Aktenzeichen W 1 K 16.30268
GG GG Art. 16a Abs. 1
EU-GRCh Art. 10 Abs. 1
Leitsatz
Afghanischen Staatsangehörigen, die sich durch ihren Abfall vom Islam der so genannten Apostasie aus Sicht der muslimischen Mehrheitsbevölkerung schuldig gemacht haben, droht – entsprechend zum Christentum konvertierter ehemaliger Muslime – im Falle ihrer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit relevante Verfolgung im Sinne eines subjektiven Nachfluchtgrundes, da die Scharia die Apostasie als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. August 2012 wird in Ziffern 2 und 4 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu vollstreckenden Kosten abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die zulässige Klage, über die trotz des Ausbleibens von Beteiligten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist auch begründet.
Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 2. August 2012 ist daher, soweit er Gegenstand der Klage ist, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Soweit die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter abgelehnt wurde (Ziffer 1), ist der Bescheid vom 2. August 2012 hingegen unanfechtbar geworden und daher nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits.
Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG (BT-Drs. 16/5065 S. 213; vgl. auch § 60 Abs. 1 Satz 3 AufenthG). Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling i. S. d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Anzuwenden ist vorliegend gemäß § 77 Abs. 1 AsylG das Asylgesetz vom 24. Oktober 2015 (Art. 1, Art. 15 Abs. 1 des Asylverfahrensbeschleunigungsgesetzes v. 20.10.2015, BGBl. I, S. 1722 ff.) in der Fassung der Änderungen durch Art. 1 des Gesetzes zur Einführung beschleunigter Asylverfahren vom 12. März 2016 (BGBl. I, S. 390 ff.) sowie Art. 2 des Gesetzes zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung bei straffälligen Asylbewerbern vom 12. März 2016 (BGBl. I, S. 394 ff.). Die §§ 3 bis 3e AsylG setzen die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. EU Nr. L 337, S. 9) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) – im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung i. S. d. § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl. 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betroffenen Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen.
Gemessen an diesen Maßstäben befindet sich der Kläger nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Religion außerhalb seines Herkunftslandes. Aufgrund seines ernsthaften und glaubhaften Abfalls vom Islam droht ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan eine Verfolgung i. S. d. § 3a Abs. 1 AsylG (1.). Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative i. S. d. § 3e AsylG zur Verfügung (2.).
1. Eine Verfolgung i. S. d. Art. 9 Abs. 1a QRL, der durch § 3a Abs. 1 AsylG umgesetzt wurde, kann nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 5.9.2012 – Y und Z, C – 71/11 und C – 99/11 – BayVBl 2013, 234, juris Rn. 57 ff.) sowie der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 21 ff.; VGH Baden-Württemberg, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 41 ff.; OVG NRW, U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 23 ff.) auch in einer schwerwiegenden Verletzung des in Art. 10 Abs. 1 GR-Charta verankerten Rechtes auf Religionsfreiheit liegen, die den Betroffenen erheblich beeinträchtigt. Die „erhebliche Beeinträchtigung“ muss nicht schon eingetreten sein, es genügt bereits, dass ein derartiger Eingriff unmittelbar droht (BVerwG, a. a. O., Rn. 21). Zur Qualifizierung eines Eingriffs in das Recht aus Art. 10 Abs. 1 GR-Charta als „erheblich“ kommt es nicht auf die im Rahmen des Art. 16a Abs. 1 GG sowie des § 51 Abs. 1 AuslG 1990 maßgebliche Unterscheidung an, ob in dem Kernbereich der Religionsfreiheit, das „religiöse Existenzminimum“ (forum internum) eingegriffen wird oder ob die Glaubensbetätigung in der Öffentlichkeit (forum externum) betroffen ist (vgl. BVerwG, U.v. 20.1.2004 – 1 C 9/03 – BVerwGE 120, 16/20 f., juris Rn. 12 ff. m. w. N.). Vielmehr kann ein gravierender Eingriff in die Freiheit, den Glauben im privaten Bereich zu praktizieren, ebenso zur Annahme einer Verfolgung führen wie ein Eingriff in die Freiheit, diesen Glauben öffentlich zu leben (EuGH, a. a. O. Rn. 62 f.; BVerwG, a. a. O., Rn. 24 ff.; VGH Baden-Württemberg a. a. O. Rn. 43; OVG Nordrhein-Westfalen a. a. O. Rn. 29 ff.). Für die Frage der Erheblichkeit der Beeinträchtigungen ist daher abzustellen auf die Art der Repressionen und deren Folge für den Betroffenen (EuGH, a. a. O., Rn. 65 ff.), mithin auf die Schwere der Maßnahmen und Sanktionen, die dem Ausländer drohen (BVerwG, a. a. O., Rn. 28 ff.; VG Baden-Württemberg, a. a. O.; OVG Nordrhein-Westfalen a. a. O.). Dieser Rechtsprechung hat sich das erkennende Gericht in ständiger Rechtsprechung angeschlossen (vgl. VG Würzburg, U.v. 19.5.2015 – W 1 K 14.30534 – juris Rn. 23 ff.; U.v. 19.12.2014 – W 1 K 12.30183 – juris Rn. 23; U.v. 27.8.2013 – W 1 K 12.30200 – juris Rn. 19).
Das Grundrecht aus Art. 10 Abs. 1 GR-Charta umfasst auch die sogenannte negative Religionsfreiheit, d. h. die Freiheit, eine bestimmte religiöse Überzeugung nicht zu teilen bzw. nicht an religiösen Handlungen teilzunehmen (Jarass, Charta der Grundrechte der EU, 2. Aufl. 2013, Art. 10 Rn. 10; Bernsdorff in Meyer, Charta der Grundrechte der EU, 4. Aufl. 2014, Art. 10 Rn. 12), weshalb insoweit dieselben o. g. Maßstäbe gelten wie bei der Beurteilung eines Eingriffs in die positive Religionsfreiheit.
Die Beurteilung, wann eine Verletzung der Religionsfreiheit die erforderliche Schwere aufweist, um die Voraussetzungen einer Verfolgungshandlung i. S.v. Art. 9 Abs. 1 Buchst. a) QRL zu erfüllen, hängt von objektiven wie auch subjektiven Gesichtspunkten ab (EuGH, U.v. 5.9.2012 – Y und Z, C – 71/11 und C – 99/11 – juris Rn. 70; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 28 ff.). Objektive Gesichtspunkte sind insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter wie z. B. Leib und Leben. Die erforderliche Schwere kann insbesondere
– aber nicht nur – dann erreicht sein, wenn dem Ausländer durch die Teilnahme an religiösen Riten in der Öffentlichkeit die Gefahr droht, an Leib, Leben oder Freiheit verletzt, strafrechtlich verfolgt oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden. Bei strafrechtsbewehrten Verboten kommt es insoweit maßgeblich auf die tatsächliche Strafverfolgungspraxis im Herkunftsland des Ausländers an, weil ein Verbot, das erkennbar nicht durchgesetzt wird, keine erhebliche Verfolgungsgefahr begründet (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 28 m. w. N.). Als relevanter subjektiver Gesichtspunkt ist der Umstand anzusehen, dass für den Betroffenen die Befolgung einer bestimmten gefahrenträchtigen religiösen Praxis zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist (EuGH, U.v. 5.9.2012 – Y und Z, C-71/11 und C-99/11 – juris Rn. 70; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 29; VGH BW, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 48; OVG NRW, U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 35). Denn der Schutzbereich der Religionsfreiheit erfasst sowohl die von der Glaubenslehre vorgeschriebenen Verhaltensweisen als auch diejenigen, die der einzelne Gläubige für sich selbst als unverzichtbar empfindet. Dabei kommt es auf die Bedeutung der religiösen Praxis für die Wahrung der religiösen Identität des einzelnen Ausländers an, auch wenn die Befolgung einer solchen religiösen Praxis nicht von zentraler Bedeutung für die betreffende Glaubensgemeinschaft ist (BVerwG, B.v. 9.12.2010 – 10 C 19.09 – BVerwGE 138, 270, juris Rn. 43; VGH BW a. a. O.). Maßgeblich ist dabei, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (BVerwG, U.v. 20.2.2013 a. a. O. Rn. 29). Dieser Maßstab setzt nicht voraus, dass der Betroffene innerlich zerbrechen oder jedenfalls schweren seelischen Schaden nehmen würde, wenn er auf eine entsprechende Praktizierung seines Glaubens verzichten müsste (BVerwG a. a. O. Rn. 30). Jedoch muss die konkrete Glaubenspraxis ein zentrales Element seiner religiösen Identität und in diesem Sinne für ihn unverzichtbar sein. Demgegenüber reicht nicht aus, dass der Asylbewerber eine enge Verbundenheit mit seinem Glauben hat, wenn er diesen – jedenfalls im Aufnahmemitgliedstaat – nicht in einer Weise lebt, die ihn im Herkunftsstaat der Gefahr der Verfolgung aussetzen würde. Maßgeblich für die Schwere der Verletzung der religiösen Identität ist die Intensität des Drucks auf die Willensentscheidung des Betroffenen, seinen Glauben auszuüben oder hierauf zu verzichten (BVerwG a. a. O.; VGH BW a. a. O. Rn. 49).
Die Tatsache, dass er die unterdrückte religiöse Betätigung für sich selbst als verpflichtend empfindet, um seine religiöse Identität zu wahren, muss der Asylbewerber zur vollen Überzeugung des Gerichts nachweisen (BVerwG, U.v. 25.8.2015 – 1 B 40/15 – juris Rn. 13; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 30; B.v. 9.12.2010 – 10 C 19.09 – BVerwGE 138, 270, juris Rn. 43; OVG NRW, B.v. 11.10.2013 – 13 A 2041/13.A – juris Rn. 7; U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 13). Dabei ist das Gericht nicht an kirchliche Bescheinigungen und Einschätzungen gebunden (BVerwG, B.v. 25.8.2015 – 1 B 40/15 – juris Rn. 9 ff.; BayVGH, B.v. 9.4.2015 – 14 ZB 14.3044 – juris Rn. 5; OVG Lüneburg, B.v. 16.9.2014 – 13 LA 93/14 – juris Rn. 6). Da es sich um eine innere Tatsache handelt, lässt sich die religiöse Identität nur aus dem Vorbringen des Asylbewerbers sowie im Wege des Rückschlusses von äußeren Anhaltspunkten auf die innere Einstellung des Betroffenen aufgrund einer ausführlichen Anhörung in der mündlichen Verhandlung feststellen (BVerwG, B.v. 25.8.2015, a. a. O. Rn. 14; U.v. 20.2.2013, a. a. O. Rn. 31; VGH Baden Württemberg, U.v. 12.6.2013 – A 11 S 757/13 – juris Rn. 50).
Gemessen an diesen Grundsätzen liegen im Falle des Klägers zur vollen Überzeugung des Gerichts die erforderliche objektive und subjektive Schwere der ihm im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan drohenden Verletzung seiner negativen Religionsfreiheit vor. Der Kläger wäre im Falle der Rückkehr nach Afghanistan gezwungen, seinen Abfall vom muslimischen Glauben zu verbergen, auch im privaten Umfeld, um an religiösen Handlungen der muslimischen Mehrheitsbevölkerung aktiv teilzunehmen, da anderenfalls schwerwiegende Übergriffe durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure nicht ausgeschlossen werden können. Dauerhaft staatlicher Schutz vor derartigen Übergriffen ist derzeit – auch nur in bestimmten Landesteilen nicht erreichbar, insoweit gilt das vom erkennenden Gericht für zum Christentum konvertierte ehemalige Muslime entsprechend auch für den Kläger, der sich durch seinen Abfall vom Islam der sogenannten Apostasie aus Sicht der muslimischen Mehrheitsbevölkerung schuldig gemacht hat. Ihm droht deshalb aufgrund eines anzuerkennenden subjektiven Nachfluchtgrundes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine flüchtlingsrelevante Verfolgung i. S. d. §§ 3 Abs. 1 Nr. 1, 3a Abs. 1 und 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG.
Dies ergibt sich aus Folgendem:
1.1 Die Verfassung der islamischen Republik Afghanistan erklärt den Islam zur Staatsreligion. Zwar wird den Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften das Recht eingeräumt, im Rahmen der Gesetze ihren Glauben auszuüben und ihre religiösen Bräuche zu pflegen. Somit gewährleistet die Verfassung grundsätzlich das Recht auf freie Religionsausübung. Dieses Grundrecht umfasst jedoch nicht die Freiheit, vom Islam zu einer anderen Religion zu konvertieren, und schützt somit nicht die freie Religionswahl (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan, Stand November 2015, S. 11; Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Hamburg v. 22.12.2004 Az. 508-516.80/43288; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – die aktuelle Sicherheitslage, September 2015, S. 19). Im Fall des Wechsels vom Islam zu einer anderen Religion kommt Scharia-Recht zur Anwendung. Der Abfall vom Islam, d. h. die sogenannte Apostasie, wird nach der Scharia als Verbrechen betrachtet, auf das die Todesstrafe steht. Die Todesstrafe wegen Konversion wurde zwar nach Kenntnissen des Auswärtigen Amtes bisher nie vollstreckt (Lagebericht am a. a. O., S. 12). Konvertiten drohen jedoch Gefahren oft auch aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld, da der Abfall vom Islam in der streng muslimisch geprägten Gesellschaft als Schande für die Familienehre angesehen wird (Lagebericht a. a. O.; UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, zusammenfassende Übersetzung vom 24.3.2011, S. 6; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – die aktuelle Sicherheitslage, September 2015, S. 19; Internationale Gesellschaft für Menschenrechte – IGFM, Situation christlicher Konvertiten in Afghanistan – Stellungnahme vom 27.2.2008, S. 1, 8. ff.; Dr. Mostafa Danesch, Gutachten vom 13.5.2004 an das VG Braunschweig, S. 1 ff.). Nach den in Afghanistan vorherrschenden (sunnitischen und schiitischen) Rechtsschulen muss ein vom Islam Abgefallener zur Reue aufgefordert werden. Der Betroffene hat dann drei Tage Bedenkzeit. Widerruft er bis dahin seinen Glaubenswechsel nicht, so ist sein Leben nach islamischer Rechtsauffassung verwirkt (IGFM, Stellungnahme v. 27.2.2008, S. 8; UNHCR-Richtlinien 2011, S. 6). Konvertierte Moslems sind in Afghanistan daher für den Fall, dass sie ihren Glauben nicht ablegen bzw. nicht verleugnen wollen und zur Wahrung des äußeren muslimischen Anscheins an muslimischen Riten, wie dem fünfmal täglichen Gebet, den Moscheebesuch oder islamischen Feierlichkeiten sich entziehen wollen, der Gefahr erheblicher Repressalien auch im privaten Umfeld bis hin zu Ehrenmorden ausgesetzt (Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.12.2004, S. 2; UNHCR-Richtlinien 2011, S. 6; Schweizerische Flüchtlingshilfe a. a. O., S. 19; IGFM a. a. O. S. 5, 8 f.; Dr. Danesch a. a. O., S. 1 f., 3 ff.). Dies gilt nach der Überzeugung des Gerichts entsprechend für vom Glauben abgefallene, aber nicht zum Christentum konvertierte Muslime, weil der maßgebliche Anknüpfungspunkt der Verfolgungsmaßnahmen nicht die Hinwendung zum Christentum ist, sondern die Apostasie, d. h. der Abfall vom muslimischen Glauben (vgl. VG Magdeburg, U.v. 30.9.2014 – 5 A 193/13 MD – juris).
1.2 Im Falle des Klägers liegt auch die erforderliche subjektive Schwere vor, weil es nach der aufgrund der mündlichen Verhandlung gewonnenen Überzeugung des Gerichtes ein unverzichtbarer Bestandteil seiner religiösen Identität ist, sich nicht mehr mit dem muslimischen Glauben zu identifizieren und nicht an muslimischen Reden, insbesondere dem öffentlichen fünfmal täglichen Gebet, dem Moscheebesuch oder islamischen Feierlichkeiten teilzunehmen.
Da es bei einem Abfall vom Islam ohne Hinwendung zu einer anderen Religion an einem formalen bestätigenden Akt wie der Taufe fehlt, ist maßgeblich auf die Glaubhaftigkeit des Vortrags des Betroffenen zu den Gründen seiner Abwendung vom bisherigen Glauben abzustellen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass für die Annahme einer Verfolgungsgefahr und damit für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erforderlich ist, dass der Abfall vom Islam, insbesondere wenn er erst nach der Ausreise aus dem Herkunftsland durchgeführt wurde, nicht rein aus asyltaktischen Gründen vorgetragen wird, sondern auf einem ernsthaften, dauerhaften religiösen Einstellungswandel beruht und nunmehr die religiöse Identität des Betroffenen prägt (vgl. zur Konversion BVerwG, B.v. 25.8.2015 – 1 B 40/15 – juris Rn. 14; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 29; BayVGH, B.v. 20.4.2015 – 14 ZB 13.30257 – juris Rn. 4; B.v. 9.4.2015 – 14 ZB 14.3044 – juris Rn. 7; HessVGH, U.v. 26.7.2007 – 8 UE 3140/05.A – juris Rn. 20 ff.; B.v. 26.6.2007 – 8 UZ 1463/06.A – juris Rn. 12 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 7.11.2012 – 13 A 1999/07.A – juris Rn. 37 ff.; VG Magdeburg, U.v. 30.9.2014 – 5 A 193/13 MD – juris). Als maßgebliches Indiz für die Glaubhaftigkeit eines vorgetragenen Abfalls vom Islam, der sich nicht anhand objektiver Tatsachen wie der auch nach außen erkennbaren Hinwendung zu einer anderen Religionsgemeinschaft objektiv nachweisen lässt, sind nach der Überzeugung des erkennenden Gerichts die Kriterien der Rechtsprechung zur Überprüfung einer Gewissensentscheidung heranzuziehen. Maßgeblich ist daher, dass der Betroffene eine innere Umkehr nachvollziehbar vorträgt, die auf einem bestimmten bedeutsamen Schlüsselerlebnis oder einem längerfristigen inneren Wandlungsprozess beruhen kann (vgl. BVerwG, U.v. 2.3.1989 – 6 C 10/87 BVerwGE 81, 294 ff., juris Rn. 13).
Gemessen daran hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung seinen Glaubenswechsel überzeugend dargelegt. Er hat das Gericht aufgrund des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Gesamteindrucks davon überzeugt, dass sein bereits im Herkunftsland begonnener und in Deutschland abgeschlossener Abfall vom muslimischen Glauben mittlerweile dergestalt identitätsprägend ist, dass davon auszugehen ist, dass er seine nunmehrige Weltanschauung bei einer Rückkehr in sein Heimatland leben und praktizieren wird. Nach dem Eindruck, den das Gericht aufgrund der mündlichen Verhandlung vom Kläger gewonnen hat, hat sich dieser ernsthaft und mit innerer Überzeugung vom Islam abgewandt und lebt nunmehr eine nichtmuslimische religiöse Grundhaltung.
Der Kläger hat nachvollziehbar seine Motive dargestellt, die eine Abkehr vom bisherigen Glauben lebensgeschichtlich zu erklären geeignet sind. Er hat überzeugend dargelegt, dass er bereits im Kindesalter mehrere Erlebnisse hatte, aufgrund derer er zu der Einstellung gekommen ist, dass die Menschen seines früheren, muslimisch geprägten Umfeldes nicht nach den Geboten ihres Glaubens lebten und Menschen anderer Religion unterdrückten. So hat der Kläger zum einen das bereits beim Bundesamt vorgetragene Geschehen der Grundstücksstreitigkeit seines Vaters und seines Großvaters in Beziehung zum muslimischen Glauben gesetzt. Denn der Grundstückskauf durch seine Vorfahren wurde zwar vor Gericht mit einem Eid auf den Koran beglaubigt, dennoch hat der ehemalige Besitzer sich nicht an den Vertrag gehalten und immer wieder Vieh und Ernte gestohlen und den Vater des Klägers krankenhausreif geschlagen, um die Grundstücke zurück zu bekommen. Der Kläger hat als kleines Kind mit angesehen, wie sein Vater von gläubigen Menschen zusammengeschlagen wurde. Er hat des Weiteren schlüssig vorgetragen, dass er seiner Überzeugung nach frei im Glauben sei, dass es ihm wichtig sei, freie Entscheidungen zu treffen, dass ihm Menschlichkeit wichtiger sei als die Befolgung religiöser Gebote und dass er es deshalb nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne, bestimmten religiösen Pflichten nachzukommen. Er hat des Weiteren dargelegt, dass er bereits im Alter von acht Jahren sein Herkunftsland verlassen hat und dass seine jetzige Denkweise mit den Menschen dort nicht zusammenpasst. Des Weiteren hat der Kläger nachvollziehbar erklärt, er könne sich nicht vorstellen, wieder in einer muslimischen Gesellschaft zu leben, in die Moschee zu gehen und mit religiösen Menschen Kontakt zu haben. Er könne sich mit diesen nicht identifizieren und es könne von ihm nicht verlangt werden, an religiösen Handlungen teilzunehmen, die nicht seiner religiösen Überzeugung entsprächen.
Aufgrund dieser Ausführungen steht zur Überzeugung des Gerichtes fest, dass der Kläger bereits im Kindesalter einen Prozess des inneren Einstellungswandels begonnen hat, der durch das Verlassen des Herkunftslandes und schließlich seine Flucht nach Deutschland unterstützt und gefestigt wurde. Der nunmehr schon langjährige Aufenthalt des Klägers in einer westlichen, durch Religionsfreiheit sowie weitgehende Trennung von Staat und Kirche geprägten Gesellschaft hat es dem Kläger ermöglicht, das afghanische Gesellschaftsmodell sowie das westliche Gesellschaftsmodell einander gegenüber zu stellen. Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung deutlich gewordenen intellektuellen Fähigkeiten des Klägers steht auch fest, dass er die Unterschiede der beiden Gesellschaftsmodelle reflektiert und diese in einen Bezug zu seiner religiösen Erziehung gestellt hat. Auf der Grundlage seiner bereits im Herkunftsland gewachsenen Zweifel am muslimischen Glauben ist er so zu der Überzeugung gelangt, dass weder er selbst noch irgendeine andere Person zu einer bestimmten religiösen Überzeugung bzw. zu religiösen Handlungen gezwungen werden könne und dass nicht eine bestimmte Religion, sondern die Menschlichkeit als oberste Handlungsmaxime für ihn gelte.
Nach alledem bestehen für das Gericht keine Zweifel daran, dass der Kläger über einen längeren Prozess hinweg aus seiner festen ernstgemeinten inneren Überzeugung eine vom Islam abweichende religiöse Überzeugung i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG angenommen hat und er sein Leben danach ausgerichtet hat. Mit diesen Verhaltensweisen und Überzeugungen würde der Kläger in der muslimisch geprägten Gesellschaft Afghanistans unweigerlich auffallen und landesweit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erheblichen Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt seien. Damit hat er glaubhaft gemacht, auch in Afghanistan unter Inkaufnahme von Risiken nicht mehr als gläubiger Moslem leben zu wollen. Es steht somit fest, dass der Kläger sich zur Wahrung seiner religiösen Identität auch in Afghanistan zu seinen religiösen Einstellungen bekennen würde. Es wäre ihm deshalb im Herkunftsland nicht nicht möglich, seinen religiösen Überzeugungen entsprechend zu leben, ohne der Gefahr einer Verfolgung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure i. S. d. § 3c Nr. 1, 3 AsylG ausgesetzt zu sein.
2. Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Die oben (Punkt 1.1) geschilderten Gefahren für vom Glauben abgefallene Muslime drohen in Afghanistan landesweit, auch in der Stadt Kabul. Zwar mögen insbesondere nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes Repressionen gegen Konvertiten in städtischen Gebieten aufgrund der größeren Anonymität weniger als in Dorfgemeinschaften zu befürchten seien (vgl. Lagebericht, S. 12). Selbst dort würde aber ein vom Glauben abgefallener Muslim unweigerlich auffallen und selbst im privaten, familiären Umfeld bedroht sein (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Würzburg vom 13.5.2012 im Verfahren W 2 K 11.30269). Insofern gelten auch die bereits für zum Christentum konvertierte Muslime getroffenen Feststellungen entsprechend, das Schutz vor Übergriffen privater in keinem Landesteil Afghanistans dauerhaft zu erreichen ist (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft vom 22.12.2004, S. 2; Schweizerische Flüchtlingshilfe, a. a. O., S. 19; IGFM, a. a. O., S. 1). In der Rechtsprechung wird diese Einschätzung teilweise geteilt (z. B. OVG Nordrhein-Westfalen, U.v. 19.6.2008 – 20 A 3886705.A – InfAuslR 2008, 411, juris Rn. 33 ff., dort auch explizit zu Kabul; VG Würzburg, U.v. 19.5.2015 – W 1 K 14.30534 – juris Rn. 36 m. w. N.; VG Augsburg, U.v. 8.4.2013 – AU 6 K 13.30004 – juris Rn. 27 ff.; U.v. 18.1.2011 – AU 6 K 10.30647 – juris Rn. 46; eine Fluchtalternative in Kabul bejahend VG Augsburg, U.v. 22.6.2012 – AU 6 K 11.30345 – juris Rn. 20 ff.; OVG Nordrhein-Westfalen, B.v. 12.4.2013 – 13 A 2819/11.A – juris Rn. 26). Der Bayer. Verwaltungsgerichtshof hat diese Frage, soweit ersichtlich, in Bezug auf Konvertiten offen gelassen (vgl. BayVGH, B.v. 16.5.2013 – 13a ZB 12.30297 – juris Rn. 3 f.); in der genannten Entscheidung war dies nicht entscheidungserheblich. Das erkennende Gericht schließt sich somit auch im vorliegenden Verfahren aufgrund der Ausführungen in den zitierten Erkenntnismitteln der Auffassung an, wonach eine innerstaatliche Fluchtalternative für glaubhaft vom Islam abgefallene ehemalige Moslems in Afghanistan ausscheidet, wenn sie nicht bereit sind, entgegen ihrer inneren Überzeugung an religiösen Riten und Feierlichkeiten teilzunehmen (vgl. VG Würzburg, U.v. 19.5.2015, a. a. O.; U.v. 19.12.2014 – W 1 K 12.30183 – juris Rn. 36). Ein derartiges Verhalten wäre dem Kläger nicht zumutbar, da es, wie in der mündlichen Verhandlung deutlich wurde, seine religiöse Identität verletzen würde.
3. Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.