Aktenzeichen 2 K 1669/15
Leitsatz
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
II.
1. Die Klage ist zulässig.
Die Prozessfähigkeit ist Prozessvoraussetzung und Prozesshandlungsvoraussetzung, d.h. sie ist Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Klage und für die Wirksamkeit jeder einzelnen Prozesshandlung, die von oder gegenüber den Prozessbeteiligten vorgenommen wird.
Nach § 58 Abs. 1 Nr. 1 der Finanzgerichtordnung (FGO) sind alle nach bürgerlichem Recht geschäftsfähigen Personen prozessfähig. Nach § 58 Abs. 2 Satz 2 FGO i.V.m. § 56 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) ist die Prozessfähigkeit in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen.
Prozessuale Handlungen eines (wegen teilweiser Geschäftsunfähigkeit infolge einer geistigen Störung partiell) Prozessunfähigen sind nicht unzulässig, sondern unwirksam (vgl. BFH- Beschluss vom 14. Dezember 2004 III B 115/03, BFH/NV 2005, 713). Führt ein Prozessunfähiger den Prozess, so kann der Mangel aber dadurch geheilt werden, dass der gesetzliche Vertreter die bereits vorgenommenen Verfahrenshandlungen genehmigt. Allerdings kann der gesetzliche Vertreter auch die Genehmigung verweigern, so dass die unwirksame Prozesshandlungen unwirksam bleiben und die Klage als unzulässig abzuweisen ist (vgl. Drüen, AO-StB 2006, 158 ff., Drüen in Tipke/Kruse, AO und FGO, § 58 FGO Tz. 15, m.w.N.).
Zwar kann im Streitfall dahinstehen, ob der Kläger prozessfähig ist und er wirksam Klage erhoben hat. Dafür spricht u.a. das psychiatrische Gutachten und nicht zuletzt die Einschätzung der Betreuerin des Klägers, die den Kläger für voll geschäftsfähig hält. Jedenfalls hat die mit Beschluss des Amtsgerichts … vom 15. April 2015 für den Kläger bestellte Betreuerin die Klageerhebung genehmigt (vgl. Schriftsatz der Betreuerin vom 10. Mai 2016).
2. Die Klage ist aber unbegründet.
Die Steuerbescheide 2010 vom 11. Oktober 2013 und 2011 vom 10. April 2014 sind bestandskräftig und das FA hat zu Recht deren Änderung abgelehnt.
a) Die Festsetzung der Einkommensteuer, Umsatzsteuer und des Gewerbesteuermessbetrags für 2010 und 2011 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO scheidet aufgrund des groben Verschuldens des Klägers (und seiner Ehefrau bezüglich Einkommensteuer) aus. Trotz der Aufforderung zur Abgabe der Steuererklärungen haben der Kläger und seine Ehefrau ihre Mitwirkungspflicht verletzt, entscheidungserhebliche Tatsachen -hier die in den Steuererklärungen angegebenen Beträgedem FA rechtzeitig mitzuteilen.
Steuerbescheide sind nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
aa) Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Die in den Steuererklärungen des Klägers und seiner Ehefrau für die Streitjahre angegebenen Beträge sind neue Tatsachen, die erstmals nach Bestandskraft der Steuerfestsetzungen bekannt geworden sind (vgl. BFH-Urteil vom 10. Dezember 2013 VIII R 10/11, BFH/NV 2014, 820, m.w.N.).
bb) Grobes Verschulden i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit. Grobe Fahrlässigkeit ist anzunehmen, wenn der Steuerpflichtige die ihm nach seinen persönlichen Verhältnissen zumutbare Sorgfalt in ungewöhnlichem Maße und in nicht entschuldbarer Weise verletzt. Es gilt ein subjektiver Verschuldensbegriff, d.h. es wird auf die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten des Steuerpflichtigen im konkreten Einzelfall abgestellt (vgl. BFH in BFH/NV 2014, 820, m.w.N.).
Bei Zusammenveranlagungen sind nachträglich bekannt gewordene Tatsachen oder Beweismittel des einen Steuerpflichtigen (z.B. Ehegatten) auch hinsichtlich des Steuerbescheids des anderen Steuerpflichtigen nachträglich bekannt gewordene Tatsachen oder Beweismittel. Aus dem Wesen der Zusammenveranlagung und der daraus folgenden Gesamtschuldnerschaft folgt, dass die Eheleute als ein Steuerpflichtiger zu behandeln sind und sich jeder das grobe Verschulden des anderen zurechnen lassen muss (vgl. von Wedelstädt in: Beermann/Gosch, AO und Finanzgerichtsordnung -FGO- § 173 AO Rz. 91, m.w.N.).
(1) Der Steuerpflichtige handelt in aller Regel grob schuldhaft i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO, wenn er die Frist zur Abgabe der Steuererklärungen versäumt und den Erlass eines Schätzungsbescheids veranlasst. Dieses Verschulden wirkt bis zur Bestandskraft des Schätzungsbescheids fort und wird nicht etwa durch ein späteres leichtes Verschulden des Steuerpflichtigen bei der Anfechtung dieses Bescheids verdrängt (vgl. BFH-Urteil vom 16. September 2004 IV R 62/02, BStBl II 2005, 75, m.w.N.).
Gemäß § 25 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG), § 18 Abs. 3 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) und § 14a Satz 1 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) hat für den Kläger und seine Ehefrau die Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung bestanden. Unstreitig hat das FA den Kläger (und seine Ehefrau) aufgefordert, die Steuererklärungen abzugeben. Diese Aufforderung wiederholte das FA zuletzt nochmals in den unter dem Vorbehalt der Nachprüfung erlassenen Schätzungsbescheiden vom 13. September 2012 und vom 11. Oktober 2013.
(2) Die Ehefrau des Klägers hat grob fahrlässig gehandelt, weil sie für die Streitjahre ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Abgabe der Einkommensteuererklärungen trotz ausdrücklicher Aufforderungen des FA nicht rechtzeitig nachgekommen ist und die Einkommensteuer geschätzt werden musste. Im Streitfall sind der Kläger und seine Ehefrau in den Streitjahren zusammen zur Einkommensteuer veranlagt worden. Dem Kläger ist das grobe Verschulden seiner Ehefrau an der nicht rechtzeitigen Abgabe der Einkommensteuererklärungen 2010 und 2011 zuzurechnen (vgl. BFH-Urteil vom 24. Juli 1996 I R 62/95, BStBl II 1997, 115). Die Einkommensteuererklärung 2010 ist bis spätestens 29. Februar 2012 abzugeben gewesen, die für 2011 bis spätestens 31. Mai 2012. Die Abgabe der Steuererklärungen für 2010 und 2011 am 16. April 2015 (vgl. lt. Einspruchsentscheidung vom 29. Mai 2015, Rb-Akte, Bl. 95) ist somit verspätet gewesen. Eine Änderung der Einkommensteuerbescheide 2010 und 2011 nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO ist schon wegen des groben Verschuldens der Ehefrau durch Versäumung der Frist zur Abgabe der Einkommensteuererklärungen und damit am nachträglichen Bekanntwerden der steuermindernden Tatsachen nicht mehr möglich.
(3) Aber auch der Kläger hat grob fahrlässig gehandelt, weil er die Steuererklärungen – insbesondere auch über Umsatzsteuer und Gewerbesteuermessbetragfür die Streitjahre trotz seiner gesetzlichen Verpflichtung zur Abgabe der Steuererklärungen und der ausdrücklichen mehrfachen Aufforderung zur Abgabe nicht rechtzeitig abgegeben hat. Die Steuererklärungen 2010 waren bis spätestens (31. Mai 2011 -§ 149 Abs. 2 Satz 1 AO- und nach gewährter Fristverlängerung bis) 29. Februar 2012 abzugeben. Die Steuererklärungen 2011 waren bis 31. Mai 2012 abzugeben. Einen Antrag auf Fristverlängerung zur Abgabe der Steuererklärungen 2011 wurde nach Aktenlage nicht gestellt. Die Abgabe der Steuererklärungen für 2010 und 2011 am 16. April 2015 war somit verspätet.
Hinzu kommt, dass dem Kläger die Bedeutung steuerlicher Fristen, die Möglichkeit Fristverlängerungsanträge zu stellen und die Konsequenzen versäumter Fristen bekannt gewesen ist, da er nach dem unbestrittenen Vortrag des FA z.B. am 11. Januar 2012 einen Fristverlängerungsantrag zur Abgabe der Steuererklärungen 2010 gestellt hat.
(a) Zu Unrecht beruft sich der Kläger darauf, dass sein möglicherweise nur leichtes Verschulden aufgrund seiner psychischen Erkrankung mindestens ab 2013 sein ursprüngliches grobes Verschulden bei Verletzung der Steuererklärungspflicht bis zum Erlass der Steuerbescheide unter Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung verdränge. Jedoch heilt ein späteres leichtes Verschulden des Steuerpflichtigen sein vorangegangenes grobes Verschulden bei Nichtabgabe der Steuererklärung nicht. Denn dieses Verschulden wirkt bis zur Bestandskraft der Schätzungsbescheide fort und wird nicht etwa durch ein späteres leichtes Verschulden des Steuerpflichtigen bei der Anfechtung dieses Bescheids verdrängt (vgl. BFH in BStBl II 2005, 75).
(b) Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht aufgrund des vom Kläger vorgetragenen sich seit Jahren schleichend verschlechternden Gesundheitszustands.
Krankheit entschuldigt (die Fristversäumnis zur Abgabe der Steuererklärungen) nur, wenn sie plötzlich und unvorhersehbar auftritt oder so schwerwiegend ist, dass weder die Wahrung der Frist noch die Bestellung eines Vertreters möglich sind (vgl. BFH-Beschluss vom 3. Juli 2006 IV B 98/05, BFH/NV 2006, 2226). Die vom Kläger erstmals am 16. April 2015 gegenüber dem FA vorgebrachten Krankheitsgründe stehen der Bejahung des groben Verschuldens des Klägers nicht entgegen, da die psychische Erkrankung schon nach dem eigenen Vortrag des Klägers weder plötzlich noch unvorhersehbar aufgetreten ist. Die Krankheit ist auch nicht so schwerwiegend gewesen, dass weder die Wahrung der Frist noch die Bestellung eines Vertreters möglich gewesen wäre, da er selbst von einem seit längerer Zeit schleichenden Prozess der Verschlechterung spricht. Wenn ein Steuerpflichtiger aufgrund der bereits jahrelang andauernden psychischen Krankheit seiner steuerlichen Erklärungspflicht nicht nachkommen hat können, muss er zur Wahrung seiner Sorgfaltspflichten rechtzeitig einen steuerlichen Vertreter bestellen und diese Aufgabe an diesen delegieren (vgl. Urteil des Finanzgerichts München vom 20. Januar 2015 2 K 1518/12, juris). Dies hat der Kläger unterlassen.
Darüber hinaus steht zur Überzeugung des Gerichts (bis) zum Zeitpunkt der noch rechtzeitig möglichen Abgabe der Steuererklärungen 2010 am 29. Februar 2012 und für 2011 am 31. Mai 2012 -und im Übrigen auch danachnicht fest, dass der Kläger gesundheitlich nicht in der Lage gewesen wäre, seine Erklärungspflichten zu erfüllen.
Im Gegenteil der Kläger ist in diesem Zeitraum handlungsfähig gewesen. Die Umsatzsteuervoranmeldung für das IV. Quartal 2011 ist am 16. März 2012 nach dem unbestrittenen Vortrag des FA dem FA überspielt worden. Der Kläger hat noch (am 25. Juli) 2012 dem FA mitgeteilt, dass die Steuerkanzlei H ihn und seine Ehefrau steuerlich vertritt. Der Kläger hat zudem -wie in den Jahren zuvorauch weitestgehend die Umsatzsteuervoranmeldungen der Jahre 2012 bis 2013 abgegeben. Auch die Betreuerin des Klägers und die Prozessbevollmächtigte des Klägers halten den Kläger für voll geschäftsfähig. Für die Handlungsfähigkeit des Klägers spricht ferner, dass er die Prozessbevollmächtigte bestellt hat, er dieser die erforderlichen Unterlagen zur Verfügung gestellt hat und er schließlich Klage vor dem Gericht hat erheben lassen.
Auch das psychiatrische Gutachten vom 11. April 2015 bestätigt ebenso wenig wie das ärztliche Attest vom 17. April 2015, dass der Kläger bereits 2012 und 2013 nicht mehr in der Lage gewesen wäre, seinen steuerlichen Pflichten nachzukommen. Das psychiatrische Gutachten vom 11. April 2015 hat für die Vergangenheit keine eigenen Feststellungen im Hinblick auf eine bereits langjährig bestehende Handlungsunfähigkeit des Klägers getroffen. Der psychiatrische Befund bezieht sich auf den Begutachtungstag vom 10. April 2015 (vgl. Rb-Akte, Bl. 71 bis 75). Die Gutachterin kommt dabei zwar zu dem Schluss, dass sie im Hinblick auf die Vermögenssorge und für die Vertretung gegenüber Behörden … eine Betreuung empfiehlt. Jedoch ist auch nach Auffassung der Gutachterin noch am 10. April 2015 die freie Willensbestimmung beim Kläger als nicht ausreichend eingeschränkt anzusehen, d.h. eine Betreuung in den genannten Bereichen ist nicht gegen den Willen des Klägers angezeigt.
Gestützt auf dieses psychiatrische Gutachten und der aktuell diagnostizierten komplexen Erkrankung des Klägers sowie der aktuellen Präsentation des Klägers hat der Hausarzt -Arzt für Naturheilverfahren, Chirotherapie und Sportmedizinzwar im ärztlichen Attest vom 17. April 2015 (vgl. Rb-Akte, Bl. 80) den Schluss gezogen, dass die depressive Erkrankung des Klägers schon längere Zeit vor Diagnosestellung bestanden hat, mindestens schon das ganze Jahr 2013, so dass der Kläger krankheitsbedingt seinen steuerlichen Pflichten nicht im nötigen Maß nachkommen hat können. Jedoch lässt sich diese Feststellung des Hausarztes weder auf das psychiatrische Gutachten stützen noch liegen dem ärztlichen Attest eigene Erkenntnisse des Hausarztes über den Gesundheitszustand des Klägers während des Zeitraums ab 2012 zugrunde, da der Kläger sich nur 2009 wegen eines akuten Infekts in der Behandlung seines Hausarztes befunden hat und der Kläger erst wieder am 16. April 2015 bei seinem Hausarzt vorstellig geworden ist.
b) Hinzu kommt, dass eine psychische Erkrankung (in der Form einer Depression) eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur in besonderen Ausnahmefällen rechtfertigt (vgl. Söhn, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, Kommentar, § 110 AO Rdnr. 147; Rätke, in: Klein, AO-Kommentar, 10. Auflage, § 110 Rdnr. 9; jeweils mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung). Ein derartiger Ausnahmefall liegt im Streitfall nicht vor.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.