Aktenzeichen 2 K 1723/16
Leitsatz
Tenor
1. Die Nichtigkeit des Umsatzsteuerbescheids für 2012 vom 28.06.2004 wird festgestellt.
2. Die Kosten des Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Gründe
Die zulässige Klage ist im Hauptantrag begründet. Daher musste über den Hilfsantrag nicht mehr entschieden werden.
Die Klage ist im Hauptantrag zulässig.
Der Klage auf Feststellung der Nichtigkeit (§ 41 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung – FGO) steht keine Entscheidung des Finanzamts nach § 125 Abs. 5 Abgabenordnung (AO) entgegen.
Die Feststellung nach § 125 Abs. 5 AO ist ein Verwaltungsakt (Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 20.08.2014 X R 15/10, BFHE 247, 8, BStBl II 2015, 109). Eine negative Feststellung nach § 125 Abs. 5 AO steht einer Klage nach 41 FGO entgegen (BFH-Urteil vom 20.08.2014 X R 15/10, BFHE 247, 8; Urteil des FG Neustadt vom 22.11.1995 5 K 1802/95).
Bei einer Äußerung eines Finanzamts zu § 125 AO ist allerdings stets zu prüfen, ob es damit tatsächlich eine Feststellung gemäß § 125 Abs. 5 AO treffen wollte, oder nur seine Rechtsansicht dargestellt hat (vgl. BFH-Urteil vom 07.10.1997 VIII R 4/96, BFH/NV 1998, 1195; BFH-Urteil vom 20.08.2014 X R 15/10, BFHE 247, 8).
Der Einspruchsentscheidung vom 28.03.2012 ist keine Feststellung entsprechend § 125 Abs. 5 AO zu entnehmen. Dagegen spricht schon der Tenor der Entscheidung, die ausdrücklich nur – neben der Verbindung der Einsprüche zu Einkommen- und Umsatzsteuer 2002 – die Zurückweisung des Einspruchs enthält. Hinzu kommt, dass auch die enthaltene Rechtsbehelfsbelehrung:nur die Entscheidung über den Einspruch abdeckt und nicht eine – damit verbundene – Entscheidung nach § 125 Abs. 5 AO, gegen die ihrerseits der Einspruch statthaft gewesen wäre (§ 347 Abs. 1 AO). Zuletzt ist darauf hinzuweisen, dass auch die ausführlichen Erläuterungen in der Einspruchsentscheidung zur (fehlenden) Nichtigkeit keinerlei Bezug auf § 125 Abs. 5 AO nehmen und auch an keiner Stelle eine Feststellung zur Nichtigkeit angesprochen wird. Der einleitende Satz „Die angefochtenen Bescheide sind nicht nichtig“ kann daher nur als Einleitung einer Darstellung der Rechtsauffassung des Finanzamts verstanden werden.
Die Feststellungsklage ist auch begründet.
Nach § 125 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) ist ein Verwaltungsakt – und damit auch ein Steuerbescheid – nur dann nichtig, wenn er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies außerdem bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Diese Voraussetzungen sind nur ausnahmsweise gegeben; in der Regel ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt lediglich anfechtbar. Um das Anfechtungserfordernis im Interesse der Rechtssicherheit nicht zu beeinträchtigen, hat die Rechtsprechung einen besonders schwerwiegenden Fehler nur angenommen, wenn er die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in einem so hohen Maße verletzt, dass von niemandem erwartet werden kann, den ergangenen Verwaltungsakt als verbindlich anzuerkennen. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, muss anhand der jeweiligen für das Verhalten der Behörde maßgebenden Rechtsvorschrift beurteilt werden (Urteil des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 20.12.2000 I R 50/00, BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381, m.w.N.).
Eine Schätzung der Besteuerungsgrundlagen, zu der die Finanzbehörden insbesondere bei Verletzung von Mitwirkungspflichten berechtigt und verpflichtet sind, verlangt die Berücksichtigung aller für die anzuwendende Steuerrechtsnorm einschlägigen Umstände. Die Vorschriften über die Schätzung erlauben es, Tatsachenfeststellungen mit einem geringeren Grad an Überzeugung zu treffen, als dies in der Regel (nach § 88 AO) geboten ist (sog. Reduzierung des Beweismaßes; vgl. BFH-Urteile vom 15.02.1989 X R 16/86, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462; vom 14.08.1991 X R 86/88, BFHE 165, 458, BStBl II 1992, 128). Der Grad der grundsätzlich erforderlichen Gewissheit („Überzeugung“) reduziert sich in der Weise, dass der Sachverhalt aufgrund von Wahrscheinlichkeitserwägungen festgestellt werden darf. Dies bedeutet, dass sich das Gericht hinsichtlich nicht feststehender Tatsachen über gegebene Zweifel hinwegsetzen kann. Stets ist freilich vorauszusetzen, dass die Besteuerungsgrundlagen nicht ermittelt oder nicht berechnet werden können (§ 162 Abs. 1 AO). Andererseits ist das gewonnene Schätzungsergebnis nur dann schlüssig, wirtschaftlich möglich und vernünftig (vgl. BFH-Beschluss vom 28.03.2001 VII B 213/00, BFH/NV 2001, 1217, m.w.N. der Rechtsprechung), wenn feststehende Tatsachen berücksichtigt werden.
Eine Schätzung erscheint nicht schon deswegen als rechtswidrig, weil sie von den tatsächlichen Verhältnissen abweicht; solche Abweichungen sind notwendig mit einer Schätzung verbunden, die in Unkenntnis der wahren Gegebenheiten erfolgt. Die Schätzung erweist sich vielmehr erst dann als rechtswidrig, wenn sie den durch die Umstände des Falles gezogenen Schätzungsrahmen verlässt. Wird die Schätzung erforderlich, weil der Steuerpflichtige – wie im Streitfall – seiner Erklärungspflicht nicht genügt, kann sich das FA an der oberen Grenze des Schätzungsrahmens orientieren, weil der Steuerpflichtige möglicherweise Einkünfte verheimlichen will. Verlässt eine überzogene Schätzung diesen Rahmen, hat dies im Allgemeinen nur die Rechtswidrigkeit der Schätzung, nicht aber bereits ihre Nichtigkeit zur Folge. Nichtigkeit ist selbst bei groben Schätzungsfehlern, die auf der Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten oder der wirtschaftlichen Zusammenhänge beruhen, regelmäßig nicht anzunehmen (BFH-Urteil vom 20.12.2000 I R 50/00, BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381). Etwas anderes gilt, wenn sich das FA nicht nach dem Auftrag des § 162 Abs. 1 AO an den wahrscheinlichen Besteuerungsgrundlagen orientiert, sondern bewusst zum Nachteil des Steuerpflichtigen geschätzt hat. Willkürmaßnahmen, die mit den Anforderungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung schlechterdings nicht zu vereinbaren sind, können einen besonders schweren Fehler i.S. von § 125 Abs. 1 AO abgeben (BFH-Urteil vom 20.12.2000 I R 50/00, BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381).
Willkürlich und damit nichtig i.S. von § 125 Abs. 1 AO ist ein Schätzungsbescheid nicht nur bei subjektiver Willkür des handelnden Bediensteten. Auch wenn das Schätzungsergebnis trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und ggf. welche Schätzungserwägungen angestellt wurden, wenn somit ein „objektiv willkürlicher“ Hoheitsakt vorliegt, ist Nichtigkeit i.S. von § 125 Abs. 1 AO gegeben. Es ist dann davon auszugehen, dass die Schätzung nicht mehr mit der Rechtsordnung und den diese Ordnung tragenden Prinzipien in Einklang steht, da das FA grundsätzlich gehalten ist, diejenigen Erkenntnismittel, deren Beschaffung und Verwertung ihm zumutbar und möglich gewesen wäre, auszuschöpfen (BFH-Urteil vom 15.03.2002 X R 33/99, HFR 2002, 963). Selbst wenn derartige Erkenntnismöglichkeiten und auch andere geeignete Anhaltspunkte für die Schätzung fehlen, muss es Ziel der Schätzung sein, die Besteuerungsgrundlagen annähernd zutreffend zu ermitteln. Die Schätzung darf nicht dazu verwendet werden, „die Steuererklärungspflichtverletzung zu sanktionieren und den Kläger zur Abgabe der Erklärungen anzuhalten“ (BFH-Urteil vom 15.03.2002 X R 33/99, HFR 2002, 963); „Strafschätzungen“ eher enteignungsgleichen Charakters gilt es zu vermeiden.
Im Rechtsstaat bleibt dem irrationalen Verwaltungsakt die Gültigkeit verwehrt. Anders als ein auf rationalem Verwaltungshandeln beruhender, fehlergeprägter Verwaltungsakt verletzt ein irrationaler, auf unvertretbaren Sachverhaltsannahmen oder Rechtsauslegungen beruhender Verwaltungsakt als objektiv willkürliches Verhalten der Finanzbehörde die an eine ordnungsgemäße Verwaltung zu stellenden Anforderungen in so hohem Maße, dass ihm jede Verbindlichkeit abzusprechen ist (Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz).
Auch wenn die Sachverhaltsermittlung erschwert ist und der Steuerpflichtige seine Mitwirkungspflichten verletzt, kann sich die Behörde nicht auf eine „Schätzung ins Blaue hinein“ zurückziehen, sondern muss seiner Verpflichtung zur Schätzung der Besteuerungsgrundlagen (§ 162 Abs. 1 Satz 1 AO) genügen, indem es den fragmentarisch bekannten Sachverhalt als Basis einer Schätzung zugrunde legt und in nachvollziehbarer Weise Schlüsse auf die unbekannten Sachverhaltselemente zieht. Dabei darf sie nicht einseitig nur Aspekte zulasten des Steuerpflichtigen in seine Schätzung einstellen, sondern muss auch naheliegende Möglichkeiten zugunsten des Steuerpflichtigen mitberücksichtigen (vgl. auch BFH-Urteil vom 15.05.2002 X R 33/99, HFR 2002, 963, Rn. 20).
Dabei kann es nicht darauf ankommen, ob die vom Finanzamt angesetzte Steuerlast „per se“ absurd hoch ist, oder in vergleichbaren Konstellationen vollkommen unrealistisch ist. Willkürlich ist eine Schätzung, deren Annäherungsgrad an die Realität – bzw. Abweichung von der Realität – im konkreten Fall unvertretbar ist.
Die angegriffene Schätzung ist objektiv willkürlich, da sich den Akten des Finanzamts keinerlei Schätzungserwägungen entnehmen lassen. Vielmehr ist offenkundig, dass das Finanzamt naheliegende Möglichkeiten zur Sachverhaltsermittlung, insb. die Auswertung der eidesstattlichen Versicherung vom 28.05.2002, unterlassen hat.
Die angesetzten Besteuerungsgrundlagen weichen auch eklatant von den bereits damals ermittelbaren Tatsachen ab. So ist aus den Akten in keiner Weise nachvollziehbar, wie von durchschnittlichen Monatsvoranmeldungen in Höhe von rund 700 € (aufs Jahr 8.400 €) auf 15.000 geschlossen wurde. Die nachträglich gegebene Erklärung „Anlaufschwierigkeiten“ wird durch die dem Finanzamt schon damals zur Verfügung stehende eidesstattliche Versicherung widerlegt, aus der sich jedenfalls länger anhaltende „Anlaufschwierigkeiten“ aufdrängen (Einzelumsatz in Höhe von nur 300 € als Außenstand, nur zwei weitere Aufträge für die folgenden drei Monate bekannt). Für einen „Aufschlag“ in Höhe von 80% auf den fortgeschriebenen Mittelwert fehlt eine erkennbare Veranlassung. Die Diskrepanz zu den vorangemeldeten Umsätzen wird noch extremer, wenn man die Werte aus der eidesstattlichen Versicherung (300 € im Mai, ähnliche Höhe für Juli und August) ansetzt.
Aus den Akten sind keinerlei Hinweise dafür ersichtlich, dass sich der Kläger dem Zugriff des Finanzamts entziehen wollte, um eine Steuerhinterziehung zu verheimlichen. Seine Voranmeldungen hat er entrichtet, obwohl sich hieraus insgesamt eine (geringe) Zahllast ergab.
Der Kläger hat den Anlass zur Schätzung gegeben und muss deswegen grundsätzlich auch grobe Schätzungsfehler akzeptieren (BFH-Urteil vom 20.12.2000 I R 50/00, BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381), sofern das Finanzamt eine rational begründbare Schätzung durchführt. Ebenso hat er hier die damit einhergehenden Nachteile einer öffentlichen Zustellung selbst zu tragen, da u.a. die Erfüllung seiner Erklärungspflicht gemäß § 18 Umsatzsteuergesetz seinen Aufenthaltsort offenbart hätte. Dennoch darf das Finanzamt das Instrument der öffentlichen Zustellung nicht nutzen, um im Hinblick auf nicht zu erwartenden Widerspruch einseitige Strafschätzungen zu erlassen.
Da dem Finanzamt bei Erlass des Schätzungsbescheides bereits bekannt war, dass dieser nur durch öffentliche Zustellung bekannt gegeben werden konnte und die Rechtsschutzmöglichkeiten des Klägers daher von vorneherein stark eingeschränkt waren, hätte das Finanzamt die Schätzungsgrundlagen genauer ermitteln (z.B. durch Nachfrage bei den aus der eidesstaatlichen Versicherung bekannten Auftraggebern), die frei verfügbaren Unterlagen sichten und sein Vorgehen genauer dokumentieren müssen, um seiner Verpflichtung, den Sachverhalt auch zugunsten des Steuerpflichtigen zu ermitteln (§ 88 Abs. 2 AO), zu genügen und dem Anschein einer einseitigen „Strafschätzung“ zu entgehen. Wenn es den Verwaltungsaufwand unter Aufwand-Ertrags-Überlegungen geringhalten wollte, so hätte es jedenfalls nicht einseitig zulasten des Klägers von „Anlaufschwierigkeiten“ ausgehen dürfen.
Die Summe der Unterlassungen sind mit den Erwartungen an eine ordnungsgemäße Verwaltung nicht mehr zu vereinbaren. Dabei kommt es nicht darauf an, ob ein bewusstes Fehlverhalten des Sachbearbeiters vorliegt, da äußerlich eine bewusste Strafschätzung nicht von einer nur auf Nachlässigkeit beruhenden weit überzogenen Schätzung zu unterscheiden ist. Eine solche Nachlässigkeit wird exemplarisch belegt durch die fehlerhafte Aussage in der Einspruchsentscheidung zu den gewährten Vorsteuerbeträgen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung.