Steuerrecht

Inländischer Wohnsitz, Rechtsprechung des BFH, Bundesfinanzhof, Auslandsaufenthalt, Steuerpflichtiger, Kindergeldfestsetzung, Einspruchsentscheidung

Aktenzeichen  7 K 846/17

Datum:
14.5.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
StEd – 2018, 489
Gerichtsart:
FG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Finanzgerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Der Kindergeldaufhebungsbescheid vom 29.04.2016 und die hierzu erlassene Einspruchsentscheidung vom 26.01.2017 werden aufgehoben.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Aufhebungsbescheids vom 29.04.2016 sowie der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 26.01.2017. Die Familienkasse hat zu Unrecht das Vorliegen eines inländischen Wohnsitzes des Klägers und seiner Kinder verneint.
1. Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 1 Satz 3 EStG hat derjenige Anspruch auf Kindergeld, der im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, für Kinder, die im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben.
a) Nach § 8 AO hat jemand dort einen Wohnsitz, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Nach der Rechtsprechung des BFH ist der steuerrechtliche Wohnsitzbegriff objektiviert. Er stellt auf die tatsächlichen Gegebenheiten ab und knüpft in erster Linie an äußere Merkmale, nicht an subjektive Momente oder Absichten an. Maßgebend ist der objektive Zustand, nämlich das Innehaben einer Wohnung unter Umständen, die den Schluss rechtfertigen, dass der Wohnungsinhaber diese Wohnung innehaben und benutzen wird. Das setzt zunächst voraus, dass eine Wohnung mit zum Wohnen geeigneten Räumlichkeiten vorhanden ist, die der Steuerpflichtige innehat, d.h. über die er tatsächlich verfügen kann (BFH-Urteil vom 12. Januar 2001 VI R 64/98, BFH/NV 2001, 1231 m.w.N.). Ferner gilt, dass jeder Steuerpflichtige mehrere Wohnungen und mehrere Wohnsitze i.S. des § 8 AO haben kann. Diese können im In- und/oder im Ausland gelegen sein. Ein Wohnsitz i.S. des § 8 AO setzt nicht voraus, dass der Steuerpflichtige von dort aus seiner täglichen Arbeit nachgeht. Ebenso wenig ist erforderlich, dass der Steuerpflichtige sich während einer Mindestzahl von Tagen oder Wochen im Jahr in der Wohnung aufhält. Entscheidend ist allein, ob objektiv erkennbare Umstände dafür sprechen, dass der Steuerpflichtige die Wohnung für Zwecke des eigenen Wohnens beibehält. Für die Beurteilung dieser Frage können alle Umstände des Einzelfalles herangezogen werden. Sie müssen nur nach der Lebenserfahrung den Schluss erlauben, dass der Steuerpflichtige die Wohnung hält, um sie als solche zu nutzen (BFH-Urteil vom 19. März 1997 I R 69/96, BFHE 182, 296, BStBl. II 1997, 447).
Dabei spricht es nach der Lebenserfahrung für die Beibehaltung eines Wohnsitzes im Sinne des § 8 AO, wenn jemand eine Wohnung, die er vor und nach einem Auslandsaufenthalt als einzige ständig nutzt, während desselben unverändert und in einem ständig nutzungsbereiten Zustand beibehält. Dies gilt dann um so mehr, wenn der Steuerpflichtige die Wohnung jährlich mit einer gewissen Regelmäßigkeit auf die Dauer von zwischen drei bis acht Wochen nutzt. Von Bedeutung kann dabei auch sein, ob der Steuerpflichtige nach Beendigung des Auslandsaufenthaltes mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wohnung wieder ständig nutzen wird (BFH-Urteil vom 19. März 1997 I R 69/96, BFHE 182, 296, BStBl. II 1997, 447). Gegen einen inländischen Wohnsitz spricht bei einem zeitlich begrenzten Auslandsaufenthalt hingegen etwa, wenn die vor und nach dem Auslandsaufenthalt genutzte bzw. mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder genutzte Wohnung während des Auslandsaufenthalts (unter) vermietet wird (vgl. BFH-Urteil vom 17. Mai 1995 I R 8/94, BFHE 178, 294, BStBl. II 1996, 2).
b) Nach diesen Maßstäben haben sowohl der Kläger wie auch die beiden minderjährigen Kinder während des streitigen Zeitraums von September 2015 bis Januar 2017 – die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung entfaltet vorliegend bis Ende des Monats der Bekanntmachung der Einspruchsentscheidung Bindungswirkung (vgl. BFH-Urteil vom 5. Juli 2012 V R 58/10, BFH/NV 2012, 1953, m.w.N.) – einen Wohnsitz im Inland gehabt. Die Eigentumswohnung in A stellt eine Wohnung i.S. des § 8 AO dar, welche der Kläger in diesem Zeitraum „innehatte“. Bis zum Beginn des …-Aufenthaltes zum 1. September 2015 hatte er dort mit seiner Familie unstreitig einen Wohnsitz. Diesen hat er trotz seines Auslandsaufenthalts nicht aufgegeben. Denn er und seine Frau haben diese Wohnung unverändert eingerichtet behalten sowie die Versorgungsverträge weiterlaufen lassen und sind nach Beendigung des …-Aufenthalts im … 2017 in diese als ihren ständigen Aufenthaltsort zurückgekehrt. Damit haben sie die Wohnung während des Auslandsaufenthalts für die jederzeitige Nutzung bereitgehalten. Wenngleich ein konkreter Rückkehrtermin nicht von vornherein feststand, war die weitere Benutzung der Wohnung in absehbarer Zeit zu erwarten. Eine Vermietung hat nicht stattgefunden, vielmehr wurde die Wohnung von der älteren, in B studierenden Tochter, während der vorlesungsfreien Zeit und gelegentlich an den Wochenenden zu Wohnzwecken genutzt. Der Kläger hat die Wohnung mit seiner in … lebenden Familie auch immer wieder aufgesucht und damit dokumentiert, dass er sie für seine Wohnzwecke innehatte. So hat die gesamte Familie die Weihnachtszeiten 2015/2016 und 2016/2017 in der Wohnung in A verbracht und in den Sommermonaten Juli/August 2016 und 2017 die Ehefrau des Klägers mit den Kindern. Da der Kläger aufgrund seiner beruflichen Position nicht in der Lage war, die gesamten Sommerferien in A zu verbringen, hat er sich in dieser Zeit nur jeweils ca. 2 Wochen in A mit der Familie aufgehalten. Auch wenn nach Angaben des Klägers seine Stellung bei der Fa. … in … zeitlich nicht befristet war, ist es aufgrund der gesamten Umstände offensichtlich, dass er neben seiner Wohnung am Ort seines Arbeitseinsatzes seine (zweite) Wohnung in A nicht aufgeben wollte, da er von einem zeitlich beschränkten Einsatz in … ausging. Dies zeigt sein bisheriger beruflicher Werdegang – der Kläger war seit … in wechselnden Spitzenpositionen der deutschen Wirtschaft tätig … und wurde durch seinen bereits zwei Jahre später vollzogenen Wechsel zur … auch bestätigt. Die Wohnung in … (A) stellte somit auch während des Einsatzes in … die ständige Wohnstätte der Familie dar, wo alle Familienmitglieder bei den sich bietenden Gelegenheiten zusammentrafen und mit der jeder Einzelne der Familie die engsten persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen verbunden hat. Diese Aufenthalte in der … (A) hatten nicht nur Besuchscharakter – der Kläger und seine Familie hatten hier niemand besucht, sondern ihre eigene Wohnung aufgesucht – noch den Charakter eines kurzeitigen Aufenthalts zu Erholungszwecken. Denn die Aufenthalte in der Wohnung dienten nicht der Erholung, wie es etwa der Aufenthalt an einem Urlaubsort hätte. Vielmehr sind die Aufenthalte in der … (A) als zwar jeweils zeitlich begrenzte, aber gleichwohl wiederkehrende geplante Rückkehr zu dem Ort anzusehen, den die Familie – auch angesichts der Größe und Qualität der Wohnung (…) – auf Dauer als den Ort ihrer auf Dauer angelegten Bleibe ansah.
c) Entgegen der von der Familienkasse sinngemäß geäußerten Auffassung ergibt sich auch aus der Rechtsprechung des BFH zum Kindergeldrecht nicht, dass im Kindergeldrecht strengere Anforderungen an den Wohnsitzbegriff anzustellen sind, als sie seit jeher der ertragsteuerlichen Rechtsprechung des BFH und RFH zur Abgrenzung der unbeschränkten zur beschränkten Steuerpflicht (§ 1 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 EStG) zu entnehmen sind. Durch die Ausgestaltung des Kindergeldrechts als Steuervergütung und seine rechtliche Einbindung in das EStG kann der Begriff des Wohnsitzes (und gewöhnlichen Aufenthalts) im Inland in § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG kein anderer sein als in § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG, mag sich auch die Interessenlage des Fiskus von einer Gläubigerstellung aufgrund des bei unbeschränkter Steuerpflicht eingreifenden Welteinkommensprinzips zu einer Schuldnerstellung bei Bestehen eines Kindergeldanspruchs diametral umkehren. § 8 AO enthält eine einheitliche Definition des Wohnsitzbegriffs und gilt für alle Steuern und Steuervergütungen (§ 1 Abs. 1 Satz 1 AO).
Soweit der BFH einen inländischen Wohnsitz trotz einer Wohnung im Inland deshalb verneint hat, weil ein gelegentliches Verweilen während unregelmäßig aufeinander folgender kurzer Zeiträume zu Erholungszwecken eine Wohnung nicht zu einem Wohnsitz mache (BFH-Beschluss vom 05.01.2012 III B 42/11, BFH/NV 2012, 978), so betrifft dies keinen Fall, in dem der Steuerpflichtige – wie der Kläger – eine Wohnung, die er schon vor der Auslandsaufenthalt genutzt hat, unverändert und in einem ständig nutzungsbereiten Zustand bereithält. Andere Fällen, in denen der BFH entschied, dass es nicht genügend sei, dass sich jemand, der dauernd und langfristig mit seiner Familie im Ausland wohne, nur gelegentlich im Urlaub oder zu Besuchszwecken in einer Wohnung im Inland aufhalte (BFH-Urteile vom 12.01.2001 VI R 64/98, BFH/NV 2001, 1231; vom 20.11.2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564), betrafen Fälle, in denen Steuerpflichtigen, die mit ihrer Familie langfristig im Ausland wohnten und denen im Inland von Dritten (i.d.R. den Eltern) eine Wohnung oder ein Zimmer unentgeltlich zur Verfügung gestellt wurde, in denen sie sich mit den Kindern während der Ferien bzw. zu Besuchszwecken aufhalten konnten. Auch diese Fälle sind mit dem Streitfall nicht zu vergleichen, in dem dem Kläger keine inländische Wohnung unentgeltlich zur Verfügung steht, sondern der im Gegenteil schon vor seinem Auslandsaufenthalt eine teure, 200 qm große Altbauwohnung in sehr guter … Wohngegend erworben und sie als Familienwohnsitz aufrecht erhalten hat. Völlig anders geartet und damit mit dem Streitfall nicht vergleichbar ist die Problemstellung ohnehin in den Fällen, in denen Kinder zum Zwecke der Schul- oder Berufsausbildung im Ausland leben und sich die Frage stellt, ob sie in der Wohnung ihrer im Inland lebenden Eltern einen Wohnsitz haben (vgl. BFH-Urteile vom 25.09.2014 III R 10/14, BStBl II 2015, 655; vom 23.11.2000 VI R 107/99, BStBl II 2001, 294).
d) Da der inländische Wohnsitz des Klägers im Streitzeitraum nach Auffassung des Senats ausreichend belegt ist, kann für den Wohnsitz der Kinder S1 und S2 nichts anderes gelten, da deren Aufenthalte in der Wohnung in A keine geringeren waren, sondern sie sich während der Sommerferien sogar länger als der Kläger hier aufgehalten haben. Offenbleiben kann die Frage ihres inländischen Wohnsitzes nach Beendigung des Aufenthalts des Klägers in X, da dies nicht mehr vom Streitzeitraum umfasst ist.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.
3. Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 FGO nicht erfüllt sind. Grundsätzliche Bedeutung hat die Rechtssache nicht, da die Frage, ob bestimmte Umstände für oder gegen die Annahme eines Wohnsitzes sprechen, eine Tatfrage ist, die das Finanzgericht unter Würdigung der Gesamtumstände des Einzelfalles zu beantworten hat. Auch ist eine Entscheidung des BFH zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung nicht erforderlich. Zwar gibt es unterschiedliche Entscheidungen der Finanzgerichte zur Frage, ob bei zeitlich befristeter Entsendung ins Ausland mit Beibehaltung des inländischen Familienwohnsitzes ein Kindergeldanspruch besteht (vgl. FG München, Urteil vom 27.04.2016 9 K 2913/15, Revision nach Zulassung durch den BFH zurückgenommen; FG Niedersachsen, Urteil vom 17.01.2017 8 K 50/16, EFG 2017, 544 rkr.). Die Sachverhalte beider Entscheidungen unterscheiden sich jedoch in entscheidungserheblichen Punkten; auch der Streitfall weicht in verschiedenen entscheidungsrelevanten Punkten von den beiden entschiedenen Fällen ab. Auch eine Divergenz zur Rechtsprechung des BFH ist nicht gegeben.

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