Aktenzeichen L 19 R 218/16
GG Art. 14 Abs. 1
Leitsatz
Die bestehende Differenzierung hinsichtlich des Geburtsjahrgangs der Kinder bei der Anerkennung von Kindererziehungszeiten ist unter Berücksichtigung der vom BVerfG (BeckRS 1992, 121058) entwickelten Grundsätze und der zwischenzeitlich erfolgten weiteren sozialpolitischen Maßnahmen durch den Gesetzgeber hinzunehmen. (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
S 7 R 132/15 2016-03-21 Urt SGBAYREUTH SG Bayreuth
Tenor
I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 21.03.2016 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird zugelassen.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§ 143, 144, 153 SGG).
Sie ist jedoch nicht begründet. Das SG hat zu Recht mit Urteil vom 21.03.2016 festgestellt, dass die Klägerin keinen Anspruch auf die Zuerkennung weiterer Kindererziehungszeiten oder auf Zuerkennung einer höheren Altersrente hat.
Nach § 56 SGB VI werden in der gesetzlichen Rentenversicherung Pflichtbeitragszeiten für die Erziehung eines Kindes in dessen ersten drei Lebensjahren anerkannt. Diese Regelung wurde im Zuge der Rentenreform im Jahr 1992 neu geschaffen. Für Kinder, die vor dem Inkrafttreten des SGB VI und damit vor dem 01.01.1992 geboren wurden, hat § 249 SGB VI in der bis zum 30.06.2014 geltenden Fassung eine Kindererziehungszeit von 12 Monaten vorgesehen. Mit der Neuregelung zum 01.07.2014 durch das Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung (RV-LeistungsverbesserungG vom 23.06.2014, BGBl I 2014, 787) wurde der Zeitraum von 12 Monaten in § 249 SGB VI auf 24 Monate erhöht. Diese 24 Monate Kindererziehungszeiten sind für alle Versicherten zu berücksichtigten, die ein Kind erzogen haben, das vor dem 01.01.1992 geboren wurde und die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Neuregelung zum 01.07.2014 noch nicht im Rentenbezug standen. Bei einer laufenden Rente am Stichtag 01.07.2014 wird hingegen die Rentenhöhe unter Zugrundelegung eines weiteren pauschalen Entgeltpunkts neu berechnet (§ 307d SGB VI). Die Umsetzung erfolgte bei den laufenden Renten automatisch, eines gesonderten Antrags der Versicherten bedurfte es nicht.
Der Klägerin wurden nach der bis zum 30.06.2014 geltenden Fassung des § 249 Abs. 1 SGB VI im Rahmen ihrer versicherungsrechtlichen Zeiten Zeiten der Kindererziehung vom 01.07.1981 bis 30.06.1982 zuerkannt, nachdem ihr Sohn F. am 10.06.1981 geboren wurde. Weitere Kinder, für die Kindererziehungszeiten zu beachten wären, hat die Klägerin nicht. Unter Berücksichtigung dieser Kindererziehungszeiten wurde der Klägerin mit Bescheid vom 05.04.2012 eine Rente in Höhe von 871,92 EUR ab Juni 2012 bestandskräftig zuerkannt. Eine Neuberechnung der Rente erfolgte mit streitgegenständlichem Bescheid vom 08.09.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.02.2015 durch Zuerkennung eines weiteren (pauschalen) Entgeltpunktes, was zu einer Erhöhung der laufenden Rente der Klägerin auf monatlich 932,77 EUR führte.
Einen darüber hinausgehenden Anspruch auf Erhöhung der Altersrente durch Zuerkennung weiterer Beitragszeiten wegen Kindererziehung oder weiterer Entgeltpunkte hat die Klägerin nicht. Zwar liegt weiterhin eine Differenzierung hinsichtlich des Geburtsjahrgangs der Kinder vor. Diese ist aber unter Berücksichtigung der vom BVerfG entwickelten Grundsätze in dem Urteil vom 07.07.1992 und der zwischenzeitlich erfolgten weiteren sozialpolitischen Maßnahmen zum Schutz und zur Förderung von Familien mit Kindern durch den Gesetzgeber in dem vom Gericht zu überprüfenden Maße hinzunehmen.
Das SG hat in seinem Urteil bereits zutreffend darauf hingewiesen, dass nach § 306 SGB VI bei einer Neuregelung der einer laufenden Rente bereits zugrunde gelegten persönlichen Entgeltpunkte grundsätzlich die Rentenhöhe nicht neu bestimmt wird, sofern nicht eine entsprechende Ausnahmevorschrift existiert. Hinsichtlich der Kindererziehungszeiten ist in § 307d SGB VI eine entsprechende Regelung vorhanden. Die Beklagte hat diese Regelung auf die Klägerin mit dem streitgegenständlichen Bescheid vom 08.09.2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23.02.2015 in rechtmäßiger Weise umgesetzt.
Anhaltspunkte für eine Verfassungswidrigkeit dieser Neuregelungen sieht der Senat insbesondere im Hinblick auf die wesentlichen Entscheidungsgrundsätze des BVerfG in seinem Urteil vom 07.07.1992 nicht. Das BVerfG hat in seinem Urteil vom 07.07.1992 zutreffend ausgeführt, dass der Gesetzgeber mit der zum 01.01.1992 umgesetzten Rentenreform in § 56 SGB VI einen ersten Schritt zur Verbesserung der Alterssicherung von Familien mit Kindern in der gesetzlichen Rentenversicherung unternommen hat. Bei der Festlegung der Reformschritte gebühre dem Gesetzgeber eine ausreichende Anpassungszeit und er dürfe hierbei die jeweilige Haushaltslage und die finanzielle Situation der gesetzlichen Rentenversicherung berücksichtigen. Unabhängig davon, auf welche Weise die Mittel für den Ausgleich aufgebracht würden, habe der an den Verfassungsauftrag gebundene Gesetzgeber erkennbar sicherzustellen, dass sich mit jedem Reformschritt die Benachteiligung der Familie tatsächlich verringere. Das BVerfG hat dabei in seinen Entscheidungsgründen aber auch darauf hingewiesen, dass ein „Familienlastenausgleich“ nicht ausschließlich im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung zu erfolgen habe, sondern dass es sich hierbei um ein gesamtgesellschaftliches Problem handele, das ein Tätigwerden des Gesetzgebers auf unterschiedlichen Feldern erfordere (BVerfG, a.a.O., Rdnrn. 130 ff.). Zwischenzeitlich hat der Gesetzgeber zahlreiche Regelungen geschaffen, die die gleichzeitige Erziehung von Kindern und Erwerbstätigkeit der Eltern verbessert haben, so dass größere Lücken in den Rentenbiographien der Eltern vermieden werden können und sich insoweit das Problem nicht allein im Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung manifestieren muss und auch nicht allein überwiegend bei Frauen als erziehendem und auf eine Erwerbstätigkeit verzichtendem Elternteil.
Das BVerfG hat sich in seiner Entscheidung auch mit der Frage der Zulässigkeit von Stichtagsregelungen auseinandergesetzt, die vornehmlich die vor dem Jahr 1921 geborenen Mütter betroffen hatten. Ein finanzieller Mehraufwand im Allgemeinen rechtfertigt dabei grundsätzlich keine Differenzierung nach Stichtagen. Bestehen aber anderweitige Möglichkeiten der Absicherung, z. B. durch private Vorsorge oder freiwillige Beiträge und stellt die Umsetzung einer gesetzlichen Neuregelung neben der Frage der Finanzierbarkeit auch eine nicht zu bewältigende verwaltungstechnische Aufgabe dar, die letztlich die Funktionsfähigkeit des Systems in Frage stellen würde, kann in einer Stichtagsregelung kein grundsätzliches verfassungsrechtliches Problem gesehen werden. Entscheidend ist dabei nach Ansicht des Senats aber, dass es sich bei den Kindererziehungszeiten nach §§ 56, 249, 307d SGB VI zwar um Pflichtbeitragszeiten handelt, denen aber mangels eigener Beitragsleistung des Versicherten in diesen Zeiten kein eigentumsrechtlicher Schutz im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG zukommt. Der Gesetzgeber hatte erstmals mit der großen Reform des Rentenrechts im Jahr 1992 entsprechende Zeiten zuerkannt, die den Versicherten zugutekommen sollten, die noch nicht im Bezug von Altersrenten standen und deren Erwerbsbiografien insoweit noch nicht abgeschlossen waren, deren Absicherung im Alter durch das zwischenzeitlich geänderte Rollenverständnis und die soziale Wirklichkeit aber nicht mehr ausschließlich über den Ehepartner oder die eigenen Kinder erfolgen konnte oder musste. Mit der Einbeziehung der früher geborenen Kinder über die Regelung des § 249 SGB VI hat der Gesetzgeber insoweit einen gewissen Ausgleich und eine Abmilderung der Stichtagsregelung schaffen wollen. Auf die Begründung des BVerfG in seinen Entscheidungsgründen wird insoweit verwiesen (BVerfG, a.a.O., Rdnr. 150 ff.).
Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin weist allerdings zutreffend auf den Umstand hin, dass die im Jahr 1992 getroffene Stichtagsregelung nicht das Problem darstellt, sondern die jetzt vorgenommene Neuregelung durch das RV-LeistungsverbesserungsG vom 23.06.2014, bei der der Gesetzgeber selbst die Notwendigkeit einer weiteren Angleichung der Kindererziehungszeiten gesehen hatte, die bestehende Regelung selbst als ungerecht bezeichnet hatte, aber eben auch weiterhin am Stichtag 01.01.1992 festgehalten und lediglich eine Anhebung der Zeiten, aber eben gerade keine Gleichstellung der Kinder vorgenommen hat. Der gesetzgeberischen Begründung ist aber zu entnehmen, dass für die Differenzierung weitere Gründe gesehen wurden, insbesondere im Hinblick auf die Finanzierbarkeit dieser Leistungen generell bei Einbeziehung auch der laufenden Renten ohne Begrenzung und im Hinblick auf die verwaltungstechnische Umsetzung, die mit der pauschalen Zuerkennung eines Entgeltpunktes für machbar erachtet wurde. Insoweit wird auf die BT-Drs. 18/909, die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage mit Drs. 18/3700 vom 07.01.2015 und die Stellungnahme des Sozialverbands Deutschland vom 29.04.2014 verwiesen.
Hinsichtlich der getroffenen Neuregelung zum 01.07.2014 hat der Senat den weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zu berücksichtigen und lediglich zu überprüfen, ob Anhaltspunkte für eine offensichtlich unsachliche oder rechtswidrige Regelung bestehen. Derartige Anhaltspunkte sieht der Senat nicht. Vielmehr hat der Gesetzgeber einen weiteren Schritt zum Familienlastenausgleich unternommen und mit der pauschalen Zuerkennung eines weiteren Entgeltpunktes auch die laufenden Rentenbezieher entsprechend effektiv in die Leistungsverbesserung einbezogen.
Der Senat sieht auch keinen Verstoß gegen europarechtliche Normen. Ein europarechtlich relevanter Sachverhalt kann nicht gesehen werden. Die Ausgestaltung beitragsunabhängiger Sozialleistungen, zu denen in diesem Fall auch die Bewertung von Kindererziehungszeiten gehört, obliegt nach der Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich der Gestaltungsfreiheit des nationalen Gesetzgebers (vgl. hierzu Fuchs, Die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Sozialrecht im Jahr 2016, NZS 2017, 81 ff. m. w. N.; ECLI:EU:C:2016:436, Urteil vom 14.06.2016). Im Übrigen hat bereits das SG darauf hingewiesen, dass Art. 44 VO (EG) Nr. 987/2009 nicht isoliert gesehen werden kann, sondern der Umsetzung der sog. Grundverordnung dient, also der VO Nr. 883/2004, die sich mit der sozialen Sicherheit von Arbeitnehmern im Rahmen der Freizügigkeit in der EU beschäftigt. Die Klägerin hat aber keinerlei Versicherungszeiten außerhalb der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt. Eine einheitliche Ausgestaltung von Ansprüchen wegen Kindererziehung in den Mitgliedsstaaten der EU ist dem europäischen Recht bislang nicht zu entnehmen.
Nach alledem war die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Bayreuth vom 21.03.2016 als unbegründet zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision wird nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil die hier streitige Rechtsfrage der Differenzierung nach dem Stichtag 01.01.1992 trotz gesetzlicher Neuregelung der Kindererziehungszeiten mit dem RV-LeistungsverbesserungsG zum 01.07.2014 noch nicht höchstrichterlich geklärt ist. Das bereits beim Bundessozialgericht anhängige Verfahren B 13 R 2/17 R betrifft einen anderen Lebenssachverhalt.