Strafrecht

Ausweisung eines türkischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  AN 11 K 18.01342

Datum:
4.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 40431
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 11 Abs. 3, § 53, § 55 Abs. 1 Nr. 1
ARB 1/80 Art. 14
EMRK Art. 8
GG Art. 6

 

Leitsatz

Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Therapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Das Urteil ist insoweit vorläufig vollstreckbar.
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid vom 10. Juli 2018 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 VwGO). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird Bezug genommen auf die zutreffende Begründung des angefochtenen Bescheids (§ 117 Abs. 5 VwGO) und ergänzend ausgeführt:
Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung der Ausweisung, der Befristungsentscheidung und der noch nicht vollzogenen Abschiebungsandrohung ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – BVerwGE 157, 325, juris Rn. 18).
1. Die vom Kläger angefochtene Ausweisung ist rechtmäßig.
a) Gegen die formelle Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Bescheids bestehen – insbesondere auch hinsichtlich der Zuständigkeit der Ausländerbehörde – keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Beklagte legte im streitgegenständlichen Bescheid zutreffend dar, dass ihre örtliche Zuständigkeit – der Kläger hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Begehung der Straftat am 21. März 2017 im Gebiet der Beklagten und befand sich anschließend in (Untersuchungs-)Haft bzw. im Maßregelvollzug – nach Art. 3 Abs. 1 Nr. 3a BayVwVfG i.V.m. § 5 Abs. 1 und 3 Nr. 1 ZustVAuslR (in der bis 31.7.2018 gültigen Fassung), nunmehr § 6 Abs. 1 und 3 Nr. 1 ZustVAuslR, fortbesteht (vgl. BayVGH, B.v. 1.2.2019 – 10 ZB 18.2455 – juris Rn. 6).
b) Die Ausweisung findet ihre Rechtsgrundlage in § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG.
Es wird vorliegend zugunsten des Klägers unterstellt, dass ihm ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 zusteht. Daher darf der Kläger als insoweit privilegierter Ausländer gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine gegenwärtig schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Die Neufassung von § 53 Abs. 3 AufenthG gibt damit die Voraussetzungen wieder, die nach ständiger Rechtsprechung (vgl. EuGH, B.v. 8.12.2011 – Ziebell C-371/80 – juris, BayVGH, U.v. 5.3.2013 – 10 B 12.2219 – juris Rn. 31) für die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen im Hinblick auf Art. 14 ARB 1/80 erfüllt sein mussten und die die Beklagte im Rahmen des streitgegenständlichen Bescheids geprüft und eingestellt hat.
Die Ausweisung ist nach § 53 Abs. 1 und Abs. 3 AufenthG gerechtfertigt, weil vom Kläger auf Grund seines persönlichen Verhaltens nach wie vor und damit gegenwärtig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses (§ 54 AufenthG) mit seinem privaten Bleibeinteresse (§ 55 AufenthG) ist das Verwaltungsgericht der Überzeugung, dass hier das öffentliche Interesse an der Ausreise des Klägers sein Interesse an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet überwiegt und die Ausweisung auch nicht gegen höherrangige Normen verstößt.
aa) Der Aufenthalt des Klägers gefährdet die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland schwerwiegend, weil der Kläger schwere Straftaten begangen hat und eine erhebliche Wiederholungsgefahr bis heute besteht.
Maßgeblicher Ausweisungsanlass ist die Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten wegen versuchter räuberischer Erpressung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen und mit versuchter Körperverletzung (AG Nürnberg, U.v. 16.8.2017 – 432 Ls 419 Js 54928/17); die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet. Der Kläger forderte am 21. März 2017 seine Mutter in der gemeinsamen, mit seinen Eltern bewohnten Wohnung in … auf, ihm Geld oder Zigaretten zu geben. Als diese sich weigerte, packte er sie am Hals, zog sie vom Flur ins Wohnzimmer und drückte sie dort auf die Couch. Als sein Vater hinzukam, schlug er diesem mit der Faust auf die Nase und trat ihm anschließend in den Bauch; dieser erlitt eine blutende, geprellte Nase sowie Schmerzen. Die dazugekommene Nachbarin schubste der Kläger mit beiden Händen gegen die Wand. Auch die Verurteilung vom 11. April 2016 (AG Nürnberg, U.v. 11.4.2016 – …) hinzuverbunden: … …) erfolgte u.a. wegen vorsätzlicher Körperverletzung, versuchter Nötigung und Bedrohung. Am 19. August 2015 beschädigte der Kläger gegen 22:10 Uhr fünf in einer Straße in … abgestellte Pkw, indem er mit dem Fuß gegen diese trat. Danach trat er gegen 22:27 Uhr gegen die versperrte Haustür eines Mehrfamilienhauses in der H…-Straße; dann schlug er in dieser Straße gegen 22:30 Uhr einer Person ohne rechtfertigenden oder entschuldigenden Grund mit der flachen Hand ins Gesicht. Am 27.06.2015 betrat er gegen 1:05 Uhr ein Bordell in …, obwohl ihm das Betreten der Räumlichkeiten durch Hausverbot untersagt war, der Türsteher erkannte ihn und forderte ihn auf, das Haus zu verlassen. Daraufhin zog der Kläger ein etwa 10 bis 15 cm langes Taschenmesser hinter dem Rücken hervor und drohte dem Türsteher mit den Worten: „Wenn du mich nicht in Ruhe lässt, stech ich dich ab“, um sich weiteren Zutritt zu verschaffen. Am 06. Juli 2015 gegen 14:30 Uhr schlug der Kläger in der … in … einer Person ohne rechtfertigenden oder entschuldigenden Grund mit der Faust gezielt ins Gesicht, so dass diese eine Kratzwunde und Rötung im Gesicht erlitt. Die Taten wurden aufgrund von Betäubungsmittelabhängigkeit begangen. Dem Urteil vom 21. Mai 2012 (AG Erlangen) lag ebenfalls eine vorsätzliche Körperverletzung zugrunde; am 10. Juni 2011 fuhr der Kläger mit dem Pkw den H2. Weg in … entlang und erblickte auf dem Gehsteig den ihm unbekannten Geschädigten, er hielt ohne Anlass an, stieg aus, rief was der Geschädigte „so gucke“ und schlug diesem mit der Faust gegen die Schläfe. Er hatte sich sein Opfer völlig willkürlich ausgesucht, um sich abzureagieren. Die Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten (LG Nürberg-Fürth, U.v. 16.11.2006 – …) erfolgte wegen schwerer räuberischer Erpressung; am 29. März 2006 forderte der Kläger bei einem Betäubungsmittelgeschäft den Geschädigten auf, ihm sein Geld (500 Euro) ohne Übergabe der Betäubungsmittel auszuhändigen, anderenfalls werde er ihm alle Knochen brechen, wobei er mit ungeöffneten Butterflymesser seiner Forderung Nachdruck verleihen wollte. Die Verurteilung vom 16. September 2003 (AG Nürnberg, Bl. 285 ff. der Behördenakte) erfolgte u.a. wegen gefährlicher Körperverletzung, der Kläger beabsichtigte am 28. Januar 2003 Forderungen von 240 EUR von dem Geschädigten einzutreiben, nach des Feststellungen des Strafurteils ging er bei der Tat mit hoher Brutalität vor. Der Kläger ist demnach seit seiner Jugend regelmäßig durch die Begehung unterschiedlichster Straftaten, auch mehrfach bzw. wiederholt durch Gewalttaten (Körperverletzungsdelikte, Bedrohung), in Erscheinung getreten. Die mehrfache Begehung von derartigen Körperverletzungen stellt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft an der körperlichen Integrität ihrer Mitglieder (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277/282 Rn. 15) und damit für die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland dar.
bb) Die vom Kläger ausgehende Gefahr dauert bis heute an, so dass eine Tatwiederholung konkret zu befürchten ist.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18; BayVGH, B.v. 7.2.2018 – 10 ZB 17.1386 – juris m.w.N.; U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 31). Erforderlich ist die Prognose, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit durch die weitere Anwesenheit des Ausländers im Bundesgebiet ein Schaden an einem der Schutzgüter eintreten wird (BR-Drs. 642/14, S. 55). Dabei sind die Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte an die Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte rechtlich nicht gebunden. Entscheidungen der Strafgerichte nach § 57 (oder § 67d Abs. 2) StGB sind zwar von tatsächlichem Gewicht und stellen bei der ausländerrechtlichen Prognose ein wesentliches Indiz dar. Von ihnen geht aber keine Bindungswirkung aus. Sie haben auch nicht zur Folge, dass die Wiederholungsgefahr zumindest in der Regel wegfällt (BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. = BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 33 m.w.N.). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (stRspr BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris Rn. 34 und B.v. 3.3.2016 – 10 ZB 14.844 – juris; BayVGH, U.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 31).
Gerade bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers – hier einer Drogenabhängigkeit – beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs von einem Wegfall der für die Ausweisung erforderlichen Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Therapie erfolgreich abgeschlossen hat und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (siehe z.B. BayVGH, B.v. 7.11.2016 – 10 ZB 16.1437 – juris Rn. 7; BayVGH, U.v. 3.2.2015 – 10 B 14.1613 – juris Rn. 32 m.w.N.). Denn solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würden (BayVGH, B.v. 13.10.2017 – 10ZB 17.1469 – juris Rn. 12; B.v. 6.5.2015 – 10 ZB 15.231 – juris Rn. 11).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Kammer zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt zu der Überzeugung (§ 108 Abs. 1 VwGO) gelangt, dass eine hinreichend konkrete Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass der Kläger erneut die öffentliche Sicherheit durch vergleichbare, insbesondere gegen die körperliche Unversehrtheit dritter Personen gerichtete Straftaten beeinträchtigen wird. Das Gericht geht mit der Beklagten davon aus, dass nach dem persönlichen Verhalten des Klägers aufgrund der konkreten Umstände des Falles mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden muss, dass von ihm auch künftig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Vorliegend hat der Kläger zwar in der Vergangenheit bereits Therapien – aufgrund strafgerichtlich angeordneter Unterbringungen in Entziehungsanstalten – erfolgreich abgeschlossen. Allerdings konnte er die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende nicht glaubhaft machten; denn er hat sich nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt. Vielmehr wurde er, nachdem er am 28. Oktober 2016 die Therapieeinrichtung vorzeitig verlassen konnte, bereits nach einigen Monaten erneut straffällig und konsumierte entgegen der Weisung des Gerichts auch erneut Betäubungsmittel, so dass die gewährte Strafaussetzung zur Bewährung widerrufen wurde. Der Kläger beging demnach trotz offener Bewährung und vorab erfolgreich abgeschlossener Drogentherapie am 21. März 2017 erneut ein Gewaltdelikt und wurde strafrechtlich verurteilt; die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt wurde angeordnet, diese Therapie wurde bislang nicht erfolgreich abgeschlossen. Eine Prognose, dass vom Kläger nunmehr keine konkrete Gefahr der Begehung weiterer erheblicher Straftaten im Sinne des § 53 Abs. 3 AufenthG mehr ausgeht, kann demnach derzeit nicht getroffen werden kann.
Soweit der Kläger geltend macht, die Staatsanwaltschaft habe beantragt, die Vollstreckungsreihenfolge zu ändern, so dass er mangels derzeitiger Therapie noch keinen Therapieerfolg darlegen könne, führt dies unter Berücksichtigung der gegebenen Einzelfallumstände zu keiner anderen Beurteilung. Vielmehr besteht derzeit eine Drogenabhängigkeit des Klägers trotz wiederholter Aufarbeitung der Suchtproblematik in einer Therapie. Zu Recht geht die Beklagte davon aus, dass der Kläger seine erheblichen charakterlichen Mängel eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat und die dargelegte Wiederholungsgefahr besteht.
cc) Die Ausweisung ist unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls nach § 53 Abs. 1 und 3 AufenthG gerechtfertigt, weil das öffentliche Ausweisungsinteresse nach § 54 AufenthG das Bleibeinteresse des Klägers nach § 53 Abs. 2 i.V.m. § 55 AufenthG überwiegt.
Das Ausweisungsinteresse wiegt nach § 53 Abs. 1 i.V.m. § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a AufenthG besonders schwer; beide Tatbestandsvarianten begründen jede für sich bereits ein solches Ausweisungsinteresse.
Dem steht ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 53 Abs. 1, § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gegenüber, da der Kläger bis zum Erlass der gegenständlichen Ausweisungsverfügung eine Niederlassungserlaubnis besaß und im Bundesgebiet geboren wurde.
Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Klägers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass die Ausweisung für die Wahrung eines Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist. Unerlässlichkeit ist dabei nicht im Sinne einer „ultima ratio“ zu verstehen, sondern bringt den in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für die Ausweisung von Unionsbürgern entwickelten Grundsatz zum Ausdruck, dass das nationale Gericht eine sorgfältige und umfassende Prüfung der Verhältnismäßigkeit vorzunehmen hat (BayVGH, B.v. 13.3.2017 – 10 ZB 17.226 – juris Rn. 6 ff. m.w.N.).
In der nach § 53 Abs. 1 und Abs. 2 AufenthG gebotenen Gesamtabwägung von Ausweisungs- und Bleibeinteresse unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles wie insbesondere der Dauer des Aufenthalts, der persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie der Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner überwiegt vorliegend das öffentliche Ausweisungsinteresse das private Bleibeinteresse des Klägers deutlich:
(1) Der Aufenthalt des Klägers in Deutschland dauert seit seiner Geburt an und fällt daher als intensive Bindung erheblich ins Gewicht. Der Kläger hat seine wesentlichen persönlichen Bindungen im Bundesgebiet, seine Familie bzw. Eltern leben im Bundesgebiet. Das Gewicht seiner familiären Bindungen zu den Eltern wird indes dadurch gemindert, dass der Kläger als erwachsener Mann grundsätzlich nicht mehr auf die Fürsorge und Unterstützung seiner Familie angewiesen ist, sondern ein eigenständiges Leben führen kann. Weitere persönliche Beziehungen, insbesondere eine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Ehe oder eigene Familie, hat der alleinstehende Kläger nicht. Der Kläger hat seine beruflichen und wirtschaftlichen Bindungen im Bundesgebiet, wo er nach dem Besuch der Schule allerdings zunächst seine Lehre abgebrochen hat. Die Ausbildung zum Konstruktionsmechaniker hat der Kläger dann abgeschlossen und auch zeitweise gearbeitet.
(2) In der Türkei als seinem in der Abschiebungsandrohung bezeichneten Herkunftsstaat hat sich der Kläger nach seinen Darlegungen in den letzten zehn Jahr nur einmal mit seiner Mutter für zehn Tage aufgehalten. Er hat nach seinen Angaben zwar Verwandte in der Türkei, zu diesen aber keinen sozialen Bezug. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger die türkische Sprache beherrscht. Auch wenn er zu den in der Türkei lebenden Verwandten derzeit keinen bzw. keinen engen Kontakt haben sollte, bestehen gleichwohl familiäre Anknüpfungspunkte, die ihm die Integration in der Türkei erleichtern. Das Gericht geht davon aus, dass sich der Kläger dort auch wirtschaftlich integrieren kann.
(3) Die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige fallen für den Kläger nicht wesentlich ins Gewicht, da er – wie dargelegt – keine von Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Ehe oder Familie hat. Der Kläger war zwar bis zur Tat vom 21. März 2017 und dem anschließenden Haftaufenthalt bzw. Maßregelvollzug bei seinen Eltern wohnhaft, dies hielt ihn letztlich aber nicht von dieser Gewalttat auch gegenüber den Eltern ab.
(4) Zwar sind die Bindungen des Klägers im Bundesgebiet als „faktischer Inländer“ von erheblichem Gewicht und wiegen besonders schwer, doch andererseits wiegen die von ihm wiederholt begangenen Straftaten ebenfalls besonders schwer und überwiegen gegenüber den Bindungen des Klägers im Bundesgebiet, weil in seiner Person eine konkrete nicht ausgeräumte erhebliche Rückfallgefahr besteht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
dd) Die Ausweisung erweist sich im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung auch unter Berücksichtigung von Art. 8 Abs. 1 und Abs. 2 EMRK als verhältnismäßig.
Bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sind insbesondere die Anzahl, Art und Schwere der vom Ausländer begangenen Straftaten, das Alter des Ausländers bei Begehung dieser Taten, die Dauer des Aufenthalts in dem Land, das der Ausländer verlassen soll, die seit Begehung der Straftaten vergangene Zeit und das seitdem gezeigte Verhalten des Ausländers, die Staatsangehörigkeit aller Beteiligten, die familiäre Situation und gegebenenfalls die Dauer einer Ehe sowie andere Umstände, die auf ein tatsächliches Familienleben eines Paares hinweisen, Kinder des Ausländers und deren Alter, das Interesse und das Wohl der Kinder, insbesondere auch die Schwierigkeiten, auf die sie wahrscheinlich in dem Land treffen, in das der Betroffene ggf. abgeschoben werden soll, die Intensität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland einerseits und zum Herkunftsland andererseits als Kriterien heranzuziehen (EGMR, U.v. 25.3.2010 – Mutlag/ Bundesrepublik Nr. 40601/05 – InfAuslR 2010, 325; U.v. 13.10.2011 – Trabelsi/ Bundesrepublik Nr. 41548/06 – juris Rn. 54).
Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Schutz des Privatlebens des Klägers aus Art. 8 EMRK der Ausweisung als Eingriff in dieses Grundrecht nicht entgegensteht. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die obige Abwägung verwiesen, denn auch bei einem sog. faktischen Inländer, bei dem von einem besonders geschützten Familien- und Privatleben auszugehen ist (BVerwG, U.v. 23.10.2007 – 1 C 10/07 – BVerwGE 129, 367), ist eine Ausweisung nicht schlechthin unmöglich. Der Schutz des Privat- und Familienlebens fordert in diesen Fällen lediglich, dass die Ausweisung nur zu einem der in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgen darf und dabei die besondere Situation eines Ausländers, der sich seit seiner Geburt oder frühem Kindesalter im Bundesgebiet aufhält, Berücksichtigung finden muss (BayVGH, B.v. 4.4.2017 – 10 ZB 15.2062 – Rn. 35 m.w.N.). Dies ist hier erfolgt. Angesichts der Gefahr weiterer erheblicher Straftaten durch den persönlichkeitsproblematischen, mehrfach einschlägig straffälligen und rückfälligen Kläger ist deshalb der Umstand, dass er in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsen ist und hier sein bisheriges Leben verbracht hat, nicht so gewichtig, dass dies unter Abwägung aller Umstände des Einzelfalls der angefochtenen Ausweisungsentscheidung entgegenstehen könnte (vgl. BayVGH, B.v. 7.1.2013 – 10 ZB 12.2311 – juris Rn. 6). Der Verweis auf die Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 21. November 2017 (Az. 10 B 17.818) führt insoweit zu keiner anderen Beurteilung, der Prüfung der Verhältnismäßigkeit lagen dort Besonderheiten des Einzelfalles, insbesondere gravierende Folgen der Ausweisung für das minderjährige Kind zugrunde. Die Ausweisung widerspricht vorliegend nicht Art. 3 Abs. 3 des Europäischen Niederlassungsabkommens (vom 13.12.1955, ENA), wonach Staatsangehörige eines Vertragsstaats, die seit mehr als zehn Jahren ihren ordnungsgemäßen Aufenthalt im Gebiet eines anderen Vertragsstaats haben, aus Gründen der öffentlichen Ordnung nur ausgewiesen werden dürfen, wenn die Gründe besonders schwerwiegend sind. Dies ist hier der Fall.
ee) Der Ausweisung des Klägers steht auch Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 nicht entgegen. Zum Stand der mündlichen Verhandlung überwiegt das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung sein privates Bleibeinteresse erheblich (s.o.), zumal die vom Kläger ausgehende erhebliche Gefahr für die körperliche Unversehrtheit der in der Bundesrepublik Deutschland lebenden In- und Ausländer ein hochrangiges Rechtsgut ist und ihre wiederholte Verletzung durch den Kläger daher ein auch unionsrechtlich anerkanntes Grundinteresse am Schutz der Bevölkerung berührt (vgl. BVerwG, U.v. 13.12.2012 – 1 C 20.11 – juris Rn. 19).
2. Die ausländerrechtlichen Annexentscheidungen unter Nr. IV, V des Bescheids, die Abschiebungsandrohung und die dem Kläger zur freiwilligen Ausreise gesetzte Frist, sind nicht zu beanstanden. Sie finden ihre Rechtsgrundlage in den §§ 58 und 59 AufenthG.
3. Das in Ziffer II. des Bescheids verfügte bzw. befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sieben Jahren ab Abschiebung bzw. Ausreise ist ebenfalls rechtmäßig.
Die Befristungsdauer steht nach der Neufassung des § 11 Abs. 3 AufenthG im Ermessen der Ausländerbehörde (vgl. BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris), so dass diese Ermessensentscheidung keiner uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung unterliegt, sondern – soweit wie hier keine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt – eine zu lange Frist lediglich aufgehoben und die Ausländerbehörde zu einer neuen Ermessensentscheidung verpflichtet werden kann (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2015 – 10 B 13.715 – Rn. 54 ff.).
Bei der Bemessung der Frist sind in einem ersten Schritt das Gewicht des Ausweisungsgrundes und der mit der Ausweisung verfolgte Zweck zu berücksichtigen. Es bedarf der prognostischen Einschätzung im jeweiligen Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zugrunde liegt, das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277; U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 65 f.). Die Dauer der Frist darf nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG außer in den Fällen der Abs. 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten; nach § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG soll die Frist zehn Jahre nicht überschreiten, wenn der Ausländer aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist oder von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ausgeht (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 a.a.O.). Selbst wenn die Voraussetzungen für ein Überschreiten der zeitlichen Grenze von fünf Jahren gemäß § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG vorliegen, ist davon auszugehen, dass in der Regel ein Zeitraum von maximal zehn Jahren den Zeithorizont darstellt, für den eine Prognose realistischer Weise noch gestellt werden kann (s. jetzt § 11 Abs. 5 AufenthG n.F.). Weiter in die Zukunft lässt sich die Persönlichkeitsentwicklung kaum abschätzen, ohne spekulativ zu werden. Die auf diese Weise ermittelte Frist muss sich aber an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen (Art. 2 Abs. 1, Art. 6 GG) sowie den Vorgaben aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK messen lassen und ist daher ggf. in einem zweiten Schritt zu relativieren (vgl. BVerwG, U.v. 10.7.2012 – 1 C 19.11 – BVerwGE 143, 277; U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris). Dieses normative Korrektiv bietet der Ausländerbehörde und dem Verwaltungsgericht ein rechtsstaatliches Mittel, um die fortwirkenden einschneidenden Folgen des Einreise- und Aufenthaltsverbots für die persönliche Lebensführung des Betroffenen sowie ggf. seiner engeren Familienangehörigen zu begrenzen. Dabei sind insbesondere die in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten schutzwürdigen Belange des Ausländers in den Blick zu nehmen.
Nach diesen Maßstäben und nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung ist die mit dem angefochtenen Bescheid der Beklagten festgesetzte Frist nicht zu lang und daher rechtmäßig. Die Beklagte konnte ihre Ermessensentscheidung aufrechterhalten; durchgreifende Ermessensfehler sind weder ersichtlich noch vom Kläger geltend gemacht.
Die Beklagte stützt die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG auf die zahlreichen Straftaten und die konkrete Wiederholungsgefahr im Fall des Klägers. Hiergegen ist unter Berücksichtigung der gegebenen Gesamtumstände und des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung nichts zu erinnern. Anhaltspunkte dafür, dass die vom Kläger ausgehende Gefahr in kürzerer Frist entfallen oder ihr Gewicht entscheidungserheblich gemindert würde, haben sich nicht ergeben.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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