeld wegen Arbeitslosigkeit ausbezahlt worden und dieser habe noch Anspruch auf Urlaubsabgeltung für sieben Tage. Daraufhin leistete die Firma V. an die Bg den geforderten Betrag.
Mit Bescheid vom 18.05.2016 stellte die Bg das Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld wegen des Anspruchs auf Urlaubsabgeltung gemäß § 157 Abs. 2 des Dritten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB III) für die Zeit vom 05.04.2016 bis 13.04.2016 fest und setzte den Bf von der Geltendmachung des Anspruchs gegenüber der Firma V. in Kenntnis. Mit Änderungsbescheid vom 07.06.2016 stellte sie weiter fest, die Bezugsdauer habe sich ab dem 14.04.2016 um neun Tage erhöht und der Leistungsanspruch werde dementsprechend nicht, wie im Bewilligungsbescheid vom 12.04.2016 angegeben, am 04.04.2017, sondern erst am 13.04.2017 enden. Den gegen den Bescheid vom 18.05.2016 erhobenen Widerspruch wies die Bg mit Widerspruchsbescheid vom 05.07.2016 als unbegründet zurück.
Am 12.07.2016 hat der Bf beim Sozialgericht Augsburg Klage erhoben. Er hat die Klage im Wesentlichen damit begründet, § 157 SGB III und seine Vorgängerregelungen seien vom Gesetzgeber auf Grundlage der zwischenzeitlich aufgegebenen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) zum Urlaubsrecht (so genannte Surrogatstheorie) geschaffen worden. Der Urlaubsabgeltungsanspruch sei nach der neueren Rechtsprechung des BAG nur noch ein Geldanspruch. Infolgedessen könne der Anspruch auch nicht mehr bestimmten Urlaubstagen zugeordnet werden. Abgesehen davon könne auch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach ein Anspruch auf Schadenersatz für einen untergegangenen Urlaubsanspruch wegen Verzugs des Arbeitgebers kein Surrogat für den Urlaubsanspruch sei, ein Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs wegen Urlaubsabgeltung nicht eintreten. Nach Aufgabe der Surrogatstheorie durch das BAG unterfalle die Urlaubsabgeltung nicht mehr einem Doppelleistungsverbot. Der Urlaub sei nicht einer Zeit nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses zuzuordnen. Bei nachträglicher Vertragserfüllung komme es daher nicht zu einem Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 30.11.2016 abgewiesen; die Berufung hat es nicht zugelassen. In der Niederschrift zur mündlichen Verhandlung ist der Antrag des Bf festgehalten, die Bg sei zu verurteilen, ihm 607,23 EUR zu zahlen. Begründet hat das Sozialgericht seine Entscheidung damit, der Ruhenstatbestand des § 157 Abs. 2 SGB III sei sehr wohl einschlägig und die Bg habe den vom Ruhen betroffenen Geldbetrag zutreffend ermittelt. Die Aufgabe der Surrogatstheorie durch das BAG habe insoweit keine Relevanz.
Am 16.01.2017 hat der Bf gegen die Nichtzulassung der Berufung Beschwerde eingelegt. Seiner Ansicht nach habe die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung. Er hat in diesem Zusammenhang die Rechtsfrage aufgeworfen, ob nach der Aufgabe der Surrogatstheorie überhaupt noch einzelne Urlaubstage konkret zeitlich zugeordnet werden könnten. Zur Begründung hat der Bf sinngemäß vorgetragen, das BSG habe fast immer an die Surrogatstheorie angeknüpft. Diese Prämisse für die Ruhensregelung sei aber nunmehr entfallen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz sowie auf die Verwaltungsakten der Bg verwiesen; diese haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Die Nichtzulassungsbeschwerde bleibt ohne Erfolg.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig. Insbesondere ist sie statthaft, weil die Berufung der Zulassung bedarf. Denn der Wert des Beschwerdegegenstands liegt mit 607,23 EUR unterhalb der Grenze von 750 EUR (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG), es sind lediglich Leistungen für neun Tage, also nicht mehr als ein Jahr, betroffen (vgl. § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG) und das Sozialgericht hat die Berufung nicht zugelassen.
Jedoch ist die Nichtzulassungsbeschwerde nicht begründet. Denn keiner der im Gesetz vorgesehenen Zulassungsgründe ist gegeben. Es gilt zu betonen, dass im Rahmen des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde die erstinstanzliche Entscheidung nur spezifisch im Hinblick auf Zulassungsgründe, nicht aber auf ihre umfassende Richtigkeit hin überprüft wird.
Nach § 144 Abs. 2 SGG ist die Berufung zuzulassen, wenn
1.die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat,
2.das Urteil von einer Entscheidung des Bayerischen Landessozialgerichts, des Bundessozialgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder
3.ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Entscheidung beruhen kann.
Die Berufungszulassungsgründe nach § 144 Abs. 2 Nr. 2 und 3 SGG sind offensichtlich nicht gegeben. Die Rechtssache hat aber auch keine grundsätzliche Bedeutung im Sinn von § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG. Grundsätzliche Bedeutung setzt unter anderem voraus, dass Klärungsbedürftigkeit vorliegt. Das ist dann nicht der Fall, wenn eine Rechtsfrage bereits höchstrichterlich geklärt ist oder sonst eindeutig beantwortet werden kann.
Klärungsbedürftigkeit fehlt auch, wenn sich eine grundsätzlich klärungsbedürftige Frage nur abstrakt, nicht aber im konkreten Fall stellt. Eine solche Konstellation ist vorstellbar, wenn es in einem bestimmten Verfahren aus anderen Gründen auf die vermeintlich klärungsbedürftige Rechtsfrage gar nicht ankommt. Im vorliegenden Fall bestehen insoweit durchaus Zweifel. Diese Zweifel resultieren aus der bemerkenswerten Antragstellung des Bf vor dem Sozialgericht. Der Bf hat dort nämlich begehrt, die Bg zur Zahlung exakt des Betrags zu verpflichten, den die Firma V. der Bg auf der Grundlage von § 115 des Sozialgesetzbuchs Zehntes Buch gezahlt und den sie ihm deswegen vorenthalten hat. Es geht hier – entgegen der ursprünglichen Antragstellung des Bf im Klageverfahren – also nicht um die Leistung von Arbeitslosengeld, sondern letztlich um die Erlangung der vollständigen Urlaubsabgeltung, mithin also um ein Begehren, das auf einem öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch (z.B. § 816 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs analog) gründet. Dass damit eine Vielzahl von spezifischen Problemen eröffnet wird und angesichts dessen nicht ohne weiteres überblickt werden kann, ob es auf die vom Bf in den Mittelpunkt gerückte Rechtsfrage tatsächlich ankommt, dürfte einleuchten.
Der Senat kann diese besondere Problematik aber dahinstehen lassen. Denn das Klagebegehren ist jedenfalls dahin zu interpretieren, dass auf jeden Fall auch eine – von der Erstattung unabhängige – Kassation der im Bescheid vom 18.05.2016 getroffenen Feststellung des Ruhens begehrt wird. Und insoweit kommt es tatsächlich auf die vom Bf aufgeworfene Frage an, ob das Ruhen eingetreten ist.
Gleichwohl handelt es sich um keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Denn die Antwort liegt so evident auf der Hand, dass von Klärungsbedürftigkeit nicht gesprochen werden kann. Der Senat hält es für abwegig, der Aufgabe der Surrogatstheorie durch das BAG derartige Implikationen beizumessen, wie es der Bf tut.
Die bis 2009 vom BAG ständig vertretene Surrogatstheorie besagt vereinfacht, dass der Urlaubsabgeltungsanspruch Surrogat des Urlaubsanspruchs ist und deswegen das Abgeltungsverlangen einem möglichen Urlaubsverlangen gleichsteht. Danach wären nur diejenigen Urlaubstage abzugelten, die ein Arbeitnehmer bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis auch tatsächlich hätte einbringen können. Das BAG hat seine Rechtsprechung geändert, weil es nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs nicht mit europäischem Recht zu vereinbaren ist, wenn der Urlaubsabgeltungsanspruch eines arbeitsunfähigen ausgeschiedenen Arbeitnehmers wie der eigentliche Urlaubsanspruch wegen der krankheitsbedingten Verhinderung, den Urlaub in Anspruch zu nehmen, verfällt.
Daraus wird deutlich, dass die rechtliche Handhabung, den Abgeltungsanspruch entweder als Surrogat des Urlaubsanspruchs zu begreifen oder aber auch nicht, nur von begrenzter Tragweite ist. Bereits arbeitsrechtlich geht es nach Einschätzung des Senats nicht an, damit jegliche Zuordnung des Urlaubsabgeltungsanspruchs zu Urlaubstagen zu leugnen; so richtet sich die Höhe des Abgeltungsanspruchs unbestreitbar noch immer nach der Zahl der nicht genommenen Urlaubstage.
Darüber noch hinausgehend das arbeitsförderungsrechtliche Regime, das an den Urlaubsabgeltungsanspruch ein Ruhen des Arbeitslosengeldanspruchs knüpft, suspendiert sehen zu wollen, erscheint nicht vertretbar. Offenbar meint der Bf, es lasse sich wegen der Aufgabe der Surrogatstheorie keine „Zeit des abgegoltenen Urlaubs“ im Sinn von § 157 Abs. 2 Satz 1 SGB III mehr feststellen. Er scheint sogar insinuieren zu wollen, seitdem könne generell nicht mehr von einem Urlaubsabgeltungsanspruch im Sinn von § 157 Abs. 2 SGB III ausgegangen werden. Diesen Einschätzungen widerspricht der Senat.
Die Zahl der nicht genommenen Urlaubstage steht fest. Eine konkrete Terminierung der Urlaubstage nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses wäre auch bei Anwendung der Surrogatstheorie nicht möglich; insoweit hat sich durch die Aufgabe der Surrogatstheorie nichts geändert. Der Urlaub kann, wenn das Arbeitsverhältnis beendet ist, gerade nicht mehr genommen werden; die vom EuGH kritisierten Auswirkungen der Surrogatstheorie beruhen lediglich auf einer Fiktion des Fortbestehens.
Die konkrete zeitliche Zuordnung im Hinblick auf die Konturierung des Ruhenszeitraums wurde und wird allein durch § 157 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB III vorgenommen: Die Ruhensphase schließt sich, was Satz 2 vorgibt, unmittelbar an das beendete Arbeitsverhältnis an. Und Satz 1 zeigt, dass die konkrete Lage und Ausdehnung der Ruhensphase fixiert wird, indem man eine Inanspruchnahme der verbliebenen Urlaubstage – beginnend eben unmittelbar nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses – fingiert. Insoweit hegt der Senat keine Zweifel, dass der Gesetzgeber arbeitsförderungsrechtlich diese konkretisierende zeitliche Zuordnung hat vornehmen dürfen, auch wenn diese arbeitsrechtlich keine Entsprechung finden mag. Weiter erscheint über jeden rechtlichen Zweifel erhaben, dass der Gesetzgeber den Urlaubsabgeltungsanspruch überhaupt zum Anlass hat nehmen dürfen, die Entgeltersatzleistung Arbeitslosengeld vorzuenthalten, soweit eine Urlaubsabgeltung zufließt. Denn die Urlaubsabgeltung stellt schlicht eine monetäre Gegenleistung aus dem Arbeitsverhältnis dar.
Soweit der Bf der bisherigen BSG-Rechtsprechung augenscheinlich den Rechtssatz entnehmen möchte, ein Ruhen des Arbeitslosengelds sei nur dann gerechtfertigt, wenn die abgeltende Leistung des Arbeitgebers Surrogat des Urlaubsanspruchs sei, irrt er. Vielmehr genügt es für die Anwendung von § 157 Abs. 2 SGB III, dass ein Urlaubsabgeltungsanspruch Grund der Zahlungen ist – ob mit oder ohne Surrogation des Urlaubsanspruchs, ist einerlei. Der Urlaubsabgeltungsanspruch verliert nämlich nicht dadurch seinen Charakter, dass er nicht mehr mit dem fingierten Urlaubsanspruch steht und fällt. § 157 Abs. 2 SGB III liegt, anders als der Bf offenbar meint, kein rechtlich eigenständiger Begriff des Urlaubsabgeltungsanspruchs zugrunde, der die Surrogatseigenschaft unabdingbar voraussetzen würde.
Der Senat sieht nicht im Ansatz Hinweise dafür, die Rechtsordnung könnte durch die Aufgabe der Surrogatstheorie bei gleichzeitigem Fortbestand von § 157 Abs. 2 SGB III inkonsistent geworden, geschweige denn, es könnten verfassungsrechtliche oder gar europarechtliche Bedenken angebracht sein.
Mit der Zurückweisung der Nichtzulassungsbeschwerde wird das Urteil des Sozialgerichts rechtskräftig (§ 145 Abs. 4 Satz 4 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.