Aktenzeichen 12 K 1937/19
Leitsatz
Tenor
1. Unter Änderung des Einkommensteuerbescheids für 2015 vom 8. Januar 2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 16. Juli 2019 wird die Einkommensteuer auf 26.603 € festgesetzt. 2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten zum Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Gründe
II.
Die Klage hat Erfolg.
1. Die Klage ist nicht gemäß § 42 Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V,m. § 351 Abs. 1 AO unzulässig.
a) Auf Grund der Abgabenordnung erlassene Änderungs- und Folgebescheide können gemäß § 42 FGO nicht in weiterem Umfang angegriffen werden, als sie in dem außergerichtlichen Vorverfahren angefochten werden können. Nach § 351 Abs. 1 AO können Verwaltungsakte, die unanfechtbare Verwaltungsakte ändern, nur insoweit angegriffen werden, als die Änderung reicht, es sei denn, dass sich aus den Vorschriften über die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten etwas anderes ergibt. § 42 FGO i.V.m. § 351 Abs. 1 AO soll sicherstellen, dass der Steuerpflichtige in Fällen, in denen ein unanfechtbarer Verwaltungsakt geändert wird, durch die Anfechtung des Änderungsbescheids nicht mehr erreichen kann als die Beseitigung der durch den ändernden Verwaltungsakt geschaffenen zusätzlichen Belastung (von Beckerath in: Gosch, AO/FGO, Stand 1.9.2017, § 42 FGO Rz. 17). Der Steuerpflichtige soll nicht bessergestellt werden, als er zuvor nach Eintritt der Unanfechtbarkeit stand. Wird ein Steuerbescheid zugunsten des Steuerpflichtigen geändert, ist der Änderungsbescheid grundsätzlich nicht mehr anfechtbar (BFH-Beschluss vom 7. Oktober 2003 X B 53/03, BFH/NV 2004, 156 m.w.N.). Eine Ausnahme von der Anfechtungsbeschränkung ergibt sich aus § 351 Abs. 1 HS. 2 AO, wenn sich aus den Vorschriften über die Aufhebung und Änderung etwas anderes ergibt. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Anwendungsbereich der Änderungsvorschrift, auf die das Finanzamt den Änderungsbescheid gestützt hat, streitig ist (Klein/Rätke, AO, 15. Auflage, § 351 Rz. 12).
b) Nach diesen Grundsätzen greift die Anfechtungsbeschränkung im Streitfall nicht ein. Zwar wurde der Vorbehalt der Nachprüfung mit Bescheid vom 10. Februar 2017 bestandskräftig aufgehoben und die Einkommensteuerfestsetzung mit Bescheid vom 8. Januar 2019 nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AO geändert und auf 36.089 € herabgesetzt. Zwischen den Beteiligten ist jedoch der Anwendungsbereich des § 175 Abs. 1 Nr. 1 AO streitig, da die Klägerin der Auffassung ist, die Einkommensteuer hätte mit Bescheid vom 8. Januar 2019 weiter herabgesetzt werden müssen. Da sich erstmals im Rahmen der geänderten Einkommensteuerfestsetzung für 2015 mit Bescheid vom 8. Januar 2019 ein negativer Gesamtbetrag der Einkünfte ergab, stellte sich auch erst zu diesem Zeitpunkt die im Streitfall aufgeworfene Frage, inwieweit sich ein Erstattungsüberhang aus Kirchensteuer bei einem negativen Gesamtbetrag der Einkünfte i.V.m. einem Verlustrücktrag auswirkt.
2. Der Beklagte hat bei der Einkommensteuerfestsetzung für 2015 zu Unrecht den negativen Gesamtbetrag der Einkünfte i.H.v. ./. 48.322 € nicht berücksichtigt.
a) Nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG ist ein Erstattungsüberhang bei der gezahlten Kirchensteuer (§ 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG) dem Gesamtbetrag der Einkünfte hinzuzurechnen. Der Hinzurechnungsbetrag nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG erhöht nicht den Gesamtbetrag der Einkünfte i.S.v. § 2 Abs. 3 EStG (BFH-Urteil vom 12. März 2019 IX R 34/17, BFHE 264, 201, BStBl II 2019, 658). Dem Zweck der Vorschrift entspricht es, dass Kirchensteuererstattungen, die im Erstattungsjahr nicht mit gleichartigen Zahlungen ausgeglichen werden können, quasi wie negative Sonderausgaben zu behandeln sind. Erstattungsüberhänge bei Kirchensteuern sollten nach der Vorstellung des Gesetzgebers nur noch im Jahr der Erstattung berücksichtigt werden, um ein „Wiederaufrollen der Steuerfestsetzungen“ der Vorjahre zu vermeiden (BT-Drucks 17/5125, S. 21). Die Vorschrift enthält eine zulässige Typisierung; sie dient der Vereinfachung des Steuervollzugs. Der Hinzurechnungsbetrag ist deshalb im Berechnungsschema an der Stelle zu berücksichtigen, an der die vorrangige Verrechnung eingreift und an der die Sonderausgaben zu berücksichtigen wären. Die Hinzurechnung nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG findet auch statt, wenn sich die erstattete Zahlung im Zahlungsjahr nicht steuermindernd ausgewirkt hat (BFH-Urteil vom 12. März 2019 IX R 34/17, BFHE 264, 201, BStBl II 2019, 658). Der Steuerpflichtige muss dieses Ergebnis hinnehmen, denn auch der umgekehrte Fall, dass sich eine Kirchensteuerzahlung in voller Höhe ausgewirkt hat, während der Hinzurechnungsbetrag im Erstattungsjahr eine Erhöhung der Einkommensteuer nicht auslöst (bei hohem negativem Gesamtbetrag der Einkünfte), kann eintreten (BFH-Urteil vom 12. März 2019 IX R 34/17, BFHE 264, 201, BStBl II 2019, 658 mit Anmerkungen Kanzler, FR 2019, 970 und Ratschow, BFH/PR 2019, 249).
Nach § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG sind negative Einkünfte, die bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichen werden, bis zu einem Betrag von 1.000.000 Euro, bei Ehegatten, die nach den §§ 26, 26b EStG zusammenveranlagt werden, bis zu einem Betrag von 2.000.000 Euro vom Gesamtbetrag der Einkünfte des unmittelbar vorangegangenen Veranlagungszeitraums vorrangig vor Sonderausgaben, außergewöhnlichen Belastungen und sonstigen Abzugsbeträgen abzuziehen (Verlustrücktrag). Auf Antrag des Steuerpflichtigen ist ganz oder teilweise von der Anwendung des Satzes 1 abzusehen (§ 10d Abs. 1 Satz 5 EStG). Ohne Antrag auf Verlustvortrag wird der Verlustrücktrag von Amts wegen vorgenommen (Schmidt/Heinicke, EStG, 39. Auflage, § 10d Rz. 20). Die Tatbestandsmerkmale in § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG „bei der Ermittlung des Gesamtbetrags der Einkünfte nicht ausgeglichene negative Einkünfte“ beziehen sich auf das Verlustentstehungsjahr, während sich die Merkmale „bis zu einem Betrag von“, „Abzug vom Gesamtbetrag der Einkünfte“, „vorrangig vor …“ auf das Abzugsjahr beziehen (Hallerbach in: Herrmann/Heuer/Rau-pach, EStG/KStG, 276. Lieferung 09.2016, § 10d EStG Rz. 57).
b) Nach diesen Grundsätzen hat das Finanzamt bei der Einkommensteuerfestsetzung für 2015 zu Unrecht den negativen Gesamtbetrag der Einkünfte i.H.v. ./. 48.322 € durch die Zeile im Einkommensteuerbescheid vom 8. Januar 2019: „Berücksichtigung als Verlustrücktrag/-vortrag 48.322 €“ neutralisiert.
aa) Die Vorgehensweise des Finanzamts zur Neutralisierung des negativen Gesamtbetrags der Einkünfte verstößt gegen § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG. Nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG ist ein Erstattungsüberhang bei der gezahlten Kirchensteuer (§ 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG) dem Gesamtbetrag der Einkünfte hinzuzurechnen. Der Hinzurechnungsbetrag nach § 10 Abs. 4b Satz 3 EStG erhöht zwar nach der Rechtsprechung nicht den Gesamtbetrag der Einkünfte, sondern ist im Berechnungsschema erst an späterer Stelle, quasi wie negative Sonderausgaben zu berücksichtigen. Das Gesetz knüpft jedoch nach dem ausdrücklichen Wortlaut an den „Gesamtbetrag der Einkünfte“ an. Dieser Gesamtbetrag der Einkünfte kann – wie im Streitfall – auch negativ sein. Der (anschließende) Rechenschritt des Finanzamts „Berücksichtigung als Verlustrücktrag/-vortrag“ steht demnach bereits im Widerspruch zum Gesetzeswortlaut.
bb) Auch aus den Regelungen zum Verlustrücktrag ergibt sich nicht, dass ein negativer Gesamtbetrag der Einkünfte im Verlustentstehungsjahr zu neutralisieren ist. Da § 10d Abs. 1 Satz 1 EStG (Verlustrücktrag) nur eine Berücksichtigung der entstandenen Verluste im Jahr 2014 bewirkt, jedoch keine Aussage dazu trifft, welche Auswirkungen ein Verlustrücktrag auf das Verlustentstehungsjahr 2015 hat, verbleibt es im Streitjahr 2015 beim negativen Gesamtbetrag der Einkünfte i.H.v. ./. 48.322 €. Der Rechenschritt des Finanzamts zur Neutralisierung des negativen Gesamtbetrags der Einkünfte bei einem Verlustrücktrag im Verlustentstehungsjahr 2015 ist im Einkommensteuergesetz nicht vorgesehen.
cc) Im Übrigen hat der BFH im Urteil vom 12. März 2019 (Az. IX R 34/17, BFHE 264, 201, BStBl II 2019, 658) ausgeführt, dass auch der Fall eintreten kann, dass der Hinzurechnungsbetrag (Erstattungsüberhang) im Erstattungsjahr eine Erhöhung der Einkommensteuer nicht auslöst, wenn ein hoher negativer Gesamtbetrag der Einkünfte vorliegt. Dieser Fall wäre nicht denkbar, wenn ein Verlustrücktrag bzw. ein Verlustvortrag im Verlustentstehungsjahr zu neutralisieren wäre. Im Streitfall liegt die vom BFH erwähnte Sachverhaltskonstellation vor.
3. Das Finanzamt hat zu Unrecht einen Kirchensteuererstattungsüberhang i.H.v. 61.109 € angesetzt. Der Kirchensteuererstattungsüberhang ist, wie nunmehr zwischen den Beteiligten unstreitig (vgl. Protokoll über die mündliche Verhandlung) i.H.v. 61.262 € anzusetzen.
a) Nach § 10 Abs. 1 Nr. 4 EStG ist gezahlte Kirchensteuer grundsätzlich als Sonderausgabe zu behandeln; dies gilt gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 4 HS 2 EStG nicht, soweit die Kirchensteuer als Zuschlag zur Kapitalertragsteuer oder als Zuschlag auf die nach dem gesonderten Tarif des § 32d Abs. 1 EStG ermittelte Einkommensteuer gezahlt wurde.
b) Im Streitfall hat die Klägerin in 2015 laut Bestätigung des […] Kirchensteueramtes vom 20. Januar 2017 (ESt-Akte Bl. 23) Kircheneinkommensteuer i.H.v. 0 € und Kirchenkapitalertragsteuer i.H.v. 152,76 € gezahlt, während in diesem Jahr Kircheneinkommensteuer i.H.v. 61.262,15 € und Kirchenkapitalertragsteuer i.H.v. 1.350,48 € erstattet wurden. Das Finanzamt hat zu Unrecht die gezahlte Kirchenkapitalertragsteuer i.H.v. 153 € als Sonderausgabe berücksichtigt, da die Kapitalerträge der Klägerin nach § 32d Abs. 1 EStG besteuert wurden und die Kirchenkapitalertragsteuer deshalb nicht als Sonderausgabe zu berücksichtigen ist.
4. Die Einkommensteuer für 2015 ist i.H.v. 26.603 € festzusetzen.
a) Die tarifliche Einkommensteuer beträgt im Streitfall 0 €. Tarifliche Einkommensteuer ist der Steuerbetrag, der sich aus der Anwendung des Einkommensteuertarifs gemäß § 32a EStG auf das zu versteuernde Einkommen nach § 2 Abs. 5 EStG, in das Kapitalerträge nach § 32d Abs. 1 EStG und § 43 Abs. 5 EStG nicht einzubeziehen sind (§ 2 Abs. 5b EStG), ergibt. Dieser Betrag lautet im Streitfall auf 0 €, denn die Klägerin hat kein positives zu versteuerndes Einkommen erzielt. Durch den zu berücksichtigenden negativen Gesamtbetrag der Einkünfte i.H.v. ./. 48.322 € ergibt sich ein negatives zu versteuerndes Einkommen, da das zu versteuernde Einkommen bisher, d.h. ohne Berücksichtigung des negativen Gesamtbetrages der Einkünfte, 42.355 € betrug (vgl. Einkommensteuerbescheid für 2015 vom 8. Januar 2019, […]).
b) Da die Einkommensteuer für die Kapitalerträge nach § 32d Abs. 1 EStG 26.603 € beträgt (vgl. Einkommensteuerbescheid für 2015 vom 8. Januar 2019, […]), ist die Einkommensteuer für 2015 in dieser Höhe festzusetzen.
c) Eine Steuerermäßigung nach § 35a EStG kommt im Streitfall nicht in Betracht, da die tarifliche Einkommensteuer 0 € beträgt und die von der Klägerin erzielten Einkünfte aus Kapitalvermögen nach § 32d Abs. 1 und § 43 Abs. 5 EStG der abgeltenden Kapitalertragsteuer unterlegen haben (BFH-Beschluss vom 28. April 2020 VI R 54/17, BFHE nn, DStR 2020, 1668). Dies steht zwischen den Beteiligten zu Recht nicht in Streit.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Außerdem war die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren – wie schriftlich beantragt – notwendig. Die Klägerin konnte es aufgrund der Schwierigkeit der Streitsache für notwendig halten, schon im Vorverfahren einen fachkundigen Berater mit der Interessenvertretung zu beauftragen (§ 139 Abs. 3 FGO). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.