Aktenzeichen 18 Qs 16/19
GVG § 187 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1
Leitsatz
1. Die Wirksamkeit der Zustellung eines Strafbefehls setzt die Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten voraus, mithin seine Fähigkeit, in oder außerhalb einer Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen sowie Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen. (Rn. 28 – 29)
2. Wird dem Angeklagten in einem fachpsychiatrischen Gutachten, das in einem Betreuungsverfahren erholt wurde, eine paranoide Schizophrenie attestiert, die in einem relevanten zeitlichen Kontext (hier: drei Wochen vor dem Zustellversuch des Strafbefehls) in einer akuten paranoid-halluzinatorischen Psychose kulminiert ist und, mit Blick auf gezeigte suizidale Absichten, zu einer wochenlangen Unterbringung im Bezirkskrankenhaus geführt hat, so darf das Gericht (hier: die Beschwerdekammer) auf der Grundlage dieser Feststellungen davon ausgehen, dass an der damaligen Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten durchschlagende Zweifel bestehen, die sich auch durch eine zusätzliche (spezifische) sachverständige Beratung nicht beheben lassen würden. (Rn. 25 – 28)
3. Ist der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig, so ist die Zustellung des Strafbefehls, wenn sie ohne Beifügung einer Übersetzung in eine ihm verständliche Sprache erfolgt ist, auch schon aus diesem Grunde unwirksam. (Rn. 34 – 35)
4. Das Vorliegen einer „unbilligen Härte“ im Sinne des § 459f StPO – eine rechtskräftige Verurteilung einmal unterstellt – lässt sich nicht mit dem Argument verneinen, dass der mittellose Betroffene beizeiten eine ihm ausgezahlte Ausreisebeihilfe, zu deren Rückzahlung er mangels Ausreise verpflichtet gewesen wäre, verbotenerweise für die Begleichung seiner Geldstrafe hätte zweckentfremden können und sollen. (Rn. 38 und 40)
Verfahrensgang
7 Cs 901 Js 143282/18 2019-04-10 Bes AGERLANGEN AG Erlangen
Tenor
Eine Entscheidung der Beschwerdekammer über die Frage einer Anordnung nach § 459f StPO – der diesbezügliche Beschluss des Amtsgerichts Erlangen vom 10.04.2019 wird zur Klarstellung aufgehoben – ist nicht veranlasst, weil es in Ermangelung einer rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten A. bislang bereits an der Grundvoraussetzung für eine Strafvollstreckung fehlt.
Gründe
I.
Das Amtsgericht Erlangen erließ am 15.08.2018 einen Strafbefehl (Az. 7 Cs 901 Js 143282/18), mit dem gegen den Angeklagten A. – einen aus Syrien stammenden Flüchtling, der seit dem 30.03.2017 umfassend unter rechtlicher Betreuung steht – wegen Diebstahls eine Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je 15,00 € verhängt wurde. Dem Angeklagten liegt zur Last, am 18.06.2018 ein Paar Socken im Wert von 4,99 € entwendet zu haben.
Der mit der Sache befasste Strafrichter verfügte die Zustellung des Strafbefehls, die ohne eine Übersetzung desselben, jedoch unter Beigabe einer Rechtsmittelbelehrungin arabischer Sprache erfolgen sollte. Die betreffende Postsendung wurde am 18.08.2018 in den zur damals gemeldeten Wohnung des Angeklagten gehörenden Briefkasten eingelegt. Nach Verstreichen der Einspruchsfrist wurde der Strafbefehl mit einem Rechtskraftvermerk versehen.
Mit Verfügung vom 12.11.2018 schickte die für die Vollstreckung zuständige Rechtspflegerin der Staatsanwaltschaft Nürnberg-Fürth dem Angeklagten eine letztmalige Aufforderung zur Zahlung der Geldstrafe (zuzüglich der Verfahrenskosten) bis zum 26.11.2018; für den Fall einer ausbleibenden Reaktion wurde die Anordnung einer Ersatzfreiheitsstrafe angedroht.
Mit Schreiben vom 15.11.2018 beantragte der Betreuer des Angeklagten, ihm (dem Angeklagten) mit Blick auf seine beengten finanziellen Verhältnisse als Bezieher von Arbeitslosengeld II die Zahlung des geforderten Betrags in monatlichen Raten von 10,00 € zu bewilligen. Die Staatsanwaltschaft scheint dem Antrag damals stattgegeben zu haben (eine Dokumentation fehlt).
Nach Zahlung von mutmaßlich zwei Raten (eine Dokumentation fehlt) teilte der Betreuer mit Schreiben vom 15.02.2019 unter Beifügung amtlicher Belege mit, dass der Angeklagte künftig nur noch 186,43 € pro Monat erhalte und deshalb nicht länger leistungsfähig sei.
Die Staatsanwaltschaft ordnete mit Verfügung der Rechtspflegerin vom 19.02.2019 unter Bezugnahme auf § 459e StPO die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe von 8 Tagen an; zugleich wurde der Angeklagte zum Strafantritt bis spätestens 14.03.2019 geladen.
Mit Schreiben vom 23.02.2019 schlug der Betreuer vor, dem Angeklagten statt dessen gemeinnützige Arbeit aufzuerlegen. Er bat um den Vorschlag einer geeigneten Arbeitsstelle und gab in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass der Angeklagte nur arabisch spreche.
Mit Verfügung der Rechtspflegerin vom 26.02.2019 stellte die Staatsanwaltschaft die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe vorläufig zurück; zugleich wurde dem Angeklagten gestattet, die Vollstreckung durch Ableistung von 48 Stunden gemeinnütziger Arbeit nach Weisung einer regelmäßig eingeschalteten Vermittlungsstelle („T. e.V.“) endgültig abzuwenden.
Der Betreuer des Angeklagten legte mit Schreiben vom 11.03.2019 eine Mitteilung der Vermittlungsstelle vom gleichen Tage vor, der zufolge man dort bei der Zuweisung von Einsatzstellen nur mit „standardisierten“ Texten in deutscher Sprache arbeite, weshalb man den Angeklagten gegebenenfalls „in der Pflicht“ sehe, „selbst für einen Dolmetscher zu sorgen“. Vor diesem Hintergrund bat der Betreuer darum, die Arbeitsvermittlung anderweitig zu organisieren.
Die Staatsanwaltschaft hob mit Verfügung der Rechtspflegerin vom 15.03.2019 die Bewilligung vom 26.02.2019 auf und kündigte für den Fall, dass der noch offene Restbetrag nicht doch noch bis zum 05.04.2019 beglichen werde, die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe an.
Mit Schreiben vom 21.03.2019 wandte der Betreuer sich nunmehr an das Amtsgericht mit dem Antrag, die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe gemäß § 458 StPO für unzulässig zu erklären. Zur Begründung verwies er zum einen darauf, dass der Angeklagte finanziell nicht leistungsfähig sei und dass ihm, der doch zur Ableistung gemeinnütziger Arbeit bereit sei, seine sprachbedingt schwere Vermittelbarkeit nicht zum Nachteil gereichen dürfe. Zum anderen machte der Betreuer unter Vorlage einschlägiger ärztlicher Unterlagen geltend, dass der Angeklagte an einer paranoiden Schizophrenie mit Verfolgungswahn leide, weshalb im Falle eines Gefängnisaufenthalts ein unkontrollierter Krankheitsschub mit Eigen- und Fremdgefährdung drohe.
Die Staatsanwaltschaft regte mit Verfügung vom 04.04.2019 an, die gerichtliche Anordnung zu treffen, dass die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe gemäß § 459f StPO unterbleibt.
Das Amtsgericht wies mit Beschluss dem 10.04.2019 den (kommentarlos so ausgelegten) „Antrag auf Aussetzung des Vollzuges der Ersatzfreiheitsstrafe gem. § 459f StPO“ zurück und ordnete die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe von 10 (richtig: 8) Tagen an. Zur Begründung wurde dem Angeklagten vorgehalten, dass er – wie sich (was zutrifft) aus dem vom Betreuer vorgelegten Änderungsbescheid der Stadt E. (Jobcenter) vom 31.01.2019 ergebe – eine zweckbestimmte Ausreisebeihilfe in Höhe von 1.300,00 € erhalten habe, die ihm wegen unterbliebener Ausreise nun über ein halbes Jahr verteilt als monatliche Einnahme in Höhe von 216,67 € angerechnet werde. Die anstehende Inhaftierung stelle für den Angeklagten keineswegs eine unbillige Härte dar, weil er es zuvor selbst in der Hand gehabt habe, einen Teil der von ihm zweckentfremdeten Ausreisebeihilfe wenigstens für die Begleichung der Geldstrafe einzusetzen.
Gegen den Beschluss vom 10.04.2019, dem Betreuer zugestellt am 17.04.2019, hat der Angeklagte mit Schreiben seines Betreuers vom 19.04.2019, bei Gericht eingegangen am gleichen Tage, „Beschwerde“ eingelegt. Das Rechtsmittel ist nicht eigens begründet worden.
Das Amtsgericht hat, obwohl es selbst eine Rechtsmittelbelehrungbezüglich der sofortigen Beschwerde erteilt hatte, das Schreiben vom 19.04.2019 als (vermeintliche) einfache Beschwerde behandelt und dieser mit Beschluss vom 29.04.2019 nicht abgeholfen.
Die Staatsanwaltschaft hat, in der Sache im Nachhinein auf die Argumentation des Amtsgerichts hinsichtlich der zweckentfremdeten Beihilfe umschwenkend, die Verwerfung des (von ihr ebenfalls als einfache Beschwerde eingestuften) Rechtsmittels als unbegründet beantragt.
II.
Die gemäß § 462 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere fristgerecht eingelegte (§ 311 Abs. 2 StPO) sofortige Beschwerde – als solche war das Rechtsmittel des Angeklagten zu behandeln – hat in der Sache insoweit Erfolg, als die zu Unrecht ergangene Entscheidung vom 10.04.2019 aufgehoben werden musste.
Ein Strafurteil – dies gilt auch für einen Strafbefehl – ist nicht vollstreckbar, bevor es rechtskräftig geworden ist (vgl. § 449 StPO). In Ermangelung einer rechtskräftigen Verurteilung des Angeklagten fehlt es vorliegend an der Grundvoraussetzung für jedwede Vollstreckungsmaßnahme. Der Strafbefehl vom 15.08.2018 trägt zu Unrecht einen Rechtskraftvermerk. Er konnte nicht rechtskräftig werden, weil es von vornherein an einer wirksamen Zustellung gefehlt hat.
Vor diesem Hintergrund geht (unter anderem) auch die Ablehnung einer Anordnung nach § 459f StPO unter gleichzeitiger Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe schlicht ins Leere. Einer Entscheidung über die mit der Beschwerdevorlage verbundene Frage, ob unter den gegebenen Umständen die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe für den Angeklagten eine unbillige Härte darstellen würde, bedarf es somit eigentlich nicht; gleichwohl kann mit Blick auf eine etwaige weitere Entwicklung festgehalten werden, dass eine Anordnung nach § 459f StPO nicht mit der vom Amtsgericht angestellten Überlegung hätte abgelehnt werden dürfen.
1. Der Strafbefehl ist nie wirksam zugestellt worden, weil davon auszugehen ist, dass der unter einer erheblichen geistigen Erkrankung leidende Angeklagte zum Zeitpunkt des Zustellversuchs, als er sich in einer Phase mit akuter Symptomatik befand, verhandlungsunfähig war.
Der Strafbefehl und die Zustellungsverfügung datieren vom 15.08.2018, die Postzustellungsurkunde vom 18.08.2018. Gerade für diesen Zeitraum – Mitte August 2018 – bestehen jedoch nach Aktenlage derart erhebliche Zweifel an der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten, dass keine Veranlassung besteht, in diesem Punkt noch Versuche einer weiteren Aufklärung zu unternehmen. Unter den gegebenen Umständen kann die Kammer auch ohne ergänzende sachverständige Beratung davon ausgehen, dass die Zweifel nicht ausräumbar sind.
Das in der beigezogenen Betreuungsakte zu findende psychiatrische Gutachten vom 23.08.2018, erstattet von den behandelnden Fachärzten des Bezirksklinikums in E., liefert folgendes Bild vom Zustand des Angeklagten im Sommer 2018: Am 24.07.2018 war der Angeklagte aufgrund eines vorläufigen Unterbringungsbeschlusses des Gesundheitsamtes Nürnberg von Polizeibeamten im Bezirksklinikum eingeliefert worden, weil er in suizidaler Absicht von einer Brücke hatte springen wollen. Auf der beschützenden Station kam es zu massiven Impulsdurchbrüchen, in deren Verlauf er gegen Wände und Türen trat. Es wurde eine Isolierung und eine 5-Punkt-Fixierung notwendig, die das Amtsgericht E. genehmigte. Am 30.07.2018 entwich der Angeklagte über einen Zaun des gesicherten Patientengartens. Von der Polizei zurückgebracht, drohte er damit, alles zu zerstören sowie die Nahrungs- und Medikamenteneinnahme zu verweigern. Wegen seines aggressiven Verhaltens musste er schließlich wieder fixiert werden. Am 06.08.2018 nutzte er seinen ersten Geländeausgang zur erneuten Flucht. Er sprach am 09.08.2018 bei der Stadtverwaltung E. vor, äußerte dort gegenüber einem Dolmetscher neuerliche Suizidgedanken, zog sodann ein Messer hervor und forderte den Dolmetscher auf, ihn damit zu erstechen. Daraufhin wurde der Angeklagte ein weiteres Mal ins Bezirksklinikum gebracht, wo er, weil er wiederum aggressiv auftrat und sich auch selbst zu verletzen versuchte, erneut fixiert werden musste. Er verweigerte sodann das Essen und Trinken, tätigte bizarre und größenwahnsinnige Äußerungen und ließ jegliche Behandlungs- und Krankheitseinsicht vermissen.
Zur psychiatrischen Vorgeschichte ist dem Gutachten zu entnehmen, dass der Angeklagte schon im Herbst 2016 zwei Monate stationär behandelt worden war, bevor er aus disziplinarischen Gründen hatte entlassen werden müssen. Im Januar 2017 hatte sich ein zweiter Aufenthalt im Bezirksklinikum angeschlossen, in dessen Verlauf er vorübergehend entwichen war.
Des Weiteren geht aus der Betreuungsakte hervor, dass der Angeklagte mit Beschluss des Amtsgerichts A. vom 30.03.2017 unter Betreuung gestellt wurde. Die Betreuung, die später noch erweitert wurde, umfasste von Beginn an unter anderem den Aufgabenbereich der Entgegennahme und des Öffnens der Post (im Rahmen der Betreuungsaufgaben) und den Aufgabenbereich der Vertretung gegenüber Behörden. Das fachpsychiatrische Gutachten vom 02.03.2017, auf dessen Grundlage die Betreuung angeordnet wurde, hatte dem Angeklagten eine paranoid-halluzinatorische Psychose attestiert und ausdrücklich festgehalten, dass er in Augenblicken psychotisch motivierter Denkstörung nicht über eine freie Willensbildung verfüge.
Das schon angesprochene Gutachten vom 23.08.2018 stellte dem Angeklagten die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie, in deren akuten Phasen es zu ausgeprägten inhaltlichen und formalen Denkstörungen sowie zu wahnhaftem Erleben komme. Bei seiner Einlieferung habe der Angeklagte sich in einem hoch psychotischen Zustand mit deutlich verminderter Steuerungsfähigkeit befunden; er sei geschäftsunfähig und nicht in der Lage gewesen, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln.
Allein der Umstand, dass der Angeklagte damals geschäftsunfähig war und unter rechtlicher Betreuung stand, hätte allerdings – auch wenn gerade die Entgegennahme von Post und die Vertretung gegenüber Behörden zu den Aufgaben des Betreuers zählte – nach herrschender Auffassung nicht die Unwirksamkeit der Zustellung zur Folge gehabt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl., § 37 Rn. 3 a.E.; Maul in: KK-StPO, 8. Aufl., § 37 Rn. 9; Valerius in: MüKo-StPO, 1. Aufl., § 37 Rn. 11; Graalmann-Scheerer in: Löwe/Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 37 Rn. 4; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14.07.1992 – 4 Ws 230/92, MDR 1993, 70; Brandenburgisches OLG, Beschluss vom 23.12.2008 – 1 Ws 242/08, NStZ-RR 2009, 219).
Jedoch muss der Angeklagte für den fraglichen Zeitraum sogar als verhandlungsunfähig angesehen werden. Zu diesem Ergebnis gelangt die Kammer, weil schon auf der Grundlage der vorliegenden – vorstehend zusammengefassten – sachverständigen Stellungnahmen hinreichend klar absehbar ist, dass sich auch unter Berücksichtigung etwaiger zusätzlicher Erkenntnisse aus einem maßgeschneiderten neuen Gutachtensauftrag die Antwort auf die Frage nach der Verhandlungsfähigkeit – deren Beurteilung, ungeachtet der gebotenen sachkundigen Beratung, Aufgabe des Gerichts ist – nicht entscheidend in die bejahende Richtung bewegen könnte.
Die Hinweise darauf, dass und warum dem Angeklagten Mitte August 2018 die – der gängigen Definition folgend – Fähigkeit abging, in oder außerhalb einer Verhandlung seine Interessen vernünftig wahrzunehmen, die Verteidigung in verständiger und verständlicher Weise zu führen, Prozesserklärungen abzugeben und entgegenzunehmen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., Einl Rn. 97 m.w.N.), hätten im Falle einer ergänzenden Begutachtung wahrscheinlich nur ihre Bestätigung gefunden (oder sich noch weiter verdichtet); die Möglichkeit, dass sich – umgekehrt – neue Erkenntnisse ergeben hätten, in Ansehung derer nicht einmal entscheidende Zweifel an einer Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten verblieben wären, schließt die Kammer aus. Es kann dahinstehen, wie zu verfahren wäre, wenn die schon vorhandenen ärztlichen Stellungnahmen in einem deutlich weniger engen zeitlichen und inhaltlichen Bezug zur maßgeblichen Frage stünden. Vorliegend jedenfalls lassen die eindeutigen Ausführungen im Gutachten vom 23.08.2018 zu der massiven und akuten psychischen Erkrankung des Angeklagten, die sich exakt auf den Zeitraum des Zustellversuchs beziehen, keinen weiteren Beratungsbedarf aufkommen.
Die Verhandlungsfähigkeit des Empfängers ist freilich – anders als die Geschäftsfähigkeit – eine notwendige Bedingung für die Wirksamkeit einer Zustellung im Strafverfahren (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 37 Rn. 3 a.E.; Maul in: KK-StPO, a.a.O.; Valerius in: MüKo-StPO, a.a.O.; Graalmann-Scheerer in: Löwe/Rosenberg, a.a.O.; OLG Düsseldorf, a.a.O.; Brandenburgisches OLG, a.a.O.; KG, Beschluss vom 20.11.2001 – 5 Ws 702/01, StV 2003, 343). Somit war der in Rede stehende (einzige) Zustellversuch vom 15./18.08.2018 unwirksam.
2. Mit Blick auf die vorrangig bedeutsame Verhandlungsunfähigkeit kommt es nicht mehr tragend darauf an, dass die Zustellung im Übrigen auch deshalb unwirksam gewesen wäre, weil dem Strafbefehl keine Übersetzung in die arabische Sprache beigefügt war.
Die Zustellung eines Urteils, die unter Verstoß gegen § 37 Abs. 3 Satz 1 StPO ohne Beigabe der erforderlichen Übersetzung vorgenommen wird, ist unwirksam:
Im Falle eines Angeklagten, der der deutschen Sprache nicht mächtig ist, hat das Gericht einen Dolmetscher oder Übersetzer heranzuziehen, soweit dies zur Ausübung seiner (des Angeklagten) prozessualen Rechte erforderlich ist (§ 187 Abs. 1 Satz 1 GVG). Erforderlich in diesem Sinne ist in der Regel die Übersetzung aller wesentlichen Unterlagen, zu denen vor allem Anklageschriften, Strafbefehle und nicht rechtskräftige Urteile zählen (vgl. § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG). Es geht in diesem Zusammenhang um nichts weniger als um die Wahrung des Rechts des Angeklagten auf ein faires Verfahren (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., GVG § 187 Rn. 3; Walther in: BeckOK-GVG, 6. Ed., § 187 Rn. 3; Diemer in: KK-StPO, a.a.O., GVG § 187 Rn. 3).
§ 37 Abs. 3 Satz 1 StPO verpflichtet das Gericht, einem Prozessbeteiligten, dem gegenüber nach § 187 Abs. 1 u. 2 GVG zu verfahren ist, bei der Zustellung eines Urteils zugleich auch eine Übersetzung desselben zur Verfügung zu stellen. Was die Folge einer Verletzung dieser Pflicht ist, ergibt sich aus dem Gesetz nicht unmittelbar. Es ist jedoch anerkannt, dass ein Verstoß die Unwirksamkeit der Zustellung nach sich zieht (vgl. Larcher in: BeckOK-StPO, 36. Ed., § 37 Rn. 38; Maul in: KK-StPO, a.a.O., § 37 Rn. 29; Valerius in: MüKo-StPO, a.a.O., § 37 Rn. 1).
Für die Frage der Wirksamkeit der Zustellung steht, soweit im Übrigen die Voraussetzungen des § 37 Abs. 3 Satz 1 StPO vorliegen, ein Strafbefehl einem Urteil gleich:
Nach heute wohl vorherrschender Auffassung – der sich die Kammer anschließt – ist § 37 Abs. 3 Satz 1 StPO auch bei der Zustellung von Strafbefehlen zu beachten, mit der (für die Praxis der Strafverfolgung bedeutsamen) Konsequenz, dass die Zustellung an einen sprachunkundigen Adressaten nur wirksam ist, wenn eine Übersetzung des Strafbefehls beigefügt wird (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, a.a.O., § 37 Rn. 31; Larcher in: BeckOK-StPO, a.a.O., § 37 Rn. 39 ff.; Maul in: KK-StPO, a.a.O., § 37 Rn. 30; Bosbach in: Dölling/Duttge/König/Rössner, Gesamtes Strafrecht, 4. Aufl., StPO § 37 Rn. 17a; jeweils m.w.N.). Diese Auffassung stützt sich auf ein Urteil des EuGH vom 12.10.2017 (Az. C-278/16; abgedruckt in: NJW 2018, 142), dem zufolge Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.10.2010 (über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren) dahin auszulegen ist, dass ein Rechtsakt wie ein im nationalen Recht vorgesehener Strafbefehl zur Sanktionierung von minder schweren Straftaten, der von einem Richter in einem vereinfachten, nicht kontradiktorischen Verfahren erlassen wird, eine „wesentliche Unterlage“ im Sinne des genannten Artikels darstellt. Von einer solchen Unterlage, so heißt es dort weiter, müsse die betroffene Person, die die Sprache des Verfahrens nicht versteht, gemäß den von dieser Bestimmung aufgestellten Formerfordernissen eine schriftliche Übersetzung erhalten, um die Möglichkeit einer Wahrnehmung von Verteidigungsrechten und somit ein faires Verfahren zu gewährleisten.
In Anwendung dieser Maßstäbe wäre die Zustellung im Ergebnis auch aus diesem (weiteren) Grund unwirksam gewesen, weil nach Aktenlage hinreichend deutliche Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass der Angeklagte der deutschen Sprache nicht mächtig ist:
In der Betreuungsakte findet sich eine Reihe von Hinweisen auf fehlende deutsche Sprachkenntnisse des Angeklagten in diversen Schreiben, Stellungnahmen und Vermerken von ihm nahestehenden Personen, von Ärzten sowie von städtischen und gerichtlichen Mitarbeitern. Um nur einige Beispiele aufzugreifen: Mit Schreiben vom 12.01.2017 gab der ursprünglich eingeschaltete Sachverständige den Gutachtensauftrag mit der Bemerkung zurück, dass er „durch die Sprachbarriere“ einen zu hohen Informationsverlust befürchte, „auch unter Zuziehung eines Dolmetschers“. Im Entlassungsbericht des Bezirksklinikums vom 25.01.2017 heißt es, dass mit dem Angeklagten „kein Gespräch möglich“ gewesen sei, weil dieser „kein Deutsch“ gesprochen habe. Der Betreuer wies unter dem 08.05.2018 darauf hin, dass der Angeklagte „nur arabisch“ spreche, weshalb „eine Verständigung ohnehin nur mit einem Dolmetscher möglich“ sei. Die Exploration des Angeklagten anlässlich der Erstellung des schon erwähnten Gutachtens vom 23.08.2018 musste – so ist dort zu lesen – „im Rahmen von mehrfachen Dolmetschergesprächen“ erfolgen. Festzuhalten ist, dass sämtliche amtlichen und gerichtlichen Anhörungen des Angeklagten unter Hinzuziehung von Dolmetschern durchgeführt wurden.
3. Unabhängig von der fehlenden Rechtskraft des Strafbefehls, die eine Vollstreckung hinfällig werden lässt, hätte das Amtsgericht das Vorliegen einer unbilligen Härte (bezüglich der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe) nicht mit der gegebenen Begründung verneinen dürfen.
Was den Umgang des Angeklagten mit Geld betrifft, hat die Kammer aus der Betreuungsakte unter anderem – wobei an dieser Stelle vorrangig an die gutachterlich unter dem 23.08.2018 allgemein festgehaltene Geschäftsunfähigkeit sowie fehlende Einsichts- und Steuerungsfähigkeit zu erinnern ist – folgende Feststellungen treffen können: Mit Schreiben vom 22.06.2018 beantragte der Betreuer des Angeklagten beim Betreuungsgericht, einen Einwilligungsvorbehalt für den Aufgabenkreis der Vermögenssorge anzuordnen, weil er (der Angeklagte) „offensichtlich nicht in der Lage“ sei, „sich das Geld … einzuteilen“. Unter dem 28.08.2018 erinnerte der Betreuer dringend an den offenen Antrag unter Hinweis darauf, dass der Angeklagte „wiederum am Monatsanfang das Konto leergeräumt und sicherlich alles sofort verbraucht“ habe. Der Einwilligungsvorbehalt wurde vom Betreuungsgericht mit Beschluss vom 04.09.2018 „zur Abwendung einer erheblichen Gefahr für das Vermögen“ des Angeklagten angeordnet.
Vor diesem Hintergrund hätte die Entscheidung keinen Bestand haben können, dem Angeklagten aus dem Stegreif die „Verantwortung“ für die „selbst verschuldete“ (und damit „nicht unbillige“) Inhaftierung mit dem Argument zuzuschreiben, dass er die rechtswidrig nicht zurückgezahlte Ausreisebeihilfe ja in einer für ihn günstigeren Weise (nämlich für die Begleichung der Geldstrafe) hätte „zweckentfremden“ können. Sollte zu einem späteren Zeitpunkt eine vergleichbare verfahrensrechtliche Situation eintreten, wären, bevor die Frage der Zurechnung beantwortet wird, zunächst geeignete Versuche einer Aufklärung des Geldschwundes und eine Bewertung des Geschehenen im Kontext der psychischen Erkrankung des Angeklagten zu unternehmen. Freilich wird – vorgeschaltet – zunächst einmal (auch) die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat (18.06.2018) in den Blick zu nehmen sein.
4. Abschließend gilt es noch mahnend anzusprechen, dass hier eine bedenkliche Häufung von oberflächlich und schablonenhaft „abgearbeiteten“ Verfahrensschritten zu einem „Aufschaukeln“ der Sachbehandlung geführt hat, das an sich leicht zu vermeiden gewesen wäre:
Es ist zunächst einmal nicht nachvollziehbar, wie die Darstellung der persönlichen Verhältnisse des Angeklagten im Rahmen der einleitenden polizeilichen Anzeigenvorlage derart defizitär ausfallen konnte. Auf dem Konzept der „Beschuldigtenvernehmung“ wurde – handschriftlich und an nicht ins Auge fallender Stelle – das Vorhandensein eines Betreuers (mit Telefonnummer) festgehalten; im Schlussbericht findet sich hierzu jedoch kein Wort. Die Reinschrift des Vernehmungsprotokolls – der Angeklagte hatte sich nicht zur Sache geäußert – enthält den Vermerk: „Die Vernehmung wird in deutscher Sprache geführt“. Auch im Schlussbericht findet sich, was in einem unauflösbaren Widerspruch zu der oben wiedergegebenen Erkenntnislage steht, nicht der geringste Hinweis darauf, dass es zu irgendwelchen Verständigungsschwierigkeiten gekommen sein könnte. Hier ist eine gebotene wichtige Weichenstellung unterlassen worden.
Durch das Schreiben des Betreuers vom 15.11.2018 mit dem Antrag auf Bewilligung von Ratenzahlung (unter Vorlage des Ausweises) wurde erstmals aktenkundig, dass der Angeklagte unter rechtlicher Betreuung steht. Die im Betreuerausweis genannten Aufgabenkreise gaben Anlass, die zukünftige Korrespondenz auch mit dem Betreuer zu führen und mit Blick auf die Fortsetzung der Vollstreckung den medizinischen Hintergrund der Betreuung – gerade mit Blick auf die nicht alltägliche Aufgabe der „Entscheidung über unterbringungsähnliche Maßnahmen (§ 1906 Abs. 4 BGB)“ – festzustellen, zumal die Errichtung ersichtlich nicht bloß mit einem hohen Alter des (damals 31-jährigen) Angeklagten in Verbindung stehen konnte. Indes hatte das Bekanntwerden des Betreuungsverhältnisses keinerlei erkennbaren Einfluss auf den weiteren Verfahrensgang, weder im Vorfeld der Anordnung der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe (19.02.2019) noch im Vorfeld der Aufhebung der Bewilligung gemeinnütziger Arbeit (15.03.2019).
Nach dem Eingang des vom Betreuer gestellten Antrags vom 21.03.2019 (gerichtet darauf, „nach § 458 StPO die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe … für unzulässig zu erklären“) lag der entscheidende Teil der weiteren Sachbehandlung in den Händen des Amtsrichters und der Vollstreckungsstaatsanwältin. Aus der Strafakte waren zu diesem Zeitpunkt ersichtlich (1.) der Umstand, dass der Angeklagte unter – umfassender – Betreuung steht, (2.) der vom Betreuer herausgestellte Umstand, dass der Angeklagte nur arabisch spricht, (3.) der Umstand, dass der Angeklagte aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen keine gemeinnützige Arbeit (zur Abwendung der Ersatzfreiheitsstrafe) ableisten konnte, (4.) der vom Betreuer mit Arztberichten belegte Umstand, dass der Angeklagte an einer paranoiden Schizophrenie leidet, am 25.07.2018 nach einer Suizidandrohung ins Bezirksklinikum eingeliefert wurde und dort seit dem 04.09.2018 aufgrund eines gerichtlichen Beschlusses untergebracht war. Spätestens jetzt mussten sich nach Aktenlage – auch schon ohne Beiziehung der Betreuungsakte – im Nachhinein deutliche Zweifel an der Wirksamkeit der Zustellung des Strafbefehls und damit an einem rechtskräftigen Abschluss des Strafverfahrens (als Grundvoraussetzung einer Strafvollstreckung) aufdrängen.
Vor diesem Hintergrund stellte die Staatsanwältin den Antrag an das Amtsgericht, eine Anordnung nach § 459f StPO zu treffen. Mit einer entsprechenden Anordnung wäre zwar nichts „repariert“ worden, weil die scheinbar rechtskräftige Verurteilung als solche unverändert Bestand gehabt hätte; immerhin aber wäre die weitere Vollstreckung der Strafe faktisch unterblieben. Nun aber nahm die Angelegenheit eine fatale Wendung: Der Richter verfügte zwar die Beiziehung der Betreuungsakte – deren Inhalt die bereits zuvor gebotenen deutlichen Zweifel des Lesers (an einer rechtskräftigen Verurteilung) fast bis zur Gewissheit erstarken lassen musste -, lehnte aber schon am gleichen Tag eine Anordnung nach § 459f StPO ab. Die eintreffende Betreuungsakte ließ er vor der Zuleitung der Akten an die Staatsanwaltschaft (zum Zwecke der Beschwerdevorlage) an das Betreuungsgericht zurückschicken. Der Nichtabhilfebeschluss vom gleichen Tag lässt nicht erkennen, ob und ggf. welche Teile der Betreuungsakte der Richter zur Kenntnis genommen hatte. Kopien aus der Betreuungsakte finden sich in der Strafakte nicht. Die Staatsanwältin sah ihrerseits keine Veranlassung, Einsicht in die Betreuungsakte zu nehmen, und schloss sich nunmehr, eine Kehrtwende vollziehend, der Sichtweise des Amtsgerichts an.
Im Ergebnis hätte der Angeklagte, obwohl ersichtlich gar nicht rechtskräftig verurteilt, eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen sollen. Warum dies der „Billigkeit“ (vgl. § 459f StPO) hätte entsprechen sollen, erschließt sich in der Rückschau auch aus anderen Gründen (als dem Fehlen der Rechtskraft) nicht: Der Angeklagte – sprachunkundig sowie (damals) wegen akuter Psychose verhandlungsunfähig und noch dazu von daheim abwesend (als Folge seiner Einlieferung in das Bezirksklinikum) – konnte ja nicht dafür verantwortlich gemacht werden, dass er auf das ihm (persönlich) ursprünglich postalisch zugeschickte Angebot einer Verfahrenseinstellung gemäß § 153a StPO gegen Zahlung von (nur) 50,00 € nicht eingegangen war. Ebenso wenig konnte es ihm zum Vorwurf gemacht werden, dass er – obwohl zur Ableistung von Arbeitsstunden bereit – allein wegen der bestehenden Sprachbarriere nicht vermittelt werden konnte. Nimmt man noch die vom Betreuer auf der Grundlage der jüngsten Krankengeschichte geäußerte Befürchtung hinzu, dass eine Inhaftierung des Angeklagten einen „unkontrollierten Krankheitsschub … mit einer Gefährdung von sich und Mitgefangenen“ auslösen könnte – ein Punkt, zu dem sich die amtsgerichtliche Entscheidung mit keinem Wort verhält -, hätte sich als wenigstens „kleine Lösung“ der eingetretenen prozessualen Problemlage eine nachträgliche Billigkeitsentscheidung geradezu angeboten. Stattdessen müssen der Verfahrensgang und sein (bisheriges) Ende nun als ein Lehrstück dessen gelten, was es heißen kann, in die sprichwörtlichen „Mühlen der Justiz“ zu geraten.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.