Verwaltungsrecht

Abgeltungsanspruch für krankheitsbedingt nicht genommenen Erholungsurlaub nach Versetzung in den Ruhestand

Aktenzeichen  AN 1 K 16.01099

Datum:
16.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BayVwVfG BayVwVfG Art. 35 Abs. 1
RL (EG) 2008/88 Art. 7 Abs. 2
UrlV UrlV § 3 Abs. 1, § 10 Abs. 1 S. 4, Abs. 3

 

Leitsatz

Einen Anspruch auf finanzielle Abgeltung von Erholungsurlaub, den der Beamte krankheitsbedingt vor seiner Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit nicht antreten konnte, kommt nach der Rechtsprechung des EuGH (BeckRS 2012, 80798) aus Art. 7 Abs. 2 RL 2003/88/EG in Betracht, wenn der Urlaubsanspruch zum Zeitpunkt des Eintritts in den Ruhestand noch nicht verfallen war. (redaktioneller Leitsatz)
Für die Rechtslage vor dem 1. August 2014 ergibt sich aus den Hinweisen des Bayerischen Staatsministeriums für Finanzen zum Vollzug der UrlV, die nach Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs „einzelstaatliche Gepflogenheiten“ im Sinne des Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG verschriftlichen, dass der Urlaubsanspruch 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres verfällt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
4. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die Klage, über die mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte (§ 101 Abs. 2 VwGO), ist als Verpflichtungsklage (hier: Versagungsgegenklage) zulässig.
Das Schreiben des Polizeipräsidiums Mittelfranken vom 13. Mai 2014 ist trotz der fehlenden Rechtsbehelfsbelehrung nach seinem objektiven Erklärungswert aus Sicht des Empfängerhorizonts (vgl. BeckOK VwVfG/von Alemann/Scheffczyk, Rn. 46 zu § 35 m. w. N.) als Verwaltungsakt im Sinne des Art. 35 Abs. 1 BayVwVfG zu qualifizieren, da mit ihm eine finanzielle Abgeltung von Urlaubsansprüchen des Klägers aus dem Jahr 2012 abgelehnt wird. Auch der Klageantrag zeigt, dass der Kläger das Schreiben vom 13. Mai 2014 als rechtsverbindliche Entscheidung verstanden hat.
Die Klage ist jedoch nicht begründet.
Der Bescheid des Polizeipräsidiums Mittelfranken vom 13. Mai 2014 und der Widerspruchsbescheid derselben Behörde vom 30. Mai 2016 sind nicht rechtswidrig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO).
Der Kläger hat keinen Rechtsanspruch auf finanzielle Abgeltung von Erholungsurlaub aus dem Jahr 2012, den er krankheitsbedingt vor seiner Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit nicht antreten konnte.
Als Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers auf finanzielle Abgeltung des ihm gemäß § 3 Abs. 1 der Verordnung über den Urlaub der Bayerischen Beamten und Richter (Urlaubsverordnung – UrlV) vom 24. Juni 1997 in der für das hier relevante Urlaubsjahr 2012 maßgeblichen Fassung zustehenden, infolge Erkrankung und Ruhestandsversetzung jedoch nicht genommenen Erholungsurlaubs kommt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, U.v. 3.5.2012 – C-337/10, BayVBl 2013, 205) Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (im Folgenden: RL 2003/88/EG) in Betracht.
§ 10 Abs. 3 UrlV, der nunmehr die Ansprüche auf finanzielle Abgeltung krankheitsbedingt nicht in Anspruch genommenen Erholungsurlaubs regelt, ist erst zum 1. August 2014 in Kraft getreten und erfasst nicht Urlaubsansprüche, die vor diesem Zeitpunkt entstanden sind.
Art. 7 Abs. 2 RL 2003/88/EG begründet (auch) für Beamte einen Anspruch auf Abgeltung von Urlaub, den sie krankheitsbedingt vor Eintritt in den Ruhestand nicht nehmen konnten – allerdings nur im Umfang des unionsrechtlich gewährleisteten Mindesturlaubs von vier Wochen bzw. 20 Tagen. Der Eintritt oder die Versetzung eines Beamten in den Ruhestand (§ 21 Nr. 4 BeamtStG, Art. 62, 64 BayBG) ist nach europarechtlichen Maßgaben als eine Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Sinn von Art. 7 Abs. 2 RL 2003/88/EG anzusehen (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 2 C 10.12, BayVBl 2013, 478). Einen über die Abgeltung des Mindesturlaubsanspruchs hinausgehenden Anspruch aus Unionsrecht auf finanziellen Ausgleich von sich aus nationalem Recht ergebenden weiteren Erholungsurlaubstagen hat das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich abgelehnt (BVerwG, B.v. 26.7.2013 – 2 B 72.13, IÖD 2013, 242).
Dem Kläger stand jedoch zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung kein abzugeltender Erholungsurlaub für das Jahr 2012 mehr zu. Denn der Urlaubsanspruch für dieses Jahr war zum Zeitpunkt des Eintritts des Klägers in den Ruhestand mit Ablauf des 30. April 2014 bereits durch Verfall erloschen.
Der Urlaubsanspruch nach Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG verfällt, wenn er über einen längeren Zeitraum nach Ablauf des jeweiligen Urlaubsjahres nicht genommen wird. Überschreitet der Übertragungszeitraum eine gewisse zeitliche Grenze, kann der Urlaub seinen Zweck als Erholungszeit typischerweise nicht mehr erreichen (EuGH, U.v. 22.11.2011 – C-214/10, NJW 2012, 290). Mit dem Verfall des Urlaubsanspruchs ist die Entstehung eines Urlaubsabgeltungsanspruchs ausgeschlossen (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 2 C 10.12, BayVBl 2013, 478).
Ein Verfall des Urlaubsanspruchs mit Auswirkungen auf den unionsrechtlichen Urlaubsabgeltungsanspruch tritt zum einen dann ein, wenn nationalstaatlich ein hinreichend langer Übertragungszeitraum geregelt ist und dieser abgelaufen ist. Hinreichend lang ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ein Übertragungszeitraum, wenn er deutlich länger als das Urlaubsjahr, also deutlich länger als ein Jahr, ist; ein Übertragungszeitraum muss den Beschäftigten, die während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeits- bzw. dienstunfähig sind, ermöglichen, bei Bedarf über Erholungszeiträume zu verfügen, die längerfristig gestaffelt und geplant sowie verfügbar sein können, und er muss die Dauer des Bezugszeitraums, für den er gewährt wird, deutlich überschreiten. Einen Übertragungszeitraum von 15 Monaten hat der Europäische Gerichtshof gebilligt (EuGH, U.v. 22.11.2011, a. a. O.).
Gemäß Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG werden einzelstaatliche Gepflogenheiten – wie Tarifverträge – den die Übertragung und den Verfall von Urlaubsansprüchen regelnden nationalen Rechtsvorschriften gleichgestellt (EuGH, U.v. 22.11.2011, a. a. O.).
Wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in dem im Tatbestand wiedergegebenen Schreiben vom 26. Februar 2015 an die Landesanwaltschaft Bayern im Verfahren 3 BV 14.619 ausgeführt hat, hat der Beklagte mit der Neufassung des § 10 Abs. 1 Satz 4 UrlV (ab 1.8.2014) eine Übertragungsmöglichkeit um 15 Monate festgelegt und damit eine Regelung für Bayerische Landesbeamte als „einzelstaatliche Rechtsvorschrift“ nach Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG geschaffen. Vor dem 1. August 2014 galten Hinweise des Bayerischen Staatsministeriums für Finanzen zum Vollzug der UrlV in Form von FMS vom 14. März 2009 (richtig: 14. Mai 2009), 3. Juni 2012 und 4. April 2013, wobei die beiden letztgenannten nach Auffassung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs „einzelstaatliche Gepflogenheiten“ im Sinne des Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG verschriftlichten.
Die Kammer teilt die vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof in dem genannten Schreiben geäußerte Rechtsauffassung.
Unter den Begriff „Gepflogenheit“ im Sinne des Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG ist zur Überzeugung der Kammer auch der tatsächliche Verwaltungsvollzug zu subsumieren, der durch innerdienstliche Schreiben des Beklagten (hier vom 3.6.2012 und 4.4.2013) den nachgeordneten Behörden vorgegeben wird. Die vorbezeichnete Auslegung des Begriffs „Gepflogenheit“ entspricht auch dem englischen und französischen Wortlaut des Art. 7 Abs. 1 RL 2003/88/EG („national legislation and/or practice“ bzw. „par les législations et/ou pratiques nationales“).
In den FMS vom 3. Juni 2012 und 4. April 2013 wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass nach einem Zeitraum von 15 Monaten von einem Verfall des Urlaubsanspruchs auszugehen ist.
Durch diese Hinweise zum Vollzug der UrlV ist demnach eine einheitliche und von den nachgeordneten Behörden zu beachtende Regelung („einzelstaatliche Gepflogenheit“, vgl. FMS vom 3.6.2012, letzter Satz: „Ich bitte, die vorstehenden Grundsätze zu beachten und die personalverwaltenden Stellen in geeigneter Weise zu unterrichten“) im Sinn der Rechtsprechung des EuGH zur Behandlung von Urlaubsabgeltungsansprüchen im Zuständigkeitsbereich des Beklagten geschaffen worden, die einen Verfall der Urlaubsansprüche von Beamten 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres vorsieht.
Das Urlaubsjahr 2012 war im Zeitpunkt des Eintritts des Klägers in den Ruhestand mit Ablauf zum 30. April 2014 bereits seit mehr als 15 Monaten abgelaufen, womit ein Urlaubsabgeltungsanspruch des Klägers für das Urlaubsjahr 2012 nicht mehr besteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs.1, 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Die Berufung war gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zuzulassen, da die in einem Berufungsverfahren entscheidungserhebliche und auch klärungsfähige Frage der Dauer der Verfallsfrist von krankheitsbedingt nicht genommenem Erholungsurlaub vor Inkrafttreten der Neufassung des § 10 Abs. 1 Satz 4 UrlV (ab 1.8.2014) über den zu entscheidenden einzelnen Fall hinaus Bedeutung besitzt. Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat sich zu der streitgegenständlichen Frage bisher nur durch das oben bezeichnete Schreiben geäußert, jedoch nicht in der Sache entschieden.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu. Die Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des vollständigen Urteils beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach,
Hausanschrift:
Promenade 24 – 28, 91522 Ansbach, oder
Postfachanschrift:
Postfach 616, 91511 Ansbach,
schriftlich einzulegen; sie muss das angefochtene Urteil bezeichnen.
Die Berufung ist innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung des vollständigen Urteils zu begründen. Die Begründung ist, sofern sie nicht zugleich mit der Einlegung der Berufung erfolgt, beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift:
Ludwigstraße 23, 80539 München;
Postfachanschrift:
Postfach 34 01 48, 80098 München, oder in
in Ansbach:
Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen. Die Begründungsfrist kann auf einen vor ihrem Ablauf gestellten Antrag vom Vorsitzenden des Senats verlängert werden. Die Begründung muss einen bestimmten Antrag enthalten sowie die im Einzelnen anzuführenden Gründe der Anfechtung (Berufungsgründe). Mangelt es an einem dieser Erfordernisse, so ist die Berufung unzulässig.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Bevollmächtigte sind Rechtsanwälte oder Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule eines Mitgliedstaates der Europäischen Union, eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum oder der Schweiz mit Befähigung zum Richteramt oder die in § 67 Abs. 2 Satz 2 Nrn. 3 bis 7 VwGO bezeichneten Personen und Organisationen zugelassen. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse können sich auch durch eigene Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt oder durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt anderer Behörden oder juristischer Personen des öffentlichen Rechts einschließlich der von ihnen zur Erfüllung öffentlichen Aufgaben gebildeten Zusammenschlüsse vertreten lassen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 2.539,40 EUR festgesetzt (§ 52 Abs. 3 GKG).
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 200 EUR übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde.
Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach,
Hausanschrift:
Promenade 24 – 28, 91522 Ansbach, oder
Postfachanschrift:
Postfach 616, 91511 Ansbach,
schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.

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