Verwaltungsrecht

Asylantrag eines kurdischen Volkszugehörigen

Aktenzeichen  M 1 K 17.39851

Datum:
20.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 42190
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 4, § 25, § 77 Abs. 1 S. 1
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2
RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4

 

Leitsatz

1. In der Türkei droht einem kurdischen Volkszugehörigen wegen einer alevitischen Religionszugehörigkeit oder wegen Übertritts zum katholischen Christentum weder ein ernsthafter Schaden iSd § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 AsylG wegen der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe noch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung iSd § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG. (Rn. 19 – 24) (redaktioneller Leitsatz)
2. Kurdische Volkszugehörige unterliegen in der Türkei einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte. (26 – 28) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es ist nicht davon auszugehen, dass im Südosten der Türkei gegenwärtig ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt iSd § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG vorliegt. (Rn. 37 – 40) (redaktioneller Leitsatz)
4. Für einen leistungsfähigen, erwachsenen Mann ohne Unterhaltsverpflichtung, der wie der Kläger neun Jahre lang die Schule besucht hat, besteht in der Türkei kein solch hohes Gefährdungsniveau, dass ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG iVm Art. 3 EMRK begründen könnte. (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
1. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG.
Hiernach ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG gelten die §§ 3c bis 3e AsylG im Rahmen der Prüfung subsidiären Schutzes entsprechend.
Wie bei der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gilt auch im Rahmen des subsidiären Schutzes für die Beurteilung der Frage, ob ein ernsthafter Schaden droht, der einheitliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Auch im Rahmen des § 4 AsylG ist der der Prognose zugrunde zu legende Wahrscheinlichkeitsmaßstab unabhängig davon, ob der Betroffene bereits vor seiner Ausreise einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG erlitten hat; dies stellt aber einen ernsthaften Hinweis dar, dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Denn auch diesbezüglich gilt die Vermutung gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU (vgl. VGH BW, U.v. 17.1.2018 – A 11 S 241/17 – juris Rn. 161 ff.; auch BayVGH, B.v. 14.5.2018 – 11 ZB 18.30937 – juris). Nach Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU („Qualifikationsrichtlinie“) ist die Tatsache, dass ein Asylbewerber bereits vor der Ausreise verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung bedroht sind. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Ob die Vermutung durch „stichhaltige Gründe“ widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 23 – in Bezug auf den wortgleichen Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2004/83 EG).
a) Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG wegen der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe droht, liegen nicht vor. Das klägerische Vorbringen enthält keine Hinweise hierauf. Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft und trotz der Debatte hierüber bislang nicht wieder eingeführt worden (Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 3.8.2018 – Lagebericht, S. 26)
b) Der Kläger ist bei einer Rückkehr in die Türkei auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG bedroht.
aa) Der Kläger beruft sich für seinen Schutzanspruch auf Benachteiligungen wegen seiner Zugehörigkeit zur religiösen Minderheit der Aleviten in der Türkei, kann deshalb jedoch keinen subsidiären Schutz beanspruchen.
Nach den zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismitteln bilden die türkischen, zum Teil auch kurdischen Aleviten mit schätzungsweise 15- 20 Millionen Menschen nach den Sunniten die zweitgrößte Glaubensgemeinschaft in der Türkei. Sie werden nicht als separate Konfession bzw. Glaubensgemeinschaft anerkannt und können sich nur als Verein oder Stiftung organisieren. Seit einem Parlamentsbeschluss im Februar 2015 sind alevitische Gebetsstätten namens „Cem-Haus“ (Cem Evi) mit Glaubensstätten anderer Religionen beispielsweise mit Moscheen gleichzustellen. Trotz der faktisch verbesserten Situation erkennen nur wenige Stadtverwaltungen die alevitischen Gotteshäuser als religiöse Stätten an. Die bekannten Hauptforderungen der Aleviten nach Anerkennung und Gleichstellung der Cem-Häuser als religiöse Stätten und Baugenehmigungen für diese, nach Abschaffung der staatlichen (sunnitischen) Religionsbehörde („Diyanet“), nach Einführung einer Freiwilligkeit der Teilnahme am staatlichen Unterrichtsfach „Religions- und Gewissenskunde“ sowie nach Beendigung der Sunnitisierungspolitik wurden bislang noch nicht erfüllt. Die Möglichkeit der Abwahl des Religionsunterrichts wurde lediglich ausgeweitet (vgl. Lagebericht, S. 16 f.). Der Kläger trägt jedoch nichts Konkretes dafür vor und es gibt auch sonst keine Anhaltspunkte dafür, dass die Zugehörigkeit zur alevitischen Glaubensgemeinschaft in der Türkei Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG i.V.m Art. 3 EMRK nach sich zöge. Art. 3 EMRK erfasst nur Misshandlungen von einem Mindestmaß an Schwere. Ob ein solches Mindestmaß gegeben ist, hängt von den gesamten Umständen des Falles ab, insbesondere von der Dauer der Behandlung und ihren physischen und psychischen Wirkungen sowie von Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers (EGMR, E. v. 7.7.2011 – 20999/05 – juris).
Es braucht nicht geklärt werden, warum in dem vom Kläger beim Bundesamt vorgelegten Personalausweis (Nüfus) als Religion „Islam“ eingetragen ist. Ferner kann ungeklärt bleiben, ob die vom Kläger zur Begründung seines Schutzanspruchs behaupteten Schikanen während seiner Wehrdienstzeit 1993 (er habe als Alevit mehr Wachen absolvieren müssen als andere, habe unsinnige Befehle erhalten, im Dreck kriechen müssen und sei geschlagen worden) eine erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK darstellten. Auch wenn man dies unterstellt, wird dadurch kein Anspruch auf subsidiären Schutz begründet, denn es sprechen stichhaltige Gründe dafür, dass dem Kläger bei seiner Rückkehr in die Türkei eine solche Behandlung nicht erneut droht, weil er seinen Wehrdienst bereits seit rund 25 Jahren abgeschlossen hat, seiner Wehrpflicht damit genügt hat und nicht erneut in eine vergleichbare Lage geraten wird.
Zudem ist der Kläger nach seinem eigenen Vorbringen nicht mehr Alevit, sondern bereits nach dem Wehrdienst zum katholischen Christentum übergetreten. Aus dem Vorbringen des Klägers wird nicht abschließend klar, ob er sich dem Christentum endgültig zugewandt hat oder sich innerlich noch immer auch den Aleviten zugehörig fühlt. Allein die Herkunft aus einem Ort, der für seine alevitische Bevölkerung bekannt ist, stellt jedenfalls keinen stichhaltigen Grund für die Annahme dar, dass ihm in der Türkei über Benachteiligungen im Einzelfall hinaus ernsthafter Schaden droht.
bb) Der behauptete Übertritt des Klägers zum katholischen Christentum begründet ebenfalls keinen Anspruch auf subsidiären Schutz, weil es keine stichhaltigen Gründe für die Annahme gibt, dass ihm wegen einer Zugehörigkeit zum katholischen Christentum in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG).
Die äußerst dürftigen Angaben, die der Kläger hierzu gemacht hat und die Bezeichnung von Jesus und Maria als „Propheten“ wecken bereits Zweifel an seiner Konversion. Selbst wenn man diese unterstellt, hat er selbst nicht vorgetragen, wegen seines Übertritts zum Christentum vor seiner Ausreise oder bei einer Rückkehr in die Türkei konkreten Gefahren ausgesetzt zu sein. Auch sonst gibt es keine Anhaltspunkte hierfür.
Die türkische Verfassung sieht positive und negative Glaubens- und Gewissensfreiheit vor. Die individuelle Religionsfreiheit ist weitgehend gewährt; individuelle nichtstaatliche Repressionsmaßnahmen und staatliche Diskriminierungen (z.B. bei Anstellungen im öffentlichen Dienst) kommen vereinzelt vor. (vgl. Lagebericht, S. 16). Die religiöse Gemeinschaft der katholischen Christen ist heute nach türkischer Lesart nicht vom Lausanner Vertrag erfasst, hat (wie die Aleviten) keinen eigenen Rechtsstatus und ist in ihren Handlungsformen eingeschränkt. Fälle von Muslimen, die zum Christentum konvertiert sind, sind besonders aus den großen Städten der Türkei bekannt. Rechtliche Hindernisse bei Übertritt bestehen auch für Muslime nicht. Allerdings werden Konvertiten in der Folge oft auch von ihren eigenen Familien ausgegrenzt. Missionierungstätigkeit begegnet Misstrauen und Intoleranz (vgl. Lagebericht, S. 16). Der Kläger hat jedoch keine missionarischen Tätigkeiten oder Absichten erkennen lassen.
cc) Die kurdische Volkszugehörigkeit des Klägers rechtfertigt nicht die Zuerkennung eines subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG.
Auf dem Gebiet der Türkei gibt es etwa 13 bis 15 Millionen kurdische Volkszugehörige. Sie stellen vor Kaukasiern und Roma die größte Minderheit in der Bevölkerung der Türkei. Kurden unterliegen allein aufgrund ihrer Abstammung keinen staatlichen Repressionen, zumal die Ausweispapiere keine Aussagen zur ethnischen Zugehörigkeit enthalten (Lagebericht, S. 15). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza ist in Wort und Schrift keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Unterricht in kurdischer Sprache an öffentlichen Schulen war bis 2012 nicht erlaubt und wurde seither stufenweise bei entsprechender Nachfrage erlaubt; Dörfer im Südosten können ihre kurdischen Namen zurückerhalten. Türkisch bleibt jedoch als einzige Nationalsprache verfassungsrechtlich festgeschrieben, was die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist, erschwert (vgl. Lagebericht, S. 15). Seit der Verhängung des Notstands infolge des Putschversuchs im Juli 2016 hat sich die Lage verändert. So sind zwei Drittel der per Notstandsdekret geschlossenen Medien kurdische Zeitungen, Onlineportale, Radio- und Fernsehsender, darunter auch IMC TV und die Tageszeitung „Özgür Gündem“ unter dem Vorwurf, „Sprachrohr der PKK“ zu sein (vgl. Lagebericht, S. 15). Kurdische Volkszugehörige unterliegen in der Türkei einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber jedenfalls an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216 m.w.N.; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris; VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554/17.A – juris Rn. 51; VG Magdeburg U.v. 19.2.2019 – 11 A 8/18 – juris Rn. 56 ff.; VG Augsburg U.v. 25.7.2018 – Au 6 K 17.34920 – juris).
Ebenso wie es an den Voraussetzungen für eine Gruppenverfolgung fehlt, gibt es auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass kurdischen Volkszugehörigen in der Türkei generell mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden im Sinne von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG). Dies hängt vielmehr von den Umständen des Einzelfalls ab und ist hier nicht der Fall. Der Kläger hat angegeben, kurdischer Volkszugehöriger zu sein, darüber hinaus aber keine Angaben zu einem etwaigen Engagement für die kurdische Sache oder zu Übergriffen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit wegen gemacht. Er hat zwar angegeben, bei Radio- und Fernsehsendern gearbeitet zu haben, konkret bei den Sendern … … und …, aber weder behauptet, dass es sich um kurdische Medien handeln würde, die infolge des Putschversuchs 2016 geschlossen worden wären noch, dass er sich medial für die kurdische Sache eingesetzt hätte oder durch die Tätigkeit in das Blickfeld der Sicherheitsbehörden gelangt wäre. Allein die Volkszugehörigkeit reicht nicht für die Zuerkennung subsidiären Schutzes.
Es ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger wegen seiner kurdischen Volkszugehörigkeit bei der Einreise in die Türkei gefährdet wird. In der Türkei finden Einreisekontrollen für alle Personen statt. Bei diesen Personenkontrollen können türkische Staatsangehörige mit einem gültigen türkischen, sie zur Einreise berechtigenden Reisedokument die Grenzkontrolle grundsätzlich ungehindert passieren. Seit dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 werden alle türkischen Staatsangehörigen auch auf Inlandsflügen einer fahndungsmäßigen Überprüfung unterzogen. Es gibt jedoch keine dokumentierten Fälle, wonach die Einreisekontrollen für kurdische Personen strenger sind (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche zur Türkei v. 7.7.2017). In Fällen von Rückführungen gestatten die Behörden die Einreise nur mit türkischem Reisepass oder Passersatzpapier (Lagebericht, S. 32). Der türkische Pass des Klägers ist zwar inzwischen abgelaufen, es ist aber nicht ersichtlich, warum er nicht verlängert werden oder ihm kein Passersatzpapier ausgestellt werden sollte.
Unabhängig von alldem steht kurdischen Volkszugehörigen in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG offen (SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557/13.A – juris; BayVGH, B.v. 22.9.2015 – 9 ZB 14.30399 – juris; VG Magdeburg, U.v. 19.2.2019 – 11 A 8/18 – juris Rn. 58; VG Augsburg, U.v. 25.7.2018 – Au 6 K 17.34920 – juris Rn. 37). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern.
dd) Auch die vom Kläger vorgetragenen Vorkommnisse im Zusammenhang mit den Gezi-Park-Protesten ergeben keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass ihm bei Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden in Gestalt von Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung droht (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG).
Der Kläger gab in der mündlichen Verhandlung an, er sei am 31. Mai 2013 bei den Gezi-Protesten dabei gewesen. Er habe Polizisten auf ihr illegales Verhalten angesprochen und sei daraufhin von ihnen umzingelt, geschlagen und beleidigt worden. Er sei dann in ein Polizeiauto gebracht und weiter geschlagen worden. Man habe ihn auf die Wache gebracht und seine Personalien festgestellt. Dort sei es weitergegangen. Er habe sich ausziehen müssen. Dabei hätten sie sein Kreuz gesehen und zu ihm gesagt: „Jetzt wissen wir, wessen Hund Du bist“. Er sei dann extra behandelt und zu einem Arzt in ein Krankenhaus gebracht worden, der ihm kein Attest habe ausstellen dürfen. Dieser habe festgestellt, dass kein Hirntrauma vorliege. Er habe aber äußere Verletzungen durch Tritte davongetragen und Spuren am Hals, wo er gedrückt worden sei. Bevor er habe gehen dürfen, sei er noch geschlagen worden. In der Zeit von Mai 2013 bis zur Ausreise sei er immer wieder Personenkontrollen unterzogen worden. Es habe auch Hausdurchsuchungen gegeben. In sechs Monaten seien sie etwa neun bis zehn Mal da gewesen, jeweils zwei bis drei Polizisten in Uniform. Sie hätten seine Dokumente angesehen und seinen Computer mitgenommen, auch die Schränke seien durchgesehen worden.
Übergriffe durch Sicherheitskräfte auf Demonstranten bei den Gezi-Park-Protesten, wie der Kläger sie beschrieben hat, wurden auch in den internationalen Medien berichtet. Es kann unterstellt werden, dass der Kläger an diesen Protesten teilgenommen hat, in der von ihm beschriebenen Weise behandelt wurde und dass seine Personalien bei der Polizei registriert wurden. Auch kann unterstellt werden, dass in seiner Behandlung eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG lag. Es gibt jedoch stichhaltige Gründe für die Annahme, dass der Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei nach vier- bis fünfjähriger Abwesenheit eine Behandlung wie die spontan im Rahmen der Ereignisse am Gezi-Park erfolgte nicht befürchten muss, denn es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger wegen exponiertem politischen, religiösen oder ethnischen Engagements dauerhaft im Blickwinkel der türkischen Behörden geblieben wäre.
Es gab landesweit wohl hunderttausende Teilnehmer an der Protestwelle, die sich u.a. mit Korruptionsvorwürfen gegen den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayip Erdogan und seine Partei, die AKP, richtete. Tausende wurden verhaftet, verletzt und sogar einige Menschen getötet. Bei dieser Größenordnung und angesichts des Umstands, dass die Gezi-Park-Proteste durch den Putschversuch 2016 in der Türkei in ihrer Bedeutung eher in den Hintergrund gedrängt wurden, kann nicht davon ausgegangen werden, dass jeder von der Polizei registrierte Demonstrations-Teilnehmer, ohne dass er sich besonders exponiert hätte, auch noch mehr als fünf Jahre später im Fokus der Sicherheitsbehörden bleibt.
Der Kläger hat nichts dafür vorgetragen, dass er den türkischen Sicherheitskräften als Regimegegner entgegen getreten oder aufgefallen wäre. Vielmehr erweckt sein Vorbringen den Eindruck, dass er schlicht einer der Demonstranten war, die die Polizisten vor Ort durch ihr Verhalten herausgefordert haben. Dass in der Folgezeit mehrfach bei ihm Hausdurchsuchungen stattgefunden hätten und er von der Polizei kontrolliert worden sei, ist nicht glaubhaft, weil der Kläger dies erst in der mündlichen Verhandlung seinem Vorbringen hinzugefügt hat und eine nachvollziehbare Begründung dafür schuldig geblieben ist, warum sich derartige aufwändige Aktivitäten der Polizei gegen ihn als Demonstrationsteilnehmer unter Tausenden gerichtet haben sollen. Dass er wegen politischen, religiösen oder ethnischen Engagements das Interesse der Polizei geweckt hätte, hat der Kläger nicht einmal behauptet. Die bloße Behauptung, die Polizisten hätten Dokumente durchgesehen und den Computer mitgenommen, reicht nicht aus.
Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist. Aufgrund eines Runderlasses des türkischen Innenministeriums vom 18. Dezember 2004 dürfen keine Suchvermerke mehr ins Personenstandsregister eingetragen werden, die bis dahin Wehrdienstflüchtlinge und zur Fahndung ausgeschriebene Personen kennzeichneten. Vorhandene Suchvermerke sind Angaben türkischer Behörden zufolge im Jahr 2005 gelöscht worden (Lagebericht, S. 31). Auch ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in die Türkei wegen der Registrierung seiner Personalien anlässlich seiner Teilnahme an den Gezi-Park-Protesten mit Problemen zu rechnen hat. Nach seinem eigenen Vorbringen wurde er zwar von der Polizei zunächst mitgenommen, nach der Identitätsfeststellung und der ärztlichen Behandlung aber wieder auf freien Fuß gesetzt, ohne dass sich ein Strafverfahren angeschlossen hätte. Vom Vorliegen eines Suchvermerks oder einer Fahndung nach dem Kläger ist deshalb nicht auszugehen.
ee) Das schließlich vom Kläger in der mündlichen Verhandlung als fluchtauslösend beschriebene Ereignis, dass an der Außenwand des Hauses, in dem er gewohnt habe, unter seinem Balkon, die Worte „Du Hund“ aufgesprüht gewesen seien, begründet weder eine Vorverfolgung noch die Annahme, dass er bei Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung bedroht wäre. Der Kläger gab an, er gehe davon aus, dass das drei junge Männer getan hätten, die er dort gesehen habe und die ihn höhnisch angelacht hätten. Tätig wurden somit nichtstaatliche Akteure i.S.d. § 4 Abs. 3 Satz 1, § 3 c Nr. 3 AsylG, deren Handeln nur dann relevant wäre, wenn staatliche Akteure erwiesenermaßen nicht in der Lage wären, dem Kläger Schutz vor derartigen Übergriffen zu gewähren. Für eine solche Annahme gibt es keinen Grund. Auch handelt es sich nur um eine Vermutung des Klägers, dass die beleidigende Schmiererei an der Hauswand ihm galt. Schließlich ist nicht jede Beleidigung durch private Dritte zugleich eine Erniedrigung i.S.d. § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, sondern es ist ein gewisser Schweregrad erforderlich, der hier nicht erreicht ist, zumal die Schmiererei nach dem Vorbringen des Klägers keinen ausdrücklichen Hinweis auf seine Person enthielt.
c) Schließlich gibt es auch keine stichhaltigen Gründe für die Annahme, dass dem Kläger bei seiner Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG droht.
Ein bewaffneter innerstaatlicher Konflikt liegt nach der neueren Rechtsprechung des EuGH vor, wenn die regulären Streitkräfte eines Staates auf eine oder mehrere bewaffnete Gruppen treffen, oder wenn zwei oder mehrere bewaffnete Gruppen aufeinander treffen (EuGH, U.v. 30.1.2014 – Rs. C-285/12). Die allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgeht, kann sich individuell so verdichten, dass sie eine ernsthafte individuelle Bedrohung darstellt. Voraussetzung hierfür ist eine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefährdungsgrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist. Bezüglich der Gefahrendichte ist auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Kläger typischerweise zurückkehren wird (vgl. zum Ganzen: BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9.08; U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08; U.v. 17.11.2011 – 10 C 13.10; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – jeweils juris). Der Kläger stammt aus der Region Erzincan/Tunceli, hat zuletzt in … gelebt, wo sich auch seine Familie befindet und hat zu den Krisenregionen in der Südosttürkei an der Grenze zu Syrien keinen unmittelbaren Bezug. Es ist daher nicht davon auszugehen, dass er dorthin gehen wird.
Zwar wird in den aktuellen Erkenntnismitteln ausgeführt, dass trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen das Risiko von Terroranschlägen im ganzen Land besteht. Die innenpolitischen Spannungen und bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage (vgl. Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 18.10.2018, S. 10). Der Konflikt zwischen türkischen Sicherheitskräften und der Arbeiterpartei Kurdistan ist seit Mitte 2015 eskaliert. Insbesondere zwischen Januar und Mai 2016 haben massive Sicherheitsoperationen in urbanen Gebieten im Südosten stattgefunden. Im Winter 2016/2017 haben sich die Kampfhandlungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften in die Berggebiete verlagert. 2016 war auch eine starke Zunahme gezielter Anschläge gegen zivile Personen durch den sogenannten „Islamischen Staat“ zu verzeichnen (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe vom 19.5.2017, Türkei: Aktuelle Situation, S. 3 f.). Dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes ist zu entnehmen, dass der im Juli 2015 entflammte Konflikt zwischen Sicherheitskräften und der PKK wieder militärisch aufflammte. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets habe aber seit Sommer 2016 nachgelassen (vgl. Lagebericht, S. 6 f.). Nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln geht die Türkei zwar auf ihrem Staatsgebiet gegen Terrorismus vor und erfasst dabei auch der Terrorunterstützung etc. verdächtige Personen, insbesondere soweit sie der PKK zugerechnet werden. Dies stellt jedoch nach Art, Intensität und Umfang keinen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt dar. Soweit die Türkei auf syrischem Territorium gegen kurdische Gruppen vorgeht, treffen die Kampfhandlungen die dort ansässige syrische Bevölkerung, nicht das türkische Staatsgebiet und die hier ansässige türkische bzw. kurdisch-stämmige Bevölkerung (vgl. VG Augsburg, U.v. 14.8.2018 – Au 6 K 17.35071 – juris). Ein so hoher Gefährdungsgrad, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist, liegt nicht vor. Es ist nicht davon auszugehen, dass im Südosten der Türkei gegenwärtig ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vorliegt.
Für die Annahme einer ernsthaften individuellen Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG genügt es zudem nicht, dass der innerstaatliche bewaffnete Konflikt zu permanenten Gefährdungen der Bevölkerung führt (BVerwG, U.v. 13.2.2014 – 10 C 6.13 – juris Rn. 24). Die von einem bewaffneten Konflikt ausgehende allgemeine Gefahr kann sich jedoch individuell verdichten. Eine ernsthafte individuelle Bedrohung für Leib oder Leben kann in erster Linie auf gefahrerhöhenden persönlichen Umständen beruhen. Dies sind solche Umstände, die den Ausländer von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen als andere (BayVGH, U.v. 17.3.2016 – 20 B 13.30233 – juris Rn. 21). Auch hierfür gibt es im Fall des Klägers keine Anhaltspunkte.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung des Bestehens von Abschiebungshindernissen i.S.d. § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
a) Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Insoweit sind die Verhältnisse im Abschiebungszielstaat landesweit in den Blick zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 26) und die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Zielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (vgl. EGMR, U.v. 20.7.2010 – 23505/09, N./Schweden – HUDOC Rn. 54; vom 28.6.2011 – 8319.07 und 11449.07, Sufi und Elmi/Großbritannien – HUDOC Rn. 216; v. 29.1.2013 – 60367.10, S.H.K/Großbritannien – HUDOC Rn. 72; v. 6.6.2013 – 2283.12, Mohammed/Österreich – HUDOC Rn. 95; v. 5.9.2013 – 61204.09, 1./Schweden – HUDOC Rn. 56).
Überzeugende individuelle konkrete Gründe für die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung im Falle einer Rückkehr des Klägers in die Türkei sind nicht ersichtlich.
Im Hinblick auf eine allgemein schlechte Sicherheitslage im Zielstaat der Abschiebung ist Art. 3 EMRK erst dann verletzt, wenn die durch Gewalt bestimmte Lage im Bestimmungsland so intensiv ist, dass sie die Gefahr begründet, jede Abschiebung in dieses Land werde zwangsläufig Art. 3 EMRK verletzen. Das ist nur in extremen Ausnahmefällen anzunehmen und in der Türkei nicht der Fall.
Allgemein schlechte humanitäre Bedingungen können nach der Rechtsprechung des EGMR in außergewöhnlichen Ausnahmefällen ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen, und zwar dann, wenn die humanitären Gründe „zwingend“ sind und überwiegend auf direkte und indirekte Aktionen der Konfliktparteien zurückgehen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 23 ff. mit Verweis u.a. auf EGMR, U.v. 21.1.2011 – Nr. 30696/09 – M.S.S./Belgien – NVwZ 2011, 413; v. 28.6.2011 – Nr. 8319/07 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, NVwZ 2012, 681). Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt allerdings ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 19; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 5).
Für einen leistungsfähigen, erwachsenen Mann ohne Unterhaltsverpflichtung, der wie der Kläger neun Jahre lang die Schule besucht hat, besteht in der Türkei kein solch hohes Gefährdungsniveau. Besondere, individuell erschwerende Umstände, die zu einem Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG führen würden, liegen beim Kläger nicht vor.
b) Gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib Leben oder Freiheit besteht. Auch dies ist nicht der Fall.
Anhaltspunkte für eine individuelle konkrete Gefahr, etwa einer wesentlichen Verschlimmerung einer Erkrankung (§ 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) alsbald nach Rückkehr des Ausländers in sein Heimatland aufgrund zielstaatsbezogener Umstände (vgl. BVerwG U.v. 17.10.2006 – 1 C 18.05 – BVerwGE 127, 33 – juris Rn. 15; BVerwG B.v. 17.8.2011 – 10 B 13.11 – juris Rn. 3), sind nicht ersichtlich.
Auch aus den allgemein schlechten Lebensbedingungen in der Türkei kann der Kläger nichts zu seinen Gunsten herleiten.
Für allgemeine Gefahren schließt grundsätzlich die Möglichkeit eines Abschiebestopp-Erlasses durch die oberste Landesbehörde (§ 60 Abs. 7 Satz 5 i.V.m. § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG) ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus. Nur ausnahmsweise kann ein Ausländer im Hinblick auf die Lebensbedingungen, die ihn im Abschiebezielstaat erwarten, insbesondere die dort herrschenden wirtschaftlichen Existenzbedingungen und die damit zusammenhängende Versorgungslage, Abschiebungsschutz in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beanspruchen, nämlich wenn er bei einer Rückkehr aufgrund dieser Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre, so dass es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebieten, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 5 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Dies setzt voraus, dass der Ausländer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Ausreise in seinem Heimatland in eine lebensgefährliche Situation gerät, aus der er sich weder allein noch mit erreichbarer Hilfe anderer befreien kann, der Ausländer somit gleichsam sehenden Auges alsbald dem sicheren Tod oder schwersten Verletzungen ausgeliefert würde (st. Rspr., vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – juris Rn. 15; BVerwG, U. v. 8.9.2012 – 10 C 14.10 – juris Rn. 22 f.; BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – juris Rn. 38).
Der Kläger würde im Fall seiner Abschiebung in die Türkei keiner besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären. Nach aktuellen Erkenntnismitteln werden für die Türkei Marktturbulenzen, starke Währungsabwertungen und erhöhte Unsicherheiten erwartet, die Investitionen und Konsumnachfrage belasten und eine deutliche negative Korrektur der Wachstumsaussichten rechtfertigen. Die Entwicklung des Realeinkommens hält mit der Wirtschaftsentwicklung nicht Schritt, so dass insbesondere die einkommensschwächeren Bevölkerungsschichten empfindlich am Rande des Existenzminimums leben (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich v. 18.10.2018, S. 85). Die Arbeitslosenquote liegt derzeit bei 11%. Jedoch gibt es für alle Arbeitnehmer, einschließlich derer, die in der Landwirtschaft, Forstwirtschaft und im Bereich Dienstleistung tätig sind, Arbeitslosenunterstützung, wenn sie zuvor ein geregeltes Einkommen im Rahmen einer Vollzeitbeschäftigung erhalten haben. Die Inflationsrate stieg 2017 wieder auf 10%. Viele Unternehmen sind verschuldet und stecken in Zahlungsnöten. Menschen kurdischer Ethnie werden in nicht-kurdisch dominierten Gebieten der Türkei beim Zugang zu Arbeit und Wohnraum häufig diskriminiert (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe v. 19.5.2017, Türkei: Aktuelle Situation, S. 18 f.). Die Grundversorgung und die medizinische Versorgung sind aber nach Überzeugung des Gerichts für Rückkehrer in der Türkei jedenfalls im Umfang des absoluten Existenzminimums gesichert.
In der Türkei gibt es zwar keine mit dem deutschen Recht vergleichbare staatliche Sozialhilfe. Sozialleistungen für Bedürftige werden aber über den Förderungsfonds für Soziale Hilfe und Solidarität gewährt und von den in 81 Provinzen und 850 Kreisstädten vertretenen 973 Einrichtungen der Stiftungen für Soziale Hilfe und Solidarität (Sosyal Yardımlaşma ve Dayanişma Vakfi) ausgeführt, die den Gouverneuren unterstellt sind. Anspruchsberechtigt sind bedürftige Staatsangehörige, die sich in Armut und Not befinden, nicht gesetzlich sozialversichert sind und von keiner Einrichtung der sozialen Sicherheit ein Einkommen oder eine Zuwendung beziehen, sowie Personen, die gemeinnützig tätig und produktiv werden können. Die Leistungsgewährung wird von Amts wegen geprüft. Eine neu eingeführte Datenbank vernetzt Stiftungen und staatliche Institutionen, um Leistungsmissbrauch entgegenzuwirken. Leistungen werden gewährt in Form von Unterstützung der Familie (Nahrungsmittel, Heizmaterial, Unterkunft), Bildungshilfen, Krankenhilfe, Behindertenhilfe sowie besonderen Hilfeleistungen wie Katastrophenhilfe oder Volksküchen. Die Leistungen werden in der Regel als zweckgebundene Geldleistungen für neun bis zwölf Monate gewährt. Darüber hinaus existieren weitere soziale Einrichtungen, die ihre eigenen Sozialhilfeprogramme haben (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 29).
Die medizinische Versorgung durch das staatliche Gesundheitssystem hat sich in den letzten Jahren strukturell und qualitativ erheblich verbessert, vor allem in ländlichen Gegenden sowie für die arme, (bislang) nicht krankenversicherte Bevölkerung. Auch wenn Versorgungsdefizite vor allem in ländlichen Provinzen bei der medizinischen Ausstattung und im Hinblick auf die Anzahl von Ärzten bzw. Pflegern bestehen, sind landesweit Behandlungsmöglichkeiten für alle Krankheiten gewährleistet. Landesweit gab es im Jahr 2016 1.510 Krankenhäuser mit einer Kapazität von 217.771 Betten, davon ca. 58% in staatlicher Hand. Die Behandlung bleibt für die bei der staatlichen Krankenversicherung Versicherten mit Ausnahme der „Praxisgebühr“ unentgeltlich. Grundsätzlich können sämtliche Erkrankungen in staatlichen Krankenhäusern angemessen behandelt werden, insbesondere auch chronische Erkrankungen wie Krebs, Niereninsuffizienz (Dialyse), Diabetes, Aids, Drogenabhängigkeit und psychiatrische Erkrankungen. Wartezeiten in den staatlichen Krankenhäusern liegen bei wichtigen Behandlungen/Operationen in der Regel nicht über 48 Stunden. In vielen staatlichen Krankenhäusern ist es jedoch (nach wie vor) üblich, dass Pflegeleistungen nicht durch Krankenhauspersonal, sondern durch Familienangehörige und Freunde übernommen werden. Durch die zahlreichen Entlassungen nach dem gescheiterten Putschversuch, von denen auch der Gesundheitssektor betroffen ist, kommt es nach Medienberichten gelegentlich zu Verzögerungen bei der Bereitstellung medizinischer Dienstleistungen (Lagebericht, S. 29 ff.).
Zum 1. Januar 2012 hat die Türkei eine allgemeine, obligatorische Krankenversicherung eingeführt für alle Personen mit Wohnsitz in der Türkei mit Ausnahmen u.a. für Soldaten/Wehrdienstleistende und Häftlinge. Die obligatorische Krankenversicherung erfasst u. a. Leistungen zur Gesundheitsprävention, stationäre und ambulante Behandlungen und Operationen, Laboruntersuchungen, zahnärztliche Heilbehandlungen sowie Medikamente, Heil- und Hilfsmittel. Unter bestimmten Voraussetzungen sind auch Behandlungen im Ausland möglich. Nicht der Sozialversicherungspflicht unterfallende türkische Staatsbürger mit einem Einkommen von weniger als einem Drittel des Mindestlohns können von der Beitragspflicht befreit werden. Bei einem Einkommen zwischen einem Drittel und dem doppelten Mindestlohn gelten ermäßigte Beitragssätze. Bis Mitte des Jahres 2014 haben sich rund 12 Millionen Türken einer solchen Einkommensüberprüfung unterzogen, für rund 8 Millionen von ihnen hat der Staat die Zahlung der Beiträge übernommen (Lagebericht, S. 31).
Der Kläger besitzt die im Hinblick auf eine mögliche Existenzsicherung erforderliche Leistungsfähigkeit eines arbeitsfähigen, alleinstehenden Mannes. Entgegenstehende Anhaltspunkte sind weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Es ist davon auszugehen, dass er im Falle einer zwangsweisen Rückführung in die Türkei in der Lage wären, durch Gelegenheitsjobs ein Einkommen zu erzielen, das ein Leben über dem Existenzminimum und die Möglichkeit sichert, sich allmählich wieder in die türkische Gesellschaft zu integrieren. Somit kann von einer erheblichen konkreten Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht ausgegangen werden.
3. Nach alldem ist auch die vom Bundesamt nach Maßgabe des § 34 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG erlassene Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung rechtmäßig.
4. Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO; das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.

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