Verwaltungsrecht

Asyl, Herkunftsland Türkei, Kurdische Volkszugehörigkeit, Jesidin

Aktenzeichen  M 1 K 17.40855

Datum:
30.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 25789
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AsylG § 4
AufenthG § 60 Abs. 5
AufenthG § 60 Abs. 7

 

Leitsatz

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Klägerinnen haben je zur Hälfte die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerinnen dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des jeweils vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über den Rechtsstreit kann aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 19. April 2021 entschieden werden, obwohl für die Beklagte niemand erschienen ist. Die Beklagte ist ausweislich des Empfangsbekenntnisses am 26. Februar 2021 ordnungsgemäß zur Sitzung geladen worden und gemäß § 102 Abs. 2 VwGO auf die Möglichkeit hingewiesen, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann.
I. Soweit die Klagen bezüglich der Asylanerkennung konkludent zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren gemäß § 92 Abs. 3 VwGO eingestellt.
II. Im Übrigen ist die Klage der Klägerin zu 1 im Hauptantrag und in den Hilfsanträgen zulässig, jedoch unbegründet. Der ablehnende Bescheid vom 11. Mai 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin zu 1 nicht in ihren Rechten.
1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylG sind nicht gegeben.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründen) außerhalb seines Herkunftslands befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3c AsylG sind Akteure, von denen die Verfolgung ausgehen kann, der Staat oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen sowie nichtstaatliche Akteure, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.
Eine “begründete Furcht” vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 19). Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und gegenüber den dagegen sprechenden Umständen überwiegen. Dabei ist eine “qualifizierende” Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris Rn. 24; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33/07 – juris Rn. 23; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
Nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist die Tatsache, dass ein Asylbewerber bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung bedroht sind. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Ob die Vermutung durch “stichhaltige Gründe” widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Ls.).
Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
Es ist im Falle der Klägerin zu 1 weder von einer Gruppenverfolgung noch von einer individuellen Verfolgung auszugehen. Die Klägerin zu 1 hat mit ihrem Vortrag nicht glaubhaft machen können, dass ihr in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Handlung droht.
a) Eine Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei erfolgt nicht.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die “Regelvermutung” eigener Verfolgung rechtfertigen. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216, juris Rn. 43; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris Rn. 4).
Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass etwaige asylrelevante Übergriffe auf türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweisen, die zu einer Gruppenverfolgung und damit dazu führt, dass jedes Mitglied dieser Gruppe als verfolgt gilt (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554.17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Das Gericht schließt sich diesbezüglich der oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung an (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – juris Rn. 6 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 7.1.2021 – 3 A 927/20.A – juris Rn. 12; OVG Saarl, B.v. 18.11.2020 – 2 A 321/20 – juris Rn. 16).
Zudem stünde Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative gem. § 3e Abs. 1 AsylG offen (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – juris Rn. 7; B.v. 3.6.2016 – 9 ZB 12.30404 – juris Rn. 6; SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557.13.A – juris, Rn. 31; VG Augsburg, U.v. 9.12.2020 – Au 4 K 19.31715 – BeckRS 2020, 42300, Rn. 19). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern. Dies trifft auch auf die Klägerin zu 1 zu (vgl. hierzu sogleich unter 1.d)).
b) Die Klägerin zu 1 wird auch nicht als Jesidin in der Türkei verfolgt. Dies hat sie selbst auch nicht geltend gemacht, weder in der Anhörung beim Bundesamt oder noch in der mündlichen Verhandlung. Anhaltspunkte für eine staatliche oder staatlich geduldete Gruppenverfolgung von Jesiden liegen abgesehen davon nicht vor.
Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amts (Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018, S. 17) sind die ehemals rund 60.000 kurdischstämmigen Jesiden in ihren Heimatregionen, insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren, aufgrund ihrer Religion Übergriffen muslimischer Nachbarn ausgesetzt gewesen. Die große Mehrheit sei ausgewandert, viele nach Deutschland. Die überwiegende Mehrheit der Jesiden lebe in den Kreisen Viranehir/Provinz Sanlurfa und Besiri/Provinz Batman. Ihre Anzahl ist nur schwer einzuschätzen; aufgrund belastbarer Untersuchungen beträgt die Mindestanzahl ca. 400 Personen; anderen Quellen zufolge, die nicht empirisch belegt werden können, soll es bis zu 2.000 Jesiden in der Türkei geben. Bei Jesiden kam es in jüngster Zeit (Stand 2018) offenbar vermehrt zu Schwierigkeiten mitunter unter Androhung von Gewalt mit politisch gut vernetzten zumeist kurdischen Clans in der Region, wenn sie versuchten, bei Rückkehr in die Türkei in der Vergangenheit zurückgelassenes oder erstmals katastermäßig erfasstes Land als Eigentum registrieren zu lassen oder dieses tatsächlich nutzen zu wollen. Die (kurdisch geprägten) Menschenrechtsvereine behaupteten, von diesen Vorgängen keine Kenntnis zu haben.
Wenngleich Jesiden in der Türkei rechtlich und tatsächlich anderen Minderheiten nicht in vollem Umfang gleichgestellt sind, liegen jedoch keine Anhaltspunkte für eine Gruppenverfolgung von Jesiden vor (vgl. auch VG Augsburg, U.v. 17.4.2019 – Au 6 K 17.35247 – juris Rn. 35-37).
c) Die Klägerin zu 1 hat bei einer Rückkehr in die Türkei keine staatlich geduldete Verfolgung durch ihren Ehemann, ihren Bruder oder sonstige Familienmitglieder zu befürchten.
aa) Das Gericht hält den Vortrag zum drohenden sog. Ehrenmord für unglaubhaft. In der Gesamtschau sind die Angaben der Klägerin zu 1 in der Anhörung einerseits und in der mündlichen Verhandlung nicht miteinander überein zu bringen. Weitere gravierende Widersprüche ergeben sich aus den Angaben ihres Bruders und ihrer Mutter. Das Gericht ist angesichts dessen der Auffassung, dass sich die gesamte Familie mit dem nichtehelichen Kind arrangiert hat und keineswegs die Gefahr eines sog. Ehrenmords im Raume steht. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Der Vortrag der Klägerin zu 1 zur Person des Drohenden ist widersprüchlich. Einerseits gab sie in der Anhörung vor dem Bundesamt am 22. Februar 2017 dezidiert an, dass ihr Ehemann der Grund für die Ausreise gewesen sei. Eines Tages habe ihre Schwägerin ihr erzählt, dass er herausgefunden habe, dass sie (die Klägerin zu 1) ein erstes Kind aus einer Vergewaltigung habe. Daher habe er beschlossen, sie (die Klägerin zu 1) zu töten. Zur Person ihres Vaters befragt äußerte die Klägerin zu 1, dass sie zu ihm keinen Kontakt habe sowie weiter: “Mein Vater hätte mich auch umgebracht, wenn er von dem Kind erfahren hätte”, woraus zu schließen ist, dass sie davon ausging, dass er dies zu der Zeit nicht gewusst hatte. In der mündlichen Verhandlung hingegen sagte die Klägerin zu 1, ihr Bruder sei beauftragt, sie umzubringen. Ihr Vater habe entsprechenden Druck auf den Bruder ausgeübt und ihn deswegen immer wieder angerufen. Im freien Erzählen nannte die Klägerin zu 1 ihren Ehemann nicht als denjenigen, vor dem sie Todesangst habe. Erst später und auf Frage der Bevollmächtigten, ob die Klägerin zu 1 nicht auch Angst vor ihrem Ehemann habe, der sie umbringen würde, antwortete die Klägerin zu 1, dass tatsächlich ihr Bruder damit beauftragt worden sei, aber ihr Ehemann hätte es “gewiss” auch gemacht. Eine ähnliche Divergenz besteht beim Vortrag des Bruders, der die Angaben der Klägerin zu 1 in ihrer Widersprüchlichkeit verstärkt. Der Bruder äußerte in seiner Anhörung beim Bundesamt am 22. Februar 2017 zunächst ebenfalls, dass die Klägerin zu 1 von ihrem Ehemann getötet werden solle und dieser diesbezügliche Rachepläne habe. Er selbst habe seit zehn Jahren keinen Kontakt mehr zu seinem Vater. Nach seinen Ausführungen in der mündlichen Verhandlung hingegen sei er (der Bruder) vom Vater dazu bestimmt worden, seine Schwester umzubringen. Der Vater habe ihn immer wieder deswegen kontaktiert. Ferner gab der Bruder in der mündlichen Verhandlung eine neue Schilderung der Geschehnisse dahingehend ab, dass seinerzeit die Stammesältesten zusammengekommen seien. Bei dieser Versammlung sei herausgekommen, dass die Klägerin zu 1 sterben müsse. Sein Vater habe ihm, dem Bruder, danach telefonisch mitgeteilt, dass er bestimmt worden sei, dies als jüngster Sohn auszuführen. Ansonsten müsse er auch sterben. Zuletzt ist das Gericht der Überzeugung, dass wenn ein solcher Ehrenmord gedroht hätte, es auch nahegelegen hätte, dass die Mutter der Klägerin zu 1 in ihrer Anhörung beim Bundesamt am 22. Februar 2017 davon gesprochen hätte. Stattdessen äußerte sie, dass wenn sie in die Türkei zurückkehren müsste, ihre Tochter – wohl von der Peschmerga – entführt würde. Von Todesdrohungen seitens des Ehemanns oder der sonstigen Familie war hingegen nicht die Rede.
Die Widersprüche und Ungereimtheiten sprechen vielmehr dafür, dass die gesamte Familie sich mit dem unehelichen Kind arrangiert hat. Dafür spricht außerdem die Angabe der Klägerin zu 1 bei ihrer Anhörung, dass sie im Sommer 2013 – angesichts der Geburt ihrer Tochter am … … … hochschwanger – ihren Mann geheiratet habe. Weiter ist es nicht naheliegend, dass ihr Ehemann sich nicht unmittelbar nach dem ersten Geschlechtsverkehr von ihrer Jungfräulichkeit überzeugen hätte wollen. Hierzu gibt die Klägerin zu 1 wenig überzeugend an, sie habe während seines Duschens Zeit gehabt, das mitgebrachte Blut auf dem Laken zu verteilen, um den Eindruck ihrer Jungfräulichkeit zu erwecken.
Ferner besteht auch ein Widerspruch in zeitlicher Hinsicht im Hinblick auf den “Warnanruf” der Schwägerin und der Abreise bzw. Ankunft der Klägerin zu 1, der die Glaubwürdigkeit erschüttert Die Klägerin zu 1 gab in ihrer Anhörung beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung an, dass sie unmittelbar nach dem Warnanruf ihrer Schwägerin Geld genommen hätte und noch am selben Vormittag den Bus nach D* … genommen habe. Die vier Tage bis zu ihrer Ausreise sei sie bei ihrer Mutter und ihrem Bruder untergekommen. Dies deckt sich nicht mit den Angaben des Bruders: Dieser gibt an, dass die Mitteilung der Schwägerin bereits zwei Wochen vor Ausreise (so die Angabe in der Anhörung) bzw. 10 bis 14 Tage vor der Ausreise (so in der mündlichen Verhandlung) erfolgt sei; die Klägerin zu 1 sei dann vier Tage vor der Ausreise zu ihnen gekommen.
Weitere Widersprüche ergeben sich zu der Frage, woher die “warnende” Schwägerin ihre Informationen hatte. Hierzu äußert die Klägerin zu 1 in der Anhörung, sie glaube, dass die “verratende” Schwägerin mit der “warnenden” gesprochen haben müsse. In der mündlichen Verhandlung hingegen äußert sie, dass es sich wohl um eine Unterhaltung zwischen dem Vater der Klägerin zu 1, ihrem Stiefbruder und ihrer Stiefmutter gehandelt haben müsse, die die warnende Schwägerin gehört habe. Unglaubhaft, weil lebensfremd erscheint auch der Umstand, dass die Klägerin zu 1 bis zu ihrem Telefonat mit ihrem Bruder bzw. ihrer Ankunft in D* … nichts davon gewusst haben will, dass ihre Mutter und ihr Bruder mit ihrer eigenen Tochter, der Klägerin zu 2 ausreisen. Unplausibel und gegen Rachegefühle sprechend ist, dass der Ehemann die Klägerin zu 1 auch nach ihrer Flucht aus D* … nicht kontaktiert haben will. Ferner führt auch nur der Bruder aus, dass die Stammesältesten beschlossen hätten, dass die Klägerin zu 2 ebenfalls sterben müsse. Hätte eine derartige Gefahr bestanden, hätte es nahegelegen, dass auch die Klägerin zu 1 dies erwähnt hätte; dies ist jedoch nicht geschehen.
Die Umstände sprechen dafür, dass die Klägerin zu 1 nicht wegen der vorgetragenen Todesangst fluchtartig das Land verließ, sondern die Ausreise aus der Türkei von längerer Hand geplant war. Diesbezüglich ist auch der Verkauf der Wohnung zu nennen. Mit der Beklagten zusammen ist davon auszugehen, dass der Verkauf einer Wohnung innerhalb eines Monats unter Beauftragung eines Maklers und eines Notartermins einschließlich Bezahlung wirklichkeitsfremd ist. Stattdessen liegt es näher, der Angabe der Mutter – die die Eigentümerin der Wohnung gewesen ist – in ihrer Anhörung als wahr zu unterstellen, dass der Verkauf der Wohnung gerade “nicht so schnell” gegangen sei.
Soweit der Ehemann der Klägerin zu 1 ihr gegenüber in der Ehe gewalttätig war, ist durch die zwischenzeitlich erfolgte Scheidung nicht davon auszugehen, dass sich dererlei wiederholt.
Die Verfolgung der Klägerin zu 1 ist demnach nicht beachtlich wahrscheinlich.
bb) Es liegt im Übrigen kein tauglicher Akteur im Sinne von § 3c AsylG für die von der Klägerin zu 1 geschilderten Umstände vor. Bei ihrem Ehemann und der Familie handelt es sich nicht um Verfolger mit Territorialhoheit im Sinne von § 3c Nr. 1, Nr. 2 AsylG. Das Gericht geht ferner davon aus, dass der türkische Staat grundsätzlich schutzwillig und schutzfähig gegenüber bedrohten Frauen ist, weswegen die Klägerin zu 1 staatlichen Schutz nach § 3d AsylG in Anspruch nehmen könnte. Eine staatliche Verfolgung, eine Anknüpfung an Verfolgungsmerkmalen oder sonst eine unmittelbar dem Staat zurechenbare Versagung von Schutz ist nicht erkennbar
Von der Schutzwürdigkeit und Schutzfähigkeit des türkischen Staates gegen kriminelles Unrecht ist auszugehen. Es gilt insoweit, dass der Schutz vor Verfolgung wirksam und nicht nur vorübergehende Art sein muss. Ein solcher Schutz ist gewährleistet, wenn der Staat geeignete Schritte einleitet, um die Verfolgung zu verhindern, insbesondere durch Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn der Ausländer Zugang zu diesem Schutz hat (§ 3 d Abs. 2 AsylG). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
Der türkische Staat wurde von der Klägerin zu 1 vor ihrer Ausreise gar nicht um Schutz angegangen, sodass weder Anlass noch Möglichkeit bestand, ihr Schutz zu gewähren. Ein Unterlassen stellt dies somit nicht dar.
Im Hinblick auf die Schutzwilligkeit und die -fähigkeit des türkischen Staates stellt sich die Lage nach den Erkenntnismitteln wie folgt dar:
Die Gleichheit von Mann und Frau ist in Art. 10 der türkischen Verfassung verankert. Gewalt gegen Frauen sowie sexuelle Übergriffe, inklusive Vergewaltigung – auch in der Ehe – sind unter Strafe gestellt, allerdings werden diese Bestimmungen nicht immer effektiv umgesetzt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationen der Staatendokumentation Türkei, Stand: 27. Januar 2021 – im Folgenden: BfA – S. 89; so auch entsprechende Presseberichte). Indiz für einen fehlenden politischen Willen stellt auch der Umstand dar, dass die Türkei im März 2021 aus der IstanbulKonvention des Europarats zum Schutze der Gewalt gegen Frauen ausgetreten ist; andererseits hat die Türkei Anfang März einen “Aktionsplan für Menschenrechte” angekündigt, darunter den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen (vgl. https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/politik/welt/2097215-Austritt-aus-Istanbul-Konvention-gegen-Gewalt-an-Frauen.html). Das Gesetz verpflichtet sowohl die Polizei, als auch die lokalen Behörden, Opfer von Gewalt oder Personen, die von Gewalt bedroht sind, Schutz und Unterstützung zu gewähren. Vorgesehen sind auch staatliche Leistungen, wie Unterkünfte und vorübergehende finanzielle Unterstützung für die Opfer. Ferner ist auch vorgesehen, dass Familiengerichte Sanktionen gegen Täter verhängen. Das Gesetz schreibt die Einrichtung von Zentren zur Gewaltprävention und Gewaltüberwachung vor, die wirtschaftliche, psychologische, rechtliche und soziale Hilfe anbieten (BfA, S. 90).
Dennoch kommt es in der Türkei immer noch zu sogenannten “Ehrenmorden”, d. h. insbesondere zu der Ermordung von Frauen oder Mädchen, die eines sog. “schamlosen Verhaltens” aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines “Verbrechens in der Ehe” verdächtigt werden. Dies schließt auch Vergewaltigungsopfer mit ein. Auch Männer werden – vor allem im Rahmen von Familienfehden (Blutrache) – Opfer von sog. “Ehrenmorden”, z. T. weil sie “schamlose Beziehungen” zu Frauen eingehen bzw. sich weigern, die “Ehre der Familie” wiederherzustellen. In Einzelfällen kommt es auch zu “Ehrenmorden” im Zusammenhang mit Homosexualität. Seitem die staatliche Menschenrechtsinstitution im Jahr 2008 für das Vorjahr insgesamt 183 “Ehrenmorde” an Frauen registrierte, wird die Statistik nicht weitergeführt. Staatliche Stellen begründen dies mit der Unvollständigkeit des Zahlenmaterials (vgl. zum Vorstehenden: Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei, Stand Juni 2020 – im Folgenden: Lagebericht – S. 17 f.). Neuere zuverlässige offizielle Daten über die Prävalenz von Frauenmorden gibt es nicht. Berichten zufolge wurden im Jahr 2019 474 Frauen getötet, wobei 319 der Täter ehemalige oder gegenwärtige Ehemänner bzw. Partner oder Verwandte waren. Im Jahr 2020 wurden mit Stand 21. November 2020 253 Frauen ermordet und 715 verletzt (BfA, S. 90). Eine Zunahme an Scheidungen infolge der wachsenden häuslichen Gewalt ist zu konstatieren (BfA, S. 91).
Mädchen, die aufgrund einer Vergewaltigung ihre Jungfräulichkeit verloren haben, sind oft unmittelbar bedroht. Nach dem türkischen Strafgesetzbuch sind “Jungfräulichkeitstests” ohne richterliche oder staatsanwaltliche Anordnung strafbar. Die Strafandrohung bei illegaler Anwendung beträgt gem. Art. 287 tStGB drei Monate bis zu einem Jahr Haft. Trotz der Berichte von NROs über erzwungene Testeinverständnisse sind keine Verurteilungen auf dieser Grundlage bekannt (Lagebericht, S. 18).
Regierung und Nichtregierungsorganisationen bestätigen, dass sich die Polizeiarbeit beim Umgang mit Gewaltopfern verbessert hat. Dennoch besteht nach Aussagen türkischer Frauen-NROs immer noch kein ausreichend staatlicher Schutz für Frauen. Großstädte und Kommunen mit mehr als 100.000 Einwohnern müssen Frauenhäuser
einrichten. Nach Aussage staatlicher Stellen stehen diese Einrichtungen auch Rückkehrern zur Verfügung (Lagebericht, S. 18). Im Jahr 2020 existieren 145 Frauenhäuser mit einer Kapazität von 3482 Plätzen für weibliche Opfer von Gewalt und deren Kinder. 71.000 Polizeibeamte, 65.000 Beschäftigte des Gesundheitsbereichs sowie 47.566 Religionsvertreter wurden entsprechend geschult (BfA, S. 91).
Auch angesichts der Tatsache, dass der Schutz von Frauen vor Gewaltdelikten in der Türkei noch große Defizite auf, zeigt sich der türkische Staat angesichts bevorstehender Ausführungen keineswegs schutzunwillig oder schutzunfähig, und die Klägerin zu 1 wäre auf diese Möglichkeiten zu verweisen, die sie nicht in Anspruch genommen hat. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass ein lückenloser Schutz seitens des Staates ohnehin nicht gewährleistet werden kann, kommt es auch in Deutschland zu sog. Ehrenmorden nicht unerheblichen Umfang (vgl. etwa https://www.ehrenmord.de/faq/wieviele.php9).
d) Selbst bei Unterstellung einer nichtstaatlichen Verfolgung der Klägerin im Sinne von § 3 Nr. 3 AsylG stünde der Klägerin etwa mit der Westtürkei eine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 3e AsylG zur Verfügung. Insbesondere in den Ballungsräumen wäre nicht damit zu rechnen, dass ihre Familie Zugriff auf sie hat.
Der Klägerin zu 1 ist es nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG wirtschaftlich zuzumuten, dass sie sich in der Westtürkei niederlässt. Im Rahmen der hypothetischen Rückkehrprognose ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1 zusammen mit ihrer Tochter, ihrer Mutter und ihrem Bruder in die Türkei zurückkehrt, weil sie im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in familiärer Lebensgemeinschaft leben. Denn bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland drohen, ist von einer möglichst realitätsnahen Beurteilung – wenngleich notwendigen hypothetischen – Rückkehrsituation auszugehen. Im Regelfall ist davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet tatsächlich zusammenlebende Familie im Familienverband zurückkehrt (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 17 ff.; BayVGH, Urt. v. 21.11.2018 – Az. 13a B 18.30632 – juris Rn. 17 ff.). Auch die volljährigen Kinder sind mit ihren Eltern als “Familie” im Sinne des Schutzbereichs des Art. 6 Abs. 1 GG zu verstehen (vgl. BVerfG, B.v. 18.4.1989 – 2 BvR 1169/84 – juris Rn. 32; B.v. 21.7.2005 – 1 BvR 817/05 – juris Rn. 14).
Die Niederlassung in einen sicheren Landesteil ist zumutbar i.S.v. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wenn bei umfassender Würdigung aller Umstände ein die Gewährleistungen des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechtecharta wahrendes Existenzminimum gesichert ist und auch keine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Grund- oder Menschenrechte oder eine sonst unerträgliche Härte droht (vgl. OVG NRW, B.v. 25.2.2021 – 19 A 1417/20.A – juris Rn. 19; VGH BW, U.v. 29.11.2019 – A 11 S 2376/19 – juris Ls.; VG Würzburg, U.v. 24.2.2021 – W 8 K 20.30328 – juris Rn. 40).
Dabei sind schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine direkte oder indirekte Handlung oder Unterlassung staatlicher oder nicht staatlicher Akteure zurückzuführen sind, nur in ganz besonderen Ausnahmefällen im Rahmen des Art. 3 EMRK zu berücksichtigen. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 10). Nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 – juris Rn. 90) kommt es darauf an, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
Der Klägerin zu 1 ist ein Leben in der Westtürkei wirtschaftlich zuzumuten.
Es liegen keine ernsthaften und stichhaltigen Gründe dafür vor, dass die Klägerin zu 1 tatsächlich Gefahr läuft, bei Rückkehr in die Türkei einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die allgemeine Versorgungslage in der Türkei stellt weder für sich genommen noch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin zu 1 eine derartige Behandlung dar. Insbesondere ist davon auszugehen, dass sie jedenfalls mit der Hilfe ihres Bruders und unter Zuhilfenahme staatlicher Unterstützung ihr Existenzminimum in der Türkei wird sichern können.
Abzustellen ist auf die hypothetische Rückkehr der Klägerin zu 1 zusammen mit ihrer Tochter, der Klägerin zu 2, ihrer pflegebedürftigen Mutter und ihres Bruders, weil sie auch gegenwärtig als Familie zusammenleben. Die Asylklagen ihres Bruders und ihrer Mutter wurden ebenfalls abgewiesen, sodass vorbehaltlich der Rechtskraft dieser Urteile kein Bleiberecht besteht. Die Klägerin zu 1 ist grundsätzlich selbst erwerbsfähig, wenngleich sie keine Schule besucht hat und als Frau einen schwierigen Zugang zum Arbeitsmarkt hat (vgl. hierzu BfA, S. 89). Auch wenn sie wegen der Betreuung ihrer Tochter und ihrer Mutter zeitlich beschränkt sein dürfte, ist es denkbar, dass die Klägerin zu 1 zumindest stundenweise einer ungelernten Erwerbstätigkeit etwa in der Landwirtschaft nachgeht. Aus den Angaben im Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit nach SGB XII betreffend die Mutter der Klägerin zu 1 vom 17. Oktober 2019 (dort S. 5, vgl. Gerichtsakt im Verfahrens M 1 K 17.40870) geht hervor, dass die Klägerin zu 1 neben der Betreuung der Klägerin zu 2 und ihrer Mutter auch in Deutschland erwerbstätig ist. Insbesondere ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1 von ihrem erwerbsfähigen Bruder unterstützt werden kann, der nach ihren eigenen Angaben auch vorher für sie gesorgt hat (vgl. Anhörungsprotokoll, S. 3).
Ergänzend hierzu ist die staatliche Unterstützung in der Türkei in den Blick zu nehmen. In der Türkei existiert zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber auf der Grundlage der Gesetze Nr. 3294 über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität, und Nr. 5263 (Gesetz über Organisation und Aufgaben der Generaldirektion für Soziale Hilfe und Solidarität) gewährt. Die Hilfeleistungen werden von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardimlasma ve Dayanisma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. Lagebericht, S. 25; Bf, S. 108 f.; VG Aachen, U.v. 2.8.2019 – 6 K 2167/18.A – juris Rn. 59; VG Augsburg, U.v. 30.4.2019 – Au 6 K 17.33876 – juris Rn. 79; VG München, U.v. 22.2.2021 – M 1 K 17.41644 – Rn. 34; v. 22.2.2021 – M 1 K 17.41103 – Rn. 41, jeweils n.v.).
Ferner gibt es auf Initiative des Ministeriums für Familie und Sozialpolitik 43 Sozialprogramme (2019) wie zum Beispiel Sachspenden: Nahrungsmittel, Schulbücher, Heizmaterialien etc.; Kindergeld: einmalige Zahlung, die sich nach der Anzahl der Kinder richtet; Wohnprogramme. Gerade im Hinblick auf die Situation der Klägerin zu 1 und der Betreuung ihrer pflegebedürftigen Mutter ist hervorzuheben, dass eine Unterstützung in Höhe von 1544 TL für Personen existiert, die sich um Schwerbehinderte zu Hause kümmern. Voraussetzung hierfür ist ein Grad der Behinderung von mindestens 50% sowie der Nachweis der Erforderlichkeit von Unterstützung im Alltag (vgl. BfA, S. 108).
In Anbetracht dieser Auskunftslage ist das Gericht der Überzeugung, dass die Klägerin zu 1 jedenfalls unter Zuhilfenahme staatlicher Unterstützung ihr wirtschaftliches Existenzminimum ohne Verstoß gegen Art. 3 EMRK sichern wird können und somit eine inländische Fluchtalternative besteht.
2. Die Klägerin zu 1) hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes (§ 4 Abs. 1 AsylG), weil sie keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihr bei einer Rückkehr in die Türkei ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
Ein Ausländer ist subsidiär Schutzberechtigter nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG i.V.m. Art. 15 RL 2011/95/EU die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG gelten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz als für die Zuerkennung subsidiären Schutzes anwendbar erklärt. Auch bei der Zuerkennung subsidiären Schutzes greift die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 20).
a) Zweifellos stellt ein “Ehrenmord” bzw. eine sog. “Blutrache” einen ernsthaften Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG dar. Aus den unter oben 1. genannten Gründen hält das Gericht eine derartige Gefahr jedoch nicht für gegeben.
b) Die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG wurde von der Klägerin zu 1 weder geltend gemacht, noch liegen hierfür Anhaltspunkte vor.
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. Lagebericht, S. 22). Auch für extralegale Hinrichtungen liegen keine Anhaltspunkte vor. Etwaige Tötungen durch Private stellen keine “Todesstrafe” hierzu berechtigter Institutionen dar und stehen auch in der Türkei als Kapitaldelikt unter Strafe.
d) Die Abschiebung nach einer Asylantragsstellung in Deutschland führt in der Türkei ebenfalls nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. Lagebericht, S. 26).
e) Es besteht keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Klägerin zu 1 infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG).
Die allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgeht, kann sich individuell so verdichten, dass sie eine ernsthafte individuelle Bedrohung darstellt. Voraussetzung hierfür ist eine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefährdungsgrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit einem solchen Gefahrengrad nicht landesweit, ist bezüglich der Gefahrendichte auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Ausländer typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9.08 – juris Ls.).
In der Türkei liegt gegenwärtig kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vor. Zwar wird in den aktuellen Erkenntnismitteln ausgeführt, dass trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen das Risiko von Terroranschlägen im ganzen Land besteht und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak Auswirkungen auf die Sicherheitslage in der Türkei haben. Der Konflikt mit der PKK, der im Juli 2015 wieder aufflammte, hat jedoch in seiner Intensität innerhalb des türkischen Staatsgebiets seit Sommer 2016 nachgelassen (vgl. S. 5 f. des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 14. Juni 2019). Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln geht die Türkei zwar auf ihrem Staatsgebiet gegen Terrorismus vor und erfasst dabei auch der Terrorunterstützung etc. verdächtige Personen, insbesondere soweit sie der PKK zugerechnet werden. Dies stellt allerdings nach Art, Intensität und Umfang keinen so hoher Gefährdungsgrad dar, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist.
f) Im Übrigen wäre die Klägerin zu 1 ebenfalls auf eine inländische Fluchtalternative zu verweisen (vgl. oben unter 1.d)).
3. Zielstaatsbezogene Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen ebenfalls nicht vor.
a) Der Klägerin zu 1 steht kein Anspruch auf Verpflichtung zur Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Insoweit sind die Verhältnisse im Abschiebungszielstaat landesweit in den Blick zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 26) und die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Zielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (vgl. EGMR, U.v. 20.7.2010 – 23505/09, N./Schweden – HUDOC Rn. 54; vom 28.6.2011 – 8319.07 und 11449.07, Sufi und Elmi/Großbritannien – HUDOC Rn. 216; v. 29.1.2013 – 60367.10, S.H.K/Großbritannien – HUDOC Rn. 72; v. 6.6.2013 – 2283.12, Mohammed/Österreich – HUDOC Rn. 95; v. 5.9.2013 – 61204.09, 1./Schweden – HUDOC Rn. 56).
Eine Verletzung des Art. 3 EMRK kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei “nichtstaatlichen” Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein “verfolgungsmächtiger Akteur” (§ 3c AsylG) fehlt, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung “zwingend” sind mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum und Gesundheitsversorgung. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 10); es kann erreicht sein, wenn er seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (BVerwG, U.v. 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 – juris Rn.12). Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (U.v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim – Rn. 89 ff. und C-163/17, Jawo – Rn. 90ff.) ist darauf abzustellen, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not” befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
Wie bereits ausgeführt, liegen keine ernsthaften und stichhaltigen Gründe dafür vor, dass die Kläger zu 1 tatsächlich Gefahr läuft, in der Türkei einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die allgemeine Versorgungslage in der Türkei stellt weder für sich genommen noch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin eine derartige Behandlung dar. Insbesondere ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1 jedenfalls mit der Hilfe ihres Bruders und unter Zuhilfenahme staatlicher Unterstützung ihr Existenzminimum in der Türkei wird sichern können (vgl. hierzu die Ausführungen unter 1.d)). Ferner ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1 auch auf die in der Türkei verbliebene Familie, namentlich ihre Schwestern mit deren jeweiligen Familien zurückgreifen kann. In der Anhörung beim Bundesamt gab die Klägerin zu 1 an, sie habe Kontakt zu ihrer Schwester.
b) Auch die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen in der Person der Klägerin zu 1 nicht vor.
Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht.
Grundsätzlich stellt eine schlechtere wirtschaftliche Situation in der Türkei keine Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG dar. Die Bevölkerung ist dem allgemein ausgesetzt, ein genereller Abschiebestopp nach § 60 Abs. 7 Satz 5 i.V.m. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG wurde nicht erlassen. Im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die einen Ausländer im Falle der Rückkehr in seinen Herkunftsstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die Versorgungslage, kann ein Ausländer nur dann Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre, gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen, also mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod, ausgeliefert wäre (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – juris Rn. 16).
Eine solche Lage wird die Klägerin zu 1 bei Rückkehr in die Türkei nicht vorfinden, weil von einer Sicherung ihres Existenzminimums ausgegangen werden kann (s. unter a).
Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG nur vor bei lebensbedrohlichen Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Es ist nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist, § 60 Abs. 7 S. 4 AufenthG. Dabei erfasst diese Regelung nur solche Gefahren, die in den spezifischen Verhältnissen im Zielstaat begründet sind, während Gefahren, die sich aus der Abschiebung als solche ergeben, nur von der Ausländerbehörde als inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis berücksichtigt werden können. Eine “erhebliche konkrete Gefahr” im Falle einer zielstaatsbezogenen Verschlimmerung einer lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankung ist daher gegeben, wenn die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland eintreten würde. Gründe hierfür können nicht nur fehlende Behandlungsmöglichkeiten im Zielstaat sein, sondern etwa auch die tatsächliche Nichterlangbarkeit einer an sich vorhandenen Behandlungsmöglichkeit aus finanziellen oder sonstigen persönlichen Gründen (BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 – juris).
Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG, welche gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entsprechend gelten, muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
In Bezug auf die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erfordert diese nicht nur eine spezifische Symptomatik, sondern auch ein traumatisches Lebensereignis als Auslöser für die Symptomatik (stRspr, vgl. z.B. BayVGH, B.v.13.12.2018 – 13a ZB 13.33056 – juris Rn. 9 ff.; B.v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris Rn. 8). Die Glaubwürdigkeit des Betroffenen bei Schilderung der Umstände eines eventuell traumatisierenden Ereignisses ist hierbei von entscheidender Bedeutung. Eine posttraumatische Belastungsstörung entsteht als “verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde” (vgl. ICD-10: F.43.1, Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme). Die Störung ist also stets die direkte Folge der akuten schweren Belastung; ihr Beginn folgt dem Trauma (vgl. ICD-10: F.43 Info und 11.43.1). Auch geklärt ist insoweit, dass der Nachweis des Ereignisses, “das bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde”, nicht Gegenstand der gutachtlichen (fachärztlichen) Untersuchung einer posttraumatischen Belastungsstörung ist (vgl. BayVGH, B.v. 17.10.2012 – 9 ZB 10-30390 – juris Rn. 8 m.w.N). Mit psychiatrisch-psychotherapeutischen Mitteln kann ohnehin nicht sicher geschlossen werden, ob tatsächlich in der Vorgeschichte ein Ereignis vorlag und wie dieses geartet war (vgl. Ebert/Kindt, Die posttraumatische Belastungsstörung im Rahmen von Asylverfahren, VBlBW 2004, S. 41 ff.). Nach medizinisch-fachlichen Stellungnahmen wäre es überdies fatal, “einem Patienten mit einer PTBS nicht zu glauben bzw. Zweifel dahingehend entgegen zu bringen, dass seine geschilderten Erlebnisse sich so nicht zugetragen haben”; daher stelle “die Überprüfung der vorgebrachten Inhalte eine juristische Fragestellung” dar, im Zusammenhang mit fachärztlicher Beratung würden das Leiden und die Bedürftigkeit des Patienten grundsätzlich nicht in Frage gestellt (vgl. zum Ganzen: BayVGH, B.v. 8.10.2019 – 7 B 19.31952, juris Rn. 17; v. 23.5.2017 – 9 ZB 13.30236 – juris Rn. 8 f.; v. 15.2.2017 – 9 ZB 14.30433 – juris Rn. 12).
Dementsprechend ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs auch geklärt, dass es ausschließlich Sache des Tatrichters ist, sich selbst die nach § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO notwendige Überzeugungsgewissheit von der Wahrheit des Parteivortrags zu verschaffen (BVerwG, B.v. 22.2.2005 – 1 B 10.05 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 17.1.2018 – 10 ZB 17.30723 – juris Rn. 5). Die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des Asylbewerbers gehört – auch in schwierigen Fällen – zum Wesen der richterlichen Rechtsfindung, vor allem der freien Beweiswürdigung (BVerwG, B.v. 18.7.2001 – 1 B 118.01 – juris Rn. 3). Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung umfasst dabei sowohl die Würdigung des Vorbringens der Partei im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren einschließlich der Beweisdurchführung als auch die Wertung und Bewertung vorliegender ärztlicher Atteste sowie die Überprüfung der darin getroffenen Feststellungen und Schlussfolgerungen auf ihre Schlüssigkeit und Nachvollziehbarkeit. Der Sachverständige begutachtet demgegenüber lediglich als “Gehilfe” des Richters einen grundsätzlich vom Gericht festzustellenden (Mindest-)Sachverhalt aufgrund seiner besonderen Sachkunde auf einem Fachgebiet (vgl. BVerwG, U.v. 6.2.1985 – 8 C 15.84 – juris Rn. 16). Die Feststellung der Wahrheit von Angaben des Asylbewerbers oder der Glaubhaftigkeit einzelner Tatsachenbehauptungen unterliegt als solche nicht dem Sachverständigenbeweis (BVerwG, B.v. 22.2.2005 – 1 B 10.05 – juris; zum Ganzen: BayVGH, B.v. 8.10.2019 – 7 B 19.31952, juris Rn. 18; v. 17.1.2018 – 10 ZB 17.30723 – juris Rn. 5).
Das Gericht geht davon aus, dass die Klägerin zu 1 eine Vergewaltigung erlebt hat. Diese Annahme gründet sich auf ihre konsistenten Schilderungen, der ärztlichen Befundberichte und nicht zuletzt ihrer emotionalen Situation bei Schilderung der Vergewaltigung in der mündlichen Verhandlung. Dabei handelt es sich grundsätzlich um ein Ereignis, das geeignet ist, eine posttraumatische Belastungsstörung auszulösen. Selbst wenn dies bei der Klägerin zu 1 zu einer posttraumatischen Belastungsstörung und dies nebst weiteren Umständen, wie etwa erlebte Gewalt in der Ehe und Zurücklassen des anderen Kindes, zu weiteren psychischer Erkrankungen geführt haben sollte, führt dies gleichwohl nicht, auch unter Berücksichtigung der zahlreichen ärztlichen Unterlagen, zu einem Abschiebungsverbot. Zusammen mit der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/7538, S. 18) ist davon auszugehen, dass im Regelfall eine PTBS einer Abschiebung nicht entgegensteht. Hier sind keine Anhaltspunkte für eine andere Beurteilung ersichtlich.
Psychische Erkrankungen einschließlich einer PTBS, können zu einem Abschiebungsverbot führen, selbst wenn diese Krankheiten im Heimatland prinzipiell behandelbar sind. Dies ist dann der Fall, wenn die Abschiebung aus in der Erkrankung selbst liegenden Gründen für den Betroffenen unzumutbar ist. Dies ist etwa bei Gefahr einer zu irreparablen Gesundheitsschäden führenden (Re-) Traumatisierung anerkannt (vgl. etwa BayVGH, U.v. 9.9.2013 – 9 B 10.30261 – juris; Niedersächs. OVG, B.v. 26.6.2007 – 11 LB 398/05 – juris). Unter dem Begriff der Retraumatisierung wird die durch äußere Ursachen oder Bedingungen (Trigger), die dem zu Grunde liegenden traumatischen Erlebnis gleichen, ähneln, oder Anklänge daran haben, ausgelöste Reaktualisierung der inneren Bilder des traumatischen Erlebens in der Vorstellung und den körperlichen Reaktionen des Betroffenen verstanden, die mit der vollen oder gesteigerten Entfaltung des Symptombildes der ursprünglichen traumatischen Reaktion auf der körperlichen, psychischen und sozialen Ebene einhergeht (VG Sigmaringen, U.v. 10.3.2017 – A 3 K 3493/15 – juris Rn. 51 m.w.N.).
Es ist nicht glaubhaft gemacht, dass eine etwaige Rückkehr in die Türkei zu einer Retraumatisierung und Verschlimmerung der Krankheit führt.
aa) Ausweislich der aktuellsten Bescheinigung vom 22. März 2021 (wortgleich mit der vom 3. Dezember 2020) liegt bei der Klägerin zu 1 eine mittelschwere depressive Störung vor, zudem bestehen nach einer diesbezüglichen Befundbesserung im Laufe der letzten Jahre noch Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung. Psychopathologisch stünden eine gedrückte Stimmung, Scham- und Schuldgefühle, Konzentrationsstörungen und eine deutliche Selbstunsicherheit im Vordergrund. Eine deutliche Befundbesserung während der letzten drei Jahre sei zu verzeichnen, die Klägerin könne mithilfe der Medikamente und der psychiatrisch-psychotherapeutischen Unterstützung ihren Alltag weitgehend bewältigen und übernehme viel Verantwortung bei der Betreuung der Mutter und der Tochter. Dennoch bestehe weiterhin eine schwere, fachärztlich behandlungsbedürftige psychische Erkrankung. Aktuell werde die sedierende Medikation mit Lorazepam reduziert. Im Falle einer Abschiebung wäre eine massive Zustandsverschlechterung zu erwarten. Es würde höchstwahrscheinlich zu einer Reaktivierung der Traumatisierung kommen, eine Zunahme der Symptome bis hin zu suizidalem Verhalten.
Diese Bescheinigung genügt schon nicht den förmlichen Anforderungen nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenhG, weil weder die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist noch die Methode der Tatsachenerhebung genannt sind. Ferner ist nicht nachvollziehbar, wie die Ärztin zu dem Schluss kommt, dass es im Falle einer Abschiebung höchstwahrscheinlich zu einer Reaktivierung der Traumatisierung komme, weil schon nicht klar ist, welche traumatisierenden Erfahrungen zugrunde gelegt werden.
bb) Ausweislich der in den ausführlichen fachärztlichen Berichten vom 18. Dezember 2018 und vom 1. Dezember 2020 angestellten “Prognosen” verhalten sich die attestierenden Ärzte ebenfalls äußerst kritisch bis ablehnend gegenüber der Abschiebung und vertiefen dies argumentativ. Diese Bedenken greifen nach Auffassung des Gerichtes aus tatsächlichen Gründen jedoch nicht durch. Dies ergibt sich aus folgenden Überlegungen:
Beiden Bescheinigungen zufolge ist es für den Gesundheitszustand der Klägerin zu 1 erforderlich, aber nach Verständnis des Gerichts auch hinreichend, dass sie erstens fachärztlich weiter behandelt wird und zweitens sich in einem sicheren Umfeld aufhält, um psychische Stabilität zu erreichen bzw. zu erhalten. Beiden Erfordernissen wird im Falle der Rückkehr Rechnung getragen:
(1) Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin zu 1 in der Türkei hinreichende ärztliche, auch psychiatrische Behandlung in der Türkei erlangen kann und auch die medikamentöse Versorgung gesichert ist. Hierfür spricht zum einen, dass die Klägerin zu 1 bereits in der Türkei in kurzzeitiger psychiatrischer Behandlung gewesen ist (vgl. Arztbericht des kbo Isar-Amper-Klinikums … vom 26.9.2017, S. 2). Auch nach der Rechtsprechung des EGMR sind PTBS-Behandlungen in den allermeisten Ländern der Welt möglich und zumutbar (vgl. Dollinger in Bergmann/Dienelt, 13. Aufl. 2020, AufenthG § 60 Rn. 103 m.w.N.). Insbesondere kann die medizinische Versorgung psychischer Erkrankungen der Klägerin zu 1 in der Türkei als gesichert angesehen werden (vgl. Lagebericht, S. 26, sowie Lagebericht des Auswärtigen Amts vom 14. Juni 2019, Anlage I. Auch in der Rechtsprechung ist anerkannt, dass das türkische Gesundheitssystem in der Lage ist, psychisch kranken Menschen eine hinreichende medizinische Versorgung zukommen zu lassen, die der Annahme entgegensteht, dem Betroffenen sei eine Rückkehr in die Türkei unmöglich oder unzumutbar (vgl. VG Augsburg, U.v. 14.7.2020 – Au 6 K 18.30608 – juris Rn. 75; VG Berlin, U.v. 13.1.2020 – 34 K 304.18 V – juris; U.v.15.2.2017 – VG 19 K 85.16 V – juris). In der Türkei sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet (vgl. Lagebericht, S. 25). Mit der Gesundheitsreform 2003 wurde eine universelle Gesundheitsversicherung eingeführt. Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt. Der grundsätzlichen Krankenversicherungspflicht unterliegen alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei (vgl. Lagebericht, S. 26). Die staatliche türkische Sozialversicherung gewährt den Versicherten eine medizinische Grundversorgung, die eine kostenlose Behandlung in den staatlichen Krankenhäusern miteinschließt. Die Gesundheitsreform gilt als Erfolg, denn 90% der Bevölkerung sind mittlerweile versichert. Der Staat übernimmt die Beitragszahlungen bei Nachweis eines sehr geringen Einkommens. Überdies sind u.a. Personen unter 18 Jahren, Personen, die medizinisch eine andere Person als Hilfestellung benötigen, von jeder Vorbedingung für die Inanspruchnahme von Gesundheitsdiensten befreit. Gesundheitsleistungen werden sowohl von privaten als auch von staatlichen Institutionen angeboten. Seit 2017 wird das Gesundheitsversorgungswesen der Türkei neu organisiert, indem sogenannte Stadtkrankenhäuser überwiegend in größeren Metropolen des Landes errichtet werden. Es handelt sich dabei zum Teil um riesige Komplexe, die über eine Belegkapazität von tausenden von Betten verfügen sollen und zum Teil auch schon verfügen. Im Rahmen der Reorganisation sollen insgesamt 31 Stadtkrankenhäuser mit mindestens 43.500 Betten entstehen. Der private Krankenhaussektor spielt schon jetzt eine wichtige Rolle. Landesweit gibt es 562 private Krankenhäuser mit einer Kapazität von 52.000 Betten. Die medizinische Primärversorgung ist flächendeckend ausreichend. Die sekundäre und postoperationelle Versorgung dagegen oft mangelhaft, nicht zuletzt aufgrund der mangelhaften sanitären Zustände und Hygienestandards in den staatlichen Spitälern, vor allem in ländlichen Gebieten und kleinen Provinzstädten. Trotzdem hat sich das staatliche Gesundheitssystem in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert – vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite – vor allem in ländlichen Provinzen – bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet, insbesondere auch bei chronischen Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz, Diabetes, AIDS, psychiatrischen Erkrankungen und Drogenabhängigkeit. Die Behandlung psychischer Erkrankungen erfolgt überwiegend in öffentlichen Institutionen. Bei der Behandlung sind zunehmende Kapazitäten und ein steigender Standard festzustellen. Innerhalb der staatlichen Krankenhäuser gibt es 28 therapeutische Zentren für Alkohol- und Drogenabhängige für Erwachsene (AMATEM) mit insgesamt 732 Betten in 33 Provinzen. Bei der Schmerztherapie und Palliativmedizin bestehen Defizite. Allerdings versorgt das Gesundheitsministerium alle öffentlichen Krankenhäuser mit Morphium. Zudem können Hausärzte bzw. deren Krankenpfleger diese Schmerzmittel verschreiben und Patienten in Apotheken auf Rezept derartige Schmerzmittel erwerben. Es gibt zwei staatliche Onkologiekrankenhäuser (Ankara, Bursa) unter der Verwaltung des türkischen Gesundheitsministeriums. Nach jüngsten offiziellen Angaben gibt es darüber hinaus 33 Onkologiestationen in staatlichen Krankenhäusern mit unterschiedlichen Behandlungsverfahren (vgl. zum Vorstehenden: BfA, S. 112 f.).
Um vom türkischen Gesundheits- und Sozialsystem profitieren zu können, müssen sich in der Türkei lebende Personen bei der türkischen Sozialversicherungsbehörde (Sosyal Güvenlik Kurumu – SGK) anmelden. Rückkehrer aus dem Ausland werden bei der SGK-Registrierung nicht gesondert behandelt. Sobald Begünstigte bei der SGK registriert sind, gelten Kinder und Ehepartner automatisch als versichert und profitieren von einer kostenlosen Gesundheitsversorgung. Rückkehrer können sich bei der ihrem Wohnort nächstgelegenen SGK-Behörde registrieren (vgl. BfA, S. 113).
Die ärztliche Versorgung der Klägerin zu 1 ist bei Rückkehr daher hinreichend gesichert.
(2) Auch die in den ärztlichen Bescheinigungen für erforderlich gehaltene Stabilität der Klägerin zu 1 wird bei Rückkehr gewahrt. Nach fachärztlicher Aussage ist für die Klägerin zu 1 das aktuelle Familiensystem in Deutschland, bestehend aus der Mutter, dem Bruder und der eigenen Tochter von äußerster Wichtigkeit; ansonsten wäre sie vermutlich schon längst durch Suizid verstorben (vgl. Bericht vom 18. Dezember 2018, Seite 10). Diesem Umstand wird bei hypothetischer Rückkehr Rechnung getragen, weil davon auszugehen ist, dass die Klägerin zu 1 nicht alleine zurückkehren würde, sondern in dem ihr vertrauten familiären Kontext mit ihrer Tochter, ihrer Mutter und ihrem Bruder (vgl. bereits oben unter 1.d)), der ihr die angesprochene Stabilität verleiht.
(3) Der vertiefenden Argumentation im Bericht vom 1. Dezember 2020 dazu, dass eine Abschiebung zu einer Reaktivierung der Traumatisierung führen würde, kann nicht gefolgt werden.
Der ärztlichen Annahme, die Klägerin befürchte, von der Familie ihres Mannes oder dessen Familie umgebracht zu werden, kann aus den unter oben 1. dargelegten tatsächlichen Erwägungen nicht gefolgt werden.
Ferner ist das Gericht davon überzeugt, dass die Klägerin zu 1 in der Türkei keinen anderen Triggern, wie sie im Bericht vom 1. Dezember 2020 (dort Seite 9, letzter Absatz) dargelegt werden, ausgesetzt wäre als in Deutschland.
Der Trigger in Form einer männlichen Person ist gleichermaßen in Deutschland und der Türkei anzutreffen. Der ärztlichen Aussage, dass es der Klägerin zu 1 bis Anfang 2020 kaum möglich gewesen sei, mit einem Mann zu sprechen oder den Raum zu teilen, kann im Übrigen angesichts des aus den Akten ersichtlichen Verfahrensgangs nicht gefolgt werden. Vielmehr verhielt es sich so, dass die Anhörung beim Bundesamt am 22. Februar 2017 von einem männlichen Anhörenden und einem männlichen Dolmetscher durchgeführt wurde, und die Klägerin zu 1 ausweislich der Niederschrift erklärte, dass sie keine Einwände gegen eine Anhörung durch männliche Anwesende habe. Abgesehen davon, dass die Klägerin zu 1 der Niederschrift zufolge weinte, verlief die Anhörung augenscheinlich sachlich und geradlinig, obgleich es gerade um die einschlägige Thematik der Vergewaltigung ging. Auch im Arztbericht vom 26. September 2017, der von zwei behandelnden männlichen Ärzten unterzeichnet wurde, finden sich keine entsprechenden Befunde.
Der Hinweis in dem Gutachten auf den Trigger von Grünanlagen angesichts der Tatsache, dass die Vergewaltigungen im Freien, in einer ländlichen Umgebung erfolgt seien, kann eine Retraumatisierung oder Traumareaktivierung ebenso wenig überzeugend begründen. Angesichts der Tatsache, dass Grünanlagen nicht speziell nur in der Türkei anzutreffen sind, sondern gerade auch in Deutschland, ist eine derartige Aussage unplausibel.
Es ist nach alledem nicht glaubhaft gemacht, dass die psychischen Beeinträchtigungen der Klägerin zu 1 untrennbar mit der Türkei und der dort erlittenen Traumatisierung verbunden sind und sich durch die Abschiebung wesentlich bis hin zu einer lebensbedrohlichen Situation verschlechtern.
(4) Ferner fehlt es auch an Substantiierung insoweit, als die ärztlichen Atteste nicht erklären, warum sich die Klägerin zu 1 erst eineinhalb Jahre nach ihrer Einreise in ärztliche Behandlung begab. Wird das Vorliegen einer PTBS auf traumatisierenden Erlebnisse im Heimatland gestützt, und werden die Symptome erst längere Zeit nach der Ausreise aus dem Heimatland vorgetragen, so ist in der Regel auch eine Begründung dafür erforderlich, warum die Erkrankung nicht früher geltend gemacht worden ist (BVerwG, B.v. 26.6.2012 – 10 B 21/12 – juris Rn. 7 m.w.N.; BayVGH, B.v. 13.12.2018 – 13a ZB 18.33056 – juris Rn. 8).
(5) Nach alledem kommt es aus Sicht des Gerichts nicht mehr darauf an, ob die Gutachten den förmlichen Anforderungen genügen. Insoweit bestehen jedenfalls Zweifel im Hinblick auf die Art der Diagnostik, als die Eingangsuntersuchung (T1) erst am 29. November 2018 stattgefunden hat, auf die Verlaufsuntersuchung (T2) verzichtet worden ist und die Abschlussuntersuchung (T3) am 28. Oktober 2020 nur in reduzierter Form stattgefunden hat. Ferner wird angegeben, dass “abweichend von dem üblichen Vorgehen” bei der Klägerin zu 1) keine Traumaliste erhoben worden sei (S. 5 des Abschlussberichts vom 1. Dezember 2020).
Es bleibt somit bei der gesetzlichen Vermutung, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen.
4. Gegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung auf der Grundlage von § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthaltG bestehen keine Zweifel. Ebenso wenig zu beanstanden sind das Einreise- und Aufenthaltsverbot und dessen Befristung in Nummer 6 des angefochtenen Bescheids. Die Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 1, § 75 Nr. 12 AufenthG ist ermessensgerecht erfolgt.
III. Die Klagen der Klägerin zu 2 haben weder in Haupt- noch in den Hilfsanträgen Erfolg. Sie sind zulässig, jedoch unbegründet. Es gelten sinngemäß die unter II. betreffend die Klägerin zu 1 gemachten Ausführungen. Insbesondere ist das Gericht aus denselben dargelegten Erwägungen nicht davon überzeugt, dass der Klägerin zu 2 seitens des ehemaligen Ehemanns ihrer Mutter und dessen Familie Gefahr droht.
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2, 159 Satz 1 VwGO i.V.m. § 100 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2, Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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